„Der Wurm sitzt im Herzen des Menschen“, schreibt Camus. Ich
denke, er liegt in der Erwartung. Das Herz pumpt; wie sehr ich es auch belaste,
ich lebe bis zum letzten Schlag. Der Wurm der Erwartung aber frisst sich Löcher durch meinen Geist und hindert mich
daran, naiv und anonym ins Dasein zu beißen und seinen puren Geschmack zu
genießen, weil mich die vielen Wurmlöcher der Fülle berauben.
Woher kommt sie aber bloß, die so konstant keimende Erwartung? Sind meine
Eltern, meine Lehrer, meine Vorbilder und Vorgesetzten Schuld an meiner
Unfähigkeit, ohne Erwartung an diese oder jene Aufgabe zu gehen? Sind es die omnipräsenten
Medien, das schlaflose Internet, deren trügerische Reize eine Vorstellung
schaffen, die mein Dasein zwanghaft einlösen muss? Sie alle sind es – jeder
einzelne Lebenseindruck löst eine Erwartung an die kommenden Dinge aus. Alles,
was ich heute sehe, ändert meinen Blick auf morgen; die Erfahrungen und
Eindrücke überkommen meinen biegsamen Körper und zwingen mich in eine steife,
krampfhafte Erwartungshaltung, die mich am vorbehaltlosen Genießen hindert.
Lese ich einen soliden Abenteuerroman wie Goulds
Buch der Fische mit der abstrusen Erwartung, ein neuer Ulysses zu sein (weil es der Klappentext suggeriert), so werde ich
schon nach wenigen Seiten von dem Buch enttäuscht werden. Lege ich verbindliche
Hintergedanken in ein neutrales Gespräch mit der anziehenden, jungen Kollegin (weil ich konditioniert wurde, mehr zu wollen), stehe
ich meiner schönen neuen Vorstellung selbst im Weg. Gehe ich in den Silvesterabend mit der
erwartunsgetränkten Einstellung, eine unvergesslich legendäre Nacht erleben zu
müssen (weil es der Brauch vorgibt), wird aus Vorfreude Druck, aus Spiel Arbeit, aus Möglichkeit
Überforderung.
Die Wurmlöcher der Erwartung sorgen überall für Leere und
Enttäuschung; mehr noch, sie sind sogar deren Voraussetzung: Es kann nur
enttäuscht werden, wo Täuschung vorherrscht. Und die Erwartung selbst ist die
stärkste Täuschung, ihre verkrampfte Haltung eine durch und durch unnatürliche,
ungesunde, die schmerzvolles Leiden verursacht. Ein Dasein ohne Erwartung ist
der einzige Weg zur Linderung – weg von der krankhaft künstlichen Haltung, dem unaushaltbaren,
mentalen Druck, dessen Motor ich an allen fremden Mündern und Medienkanälen
festmachen kann, und der doch nur aus mir selbst kommt und von mir selbst betrieben
wird. Ich bin das Perpetuum Mobile der Täuschung, eine niemals erfüllende Erwartung
an mich selbst, ich bin der Wurm, der an mir nagt und mich am Genießen hindert,
weil ich gelernt habe, Ziele erreichen zu müssen.
Tag für Tag wird mir umso klarer, wie weit meine Erwartungen
von der Wirklichkeit entfernt sind. Die Erwartung an mich, einen Text zu
verfassen, der dieses Gefühl in befriedigende Worte fasste, hindert mich seit
Wochen, diesen Text überhaupt erst anzufangen. Es ist unmöglich, mein selbst auferlegtes
Ziel jemals ganz zu erreichen – dieses Wissen muss ich mir tagtäglich vor Augen
halten und alles andere fortziehen lassen. Um den Wurm in der Erwartung zu
vermeiden, darf ich die Erwartung gar nicht erst festhalten. Hat der, der den
Stein auf den Berg rollt, je Erwartungen an seine Aufgabe gestellt? Er weiß, er wird sein Ziel niemals
erreichen – wie könnte er Gefahr laufen, sich wurmstichige Erwartungen zu
machen?
Den groben Unsinn in allem Streben zu erkennen, naiv und
unbeschwert an jede Aufgabe zu gehen, ohne jemals zu vergleichen, zu werten, zu
erzwingen oder nachzuahmen – das ist, wonach mein Geist sich sehnt. Den Wurm
entdecken, bevor er sich ins Leben beißt, ihn zu neutralisieren, ehe er meinen
Kopf anfault und die Fäulnis mich am Genießen hindert. Denn ohne Genuss ist
jeder Tag nur eine Angelegenheit, die nicht aufgeschoben oder beschleunigt
werden kann. Nicht mehr, nicht weniger.