Samstag, 24. Dezember 2016

Noch ein paar Worte an Camus

„Der Wurm sitzt im Herzen des Menschen“, schreibt Camus. Ich denke, er liegt in der Erwartung. Das Herz pumpt; wie sehr ich es auch belaste, ich lebe bis zum letzten Schlag. Der Wurm der Erwartung aber frisst sich Löcher durch meinen Geist und hindert mich daran, naiv und anonym ins Dasein zu beißen und seinen puren Geschmack zu genießen, weil mich die vielen Wurmlöcher der Fülle berauben.

Woher kommt sie aber bloß, die so konstant keimende Erwartung? Sind meine Eltern, meine Lehrer, meine Vorbilder und Vorgesetzten Schuld an meiner Unfähigkeit, ohne Erwartung an diese oder jene Aufgabe zu gehen? Sind es die omnipräsenten Medien, das schlaflose Internet, deren trügerische Reize eine Vorstellung schaffen, die mein Dasein zwanghaft einlösen muss? Sie alle sind es – jeder einzelne Lebenseindruck löst eine Erwartung an die kommenden Dinge aus. Alles, was ich heute sehe, ändert meinen Blick auf morgen; die Erfahrungen und Eindrücke überkommen meinen biegsamen Körper und zwingen mich in eine steife, krampfhafte Erwartungshaltung, die mich am vorbehaltlosen Genießen hindert. Lese ich einen soliden Abenteuerroman wie Goulds Buch der Fische mit der abstrusen Erwartung, ein neuer Ulysses zu sein (weil es der Klappentext suggeriert), so werde ich schon nach wenigen Seiten von dem Buch enttäuscht werden. Lege ich verbindliche Hintergedanken in ein neutrales Gespräch mit der anziehenden, jungen Kollegin (weil ich konditioniert wurde, mehr zu wollen), stehe ich meiner schönen neuen Vorstellung selbst im Weg. Gehe ich in den Silvesterabend mit der erwartunsgetränkten Einstellung, eine unvergesslich legendäre Nacht erleben zu müssen (weil es der Brauch vorgibt), wird aus Vorfreude Druck, aus Spiel Arbeit, aus Möglichkeit Überforderung.

Die Wurmlöcher der Erwartung sorgen überall für Leere und Enttäuschung; mehr noch, sie sind sogar deren Voraussetzung: Es kann nur enttäuscht werden, wo Täuschung vorherrscht. Und die Erwartung selbst ist die stärkste Täuschung, ihre verkrampfte Haltung eine durch und durch unnatürliche, ungesunde, die schmerzvolles Leiden verursacht. Ein Dasein ohne Erwartung ist der einzige Weg zur Linderung – weg von der krankhaft künstlichen Haltung, dem unaushaltbaren, mentalen Druck, dessen Motor ich an allen fremden Mündern und Medienkanälen festmachen kann, und der doch nur aus mir selbst kommt und von mir selbst betrieben wird. Ich bin das Perpetuum Mobile der Täuschung, eine niemals erfüllende Erwartung an mich selbst, ich bin der Wurm, der an mir nagt und mich am Genießen hindert, weil ich gelernt habe, Ziele erreichen zu müssen.

Tag für Tag wird mir umso klarer, wie weit meine Erwartungen von der Wirklichkeit entfernt sind. Die Erwartung an mich, einen Text zu verfassen, der dieses Gefühl in befriedigende Worte fasste, hindert mich seit Wochen, diesen Text überhaupt erst anzufangen. Es ist unmöglich, mein selbst auferlegtes Ziel jemals ganz zu erreichen – dieses Wissen muss ich mir tagtäglich vor Augen halten und alles andere fortziehen lassen. Um den Wurm in der Erwartung zu vermeiden, darf ich die Erwartung gar nicht erst festhalten. Hat der, der den Stein auf den Berg rollt, je Erwartungen an seine Aufgabe gestellt? Er weiß, er wird sein Ziel niemals erreichen – wie könnte er Gefahr laufen, sich wurmstichige Erwartungen zu machen?

Den groben Unsinn in allem Streben zu erkennen, naiv und unbeschwert an jede Aufgabe zu gehen, ohne jemals zu vergleichen, zu werten, zu erzwingen oder nachzuahmen – das ist, wonach mein Geist sich sehnt. Den Wurm entdecken, bevor er sich ins Leben beißt, ihn zu neutralisieren, ehe er meinen Kopf anfault und die Fäulnis mich am Genießen hindert. Denn ohne Genuss ist jeder Tag nur eine Angelegenheit, die nicht aufgeschoben oder beschleunigt werden kann. Nicht mehr, nicht weniger.

Der Tod der Erwartung ist die Geburt des Erlebens. Ihre Stätte wird der Moment sein, der sich selbst genügt, der unbezwingbare Berg, der keine Enttäuschung kennt, weil das Ziel unsinnig ist. Dort – und nur dort – wird das Glück ins Rollen kommen; wo die Erwartung aufhört, fängt das Leben an.

Freitag, 23. Dezember 2016

Unpassende Worte

Die letzten Absagen an meine Textangebote waren ungewohnt freundlich, aufbauend beinah. Aus obligater Formalität sprach durchaus Interesse und Faszination, allein das Bedauern überragte, mein Schreiben passe leider nicht hinein. Es ist, wie ich mich fühle, wenn ich einen Schritt vor die Tür setze – ich passe nicht in das anonyme Treiben auf der Straße, nicht neben die variierenden Kollegen im Dienst. Nirgendwohin. Ich habe ihn noch nicht gefunden, den Ort, an dem ich das Gefühl hätte, in stolzer Haltung und mitsamt meinen präzisen Denkmaßen vollständig hineinzupassen. Wo auch immer ich bin, sehe ich Menschen, die ihrem alltäglichen Handeln seltsam entsprechen, die wirken, als hätten sie schon von Geburt an gewusst, sich einmal im knielangen Faltenmantel vor den Universitätstoren auf die Stufen zu setzen, eine unansehnliche Zigarette zu drehen und dabei die Beine übereinander zu schlagen, um ihre bunten Ringelsocken zu betonen. Als hätten sie schon von Geburt an gewusst, sich nur schwarz zu kleiden, Gitarre zu spielen und sich die Haare bis zum Brustbein wachsen zu lassen, um sie vor dem nächsten Auftritt zum Pferdeschwanz zu knoten. Als hätten sie immer schon gewusst, im weißen Kittel hinter einer Verkaufstheke zu stehen und die gewünschten Tabletten aus einer Lade zu nehmen und lächelnd einen schönen Tag zu wünschen, während die Augen bereits an den Dienstschluss denken. Es ist seltsam, wie, von außen betrachtet, alles in der Welt so unabänderlich ineinander zu greifen scheint und jeder Mensch in seine Aufgabe passt, als gäbe es nur Idealbesetzungen im Schauspiel der Welt. Alle passen in ihre Rolle, bis auf den Fremdkörper, der ihnen bei ihrer stillen Entsprechung zusieht; einen Seitwärtsschritt daneben, gezwungenermaßen, mein Bewusstsein passe leider nicht in ihre Mitte. 

Ich blicke noch einmal auf die letzte Absage und das freundliche Bedauern. Meine Worte sind natürlich unpassend – sie sind von mir verfasst.

Sonntag, 11. Dezember 2016

Gefühl in Lila

Ich sitze im Erinnerungsspeicher meines Kinderzimmers, tief gebeugt über den buchenen Schreibtisch, und versuche das Gerippe eines Textes mit ein wenig Leben zu umfüllen. Der lilafarbene Stift überarbeitet den Mittelteil meiner Geschichte, ein rückblickendes Beziehungsgeflecht zweier junger Menschen; eine Stelle scheint mir noch sehr unvollständig, löchrig, doch schon fliegt mir der entscheidende, der wichtige, der eine Satz zu; der Satz, der ihre gemeinsame Vergangenheit ohne Wertung, ohne Belehrung auf den endlichen, allumfassenden Punkt bringt.

In dem Moment wird die Zimmertür aufgestoßen, schon an der Schwelle höre ich die Stimme meiner Mutter, das Mittagessen sei längst fertig und alle warten schon auf mich, der Kleiderschrank wird aufgerissen, die gebügelte Wäsche hineinsortiert, schnell und geschäftig, alles noch während sie spricht, und dann erst dreht sie den Kopf zum Schreibtisch und sieht mich an, erkennt plötzlich, was ich tue und verzeiht die Störung; es ist zu spät. Der entscheidende Satz ist mir längst wieder entschwunden.

Als ich aus dem Traum erwache, bleibt nur das Gefühl, etwas Wichtiges verloren zu haben, das nie wiederkehren wird, ein lilafarbenes Gefühl der Unruhe und Widersprüchlichkeit, sowie die stille Vorgabe, darüber zu schreiben.

Donnerstag, 8. Dezember 2016

Der Hochzeitssänger

Ich begegnete ihm bereits öfter, das letzte Mal bei einer russischen Hochzeit im Palais des Fürsten. Man erkennt ihn sofort an seinen Augen, die all das vorwegnehmen, was nie aus ihm geworden ist. Er präsentiert sich gut gekleidet, aber nicht sehr, er trägt glänzende Schuhe, aber keine hochwertigen. Er lächelt viel und breit, doch er hat wenig zu lachen. Er ist selten sehr alt, aber niemals noch jung.

Ich stelle mir vor, er hatte einmal einen Traum; keinen ideologischen, weltumspannenden, bedeutsamen Traum, aber immerhin einen persönlichen, festen, an den er wahrhaftig und hoffnungsvoll glaubte, noch ehe er Wörter wie „Sozialversicherung“ oder „Zynismus“ kannte. Er wollte Sänger und Musiker werden, wie andere Fußballer oder Autor werden möchten. Er hatte Talent, nur eben geringes, er zeigte Disziplin, nur eben zu selten. Und doch gab er den klaren Vorzeichen niemals nach, ließ sich von der übermächtigen Konkurrenz nicht beirren und hielt den eiskalten Traum so lange in der Hand, bis er hinweg schmolz und ihm zwischen den Fingern zerrann und einen inneren, winzig-abstrakten Restbestand freigab, das traurige Fossil des Traumes, von dem selbst Experten nur mutmaßen können, was er einmal darstellte.

Er hätte den Traum rechtzeitig loslassen können und sich an etwas anderes, wärmeres klammern, er hätte ganz neu anfangen können, hätte etwas lernen können, das allgemein akzeptiert und annehmlich bezahlt wird, er hätte leise aufsteigen und langweilig leben können, auf Schiene fahren, statt am Bahnhof zu schlafen; er tat es nicht. Er lebt den astronomisch kleinen, radikal abgeschwächten, letzten Rest an Traum, der sich ihm anbietet, er hält sich fest an dem unansehnlichen Wurmfortsatz des einstigen Wunschorgans, er steht auf der heute errichteten und morgen schon abgebauten Bühne, die wie sein Traum auf lächerliche Größe zusammengeschrumpft ist.

Er geht beständig gerade aus, aber er geht rückwärts; er ist das fleischgewordene Symbol des Scheiterns, der heimliche Schutzpatron all jener, die es nicht geschafft haben, aber sich dank ihm ein kleines bisschen besser und sicherer und weniger allein fühlen dürfen. Er gibt Hoffnung, ohne es jemals zu erfahren. Er wird geliebt, aber nur für ein paar Stunden, und manchmal, für eine Zugabe. Er ist die Lebensgeschichte, die nie erzählt wird, das Monument, das nie errichtet wurde, der Minnesänger, der sich im Jahrhundert vertan hat. Er ist viele und er existiert – und auch in mir steckt bereits eine Ahnung seiner glänzenden Gestalt.

Ich fühle mit ihm, in jedem seiner lächelnd vorgetragenen, fremden Evergreens.

Sonntag, 4. Dezember 2016

Über Ästhetik

Ein Märchen: Es lebte ein Künstler, der wollte nicht sterben. Er wollte ein Kunstwerk schaffen, das ihn unsterblich machte, das die Zeit überdauerte, weil es alle Völker entzücken und alle Generationen ansprechen würde. Er dachte: Was mögen alle Menschen? Liebe. Er dachte: Was mögen die Menschen noch? Gold. Er kombinierte das eine mit dem anderen und schuf damit das schönste Bild der Welt.

An einem Sonntag stehe ich neben dem Bild und darf es über die nächsten acht Stunden bewachen. Ich bin das erste Mal auf der goldenen Position im ersten Stock und spüre schon von fern das stampfende Dröhnen der Touristenherde. Alle kommen sie ins Museum, um dieses eine Bild zu sehen, die Schönste der Schönen, das Bild der Bilder, das selbst nicht so recht zu wissen scheint, warum es so berühmt ist. Fast schon peinlich berührt hängt es da, allein auf einer breiten, schwarzen Wandseite, bedeckt von einer schamvollen Glasschicht, die doch nichts verhüllen kann und jeden Auktionsdollar unfreiwillig preisgibt.

Ich stehe zwischen Bild und Tür, halte die Herde auf Abstand und tue das, was der Arbeitsauftrag verlangt: Verbote aussprechen. Ich bin ein negatives Hinweisschild mit Sprachfunktion, eine interaktive, notwendige Hausordnung, weil ich dem modebewussten Museumsraum in meinem schwarzen Dienstanzug besser stehe als eine hässlich rote Wandtafel. Zumindest ist das die Meinung der Direktorin, was wiederum zu vielen, unnötig hektischen Momenten führt – in allen Ausstellungsräumen herrscht striktes Fotografieverbot, doch nirgendwo wird darauf hingewiesen.

Die Lösung mit den Dienstanzügen ist deshalb bloß eine halb durchdachte, unsere Anzahl eine zu geringe, um die Schnappschussprohibition in allerletzter Konsequenz zu verfolgen. Denn auf allen Seiten und in jeder Herde gibt es sie, die Kamerablitzer und Momentaufnehmer, die ihre mobile Technik hochhalten und draufhalten, weil – ja, weil sie es eben können und nicht besser wissen. Obwohl ich immer noch nicht ganz begreifen kann, weshalb jemand ein Kunstwerk fotografiert, wenn es doch direkt vor ihm steht, und sich ohnehin viel ergiebigere Fotobeute im Netz findet, so kann ich  allein aus Advokatensicht – niemandem den Klick verübeln. Ein Verbot kann nur verletzt werden, wenn es auch bekannt ist.

Nur darin liegt der Fehler. Ich muss ahnungslose Weltenbummler und arbeitende Familienurlauber auf frischer Tat ertappen, ihnen von hier, von dort die Wörter entgegenbrüllen und wie ein Albtraum auf sie zuschreiten. Meistens natürlich ist da nichts dabei, aber dennoch – wer kann mir mit Gewissheit sagen, ob es nicht an dem einen oder anderen kurzfristig nagte? Denn immerhin mache ich sie auf ein Vergehen aufmerksam, von dem sie nicht wissen konnten, weil sie nie gelernt haben, Schilder zu deuten, die nicht da sind. Mit jedem automatisch bestürzten Zwischenruf und jeder ausgestreckten Hand vor die Kamera gebe ich ihnen das Gefühl, eine Tat begangen zu haben. Es ist ein unangenehmes, unnötiges Gefühl, eines, das du im Urlaub nicht erleben möchtest, das zur irritierten Ahnung des Nichtwillkommenseins führt, das vielleicht den gesamten Museumsbesuch in ein schlechtes Erinnerungslicht setzt, das von sensiblen Seelen womöglich sogar einen ganzen halben Tag abnagt. Und so geht es mir bei jeder Schicht in den Stockwerken der kulturellen Goldquelle, weil die Direktorin keine verunreinigenden Schilder in ihrer sauberen Quelle erduldet.

Ich mache ganze Heerscharen von Touristen, Urlaubern, Studierenden und Familienmenschen zu überrumpelten Halbtagstätern, einzig und allein aufgrund des ästhetischen Empfindens einer Einzelperson.

Freitag, 2. Dezember 2016

Das geheimnisvolle Gartenwerkzeug

Bin ich nicht im Museum, bewache ich das barocke Gartenpalais einer Fürstenfamilie, das heute regelmäßig für Firmenfeiern, Festmahle, Pharmapräsentationen und forcierte Märchenhochzeiten besetzt wird. Die Türen aufhalten, Auskünfte erteilen, Zwischenfälle funken, leere Getränke vom Sandstein entfernen und achtlose Oberschichtler davon abhalten, den Exponaten der Fürstenfamilie zu nahe zu treten – das sind die aufblitzenden Glanzlichter meiner Tage und Nächte in dem privaten Weltkulturgebäude, das mir nach Monaten zum zweiten Wohnzimmer geworden ist.

Heute scheint es endlos. In den pompösen Saallandschaften, in denen ich meinen einsamen Dienst vor mir her spaziere, verebbt die Zeit wieder einmal zu einem festen Klumpen, als hätte jemand vom Catering einen Schuss Sodawasser ins Stundenglas gekippt. Während im ersten Stock eine laute Veranstaltung im Gang ist, verbleibe ich auf meiner festen Erdgeschossposition und bewache sinnfrei die leeren Quadratmeter der Sala Terrana, einem zugebauten, cremeweißen Innenhof, dessen Wände und Decken überrannt sind von unfassbar aufwändiger, sinnfreier Kunstmeisterschaft.

Allein auf weiter Flur, lasse ich den Blick schweifen, vorbei an Sandsteinsäulen und Marmorstatuetten, den Kopf hebend, bis die Augen an die Decke gehen und der Blick hängen bleibt an einem von zahlreichen Deckenbildern. Ein mäßig konserviertes Fresko, darauf zwei liebreizende Frauen in zartrosa-fliederfarbenen Gewändern, die Brüste unmotiviert entblößt. Gemeinsam sitzen sie auf einer felsartigen, erstarrten Wolkenformation in seltsamer Pose – die vordere deutet mit dem rechten Zeigefinger ins Leere, während die linke Hand eine blecherne Gießkanne umfasst, die leicht versetzte Hinterdame stemmt eine massive Gartenschere in den Himmel.

Zum ersten Mal fällt mir dieses Fresko bewusst auf, zum ersten Mal habe ich die Zeit, meinen Blick an der Decke festzuhalten, das Motiv in aller Ruhe und Detailliertheit zu betrachten. Und sofort wachsen die Fragen aus dem Blick: Wer sind die beiden barbusigen Damen? Warum schweben sie flügellos auf den Wolken? Zu welchem Zweck hat der Barockkünstler den ominösen Zeigefinger da Vincis kopiert? Wohin soll der Finger deuten, wenn er nach außerhalb des Bildes zeigt? Und weshalb posieren die Damen mit diesen banalen Gartenwerkzeugen? Sind sie symbolisch aufgeladen? Ist die Venuskanne gefüllt mit dem Regen der Fruchtbarkeit, der auf die Erde prasselt? Ist die salomonische Schere das Instrument der Rechtsprechung, das zur Vernunft aufruft? Oder ist sie die Richterin, die das menschliche Band durchtrennt? Und wenn ja, welches Band? Hat der verschmitzte Künstler in dieses unscheinbare Barockmotiv eine latent-lesbische Variante des Garten Eden gepinselt, das zartfliedern über der groben, kaputten Männerwelt schwebt? Zerschneidet die Gartenschere das traditionelle Band der Hetero-Ehe und begießt die Kanne deren Tod? Oder (langweiliger, weil naheliegend) verweisen die Werkzeuge einfach nur auf den barocken Garten, der hinter den Palaismauern anfängt? Und wie viel weitere, geheimnisvolle Geschichten stecken hinter diesem Motiv, von denen niemals jemand erfahren wird?

Langsam kommen die Gäste über die Prunkstiege hinunter, die Veranstaltung verlagert sich ins Erdgeschoss, dekadente Dessertteller werden gereicht, Raucher wagen sich für eine frierende Zigarette auf die Gartenterrasse, die Sala Terrena füllt sich mit jeder Minute. Ein Saal voll zufriedener, gutgelaunter, sichtlich erfolgreicher Menschen, alle fest im Leben stehend, den überzeugten Blick steif und klar nach vorn gerichtet.