Mittwoch, 14. Dezember 2022

Suppenkaspar, neu erzählt

Er hat sie satt; die Lügen der Eltern, die Lügen der Lehrer, die starren Mauern, in die er geboren wurde, die Enge und Gewalt, die ihn umgeben, alles davon hat er satt. Die Vorschriften und Forderungen, wie er zu denken, wie er zu fühlen, wie er sich bei Tisch zu benehmen hat, er hat es satt, auf Regeln zu hören, die er nicht versteht. Er ist jung, im Grunde noch ein Kind, doch er weiß bereits Bescheid, er fühlt doch, dass etwas nicht stimmt, nicht stimmen kann, und Gefühle lügen nicht.

Seit Jahren schon fühlt er sich unwohl, in seiner Familie, in seiner Haut, jeden Tag erlebt er wie in Einzelhaft; seine Gefühlswelt ist ein Gefängnis und die Bedingungen sind schlecht: jeden Tag die gleiche, verwässerte Ursuppe, die ihm vorgesetzt und aufgezwungen wird, fade und fake, wieder nur das uralte, ewig falsche Familienrezept, das es blind zu schlucken gilt, nein, er kann nicht, nein, er will nicht mehr. Er weiß, wenn er die Lügen noch länger zu sich nimmt, erstickt er an ihnen, also beginnt er, sich zu verweigern. Er tritt in den Hungerstreik, von einem Tag auf den anderen, und niemand kapiert es, weil es niemand kapieren will; seine Eltern, seine Ärzte verzweifeln, weil sie ihn nicht mehr dazu zwingen können, ihre Lügen zu löffeln, sie sehen nicht ein, warum er sein will, was er ist, also sehen sie zu, wie er aufhört zu essen.

Erst wird er blasser und schwächer, bald schmäler, bald schwindet der Körper, das Fleisch, das ihm nie bekommen hat, bald hungert er sich bis zum Knochen; jeden Tag, jede Stunde schwächen sich die Sinne, nur sein Wille bleibt stark, ungebrochen, bis zum Ende. Die Ärzte versuchen es mit Zwangsernährung, doch selbst hier, selbst im letzten Stadium setzt er sich zur Wehr, entzieht sich der Nadel, um die Eltern weinen zu sehen, zumindest dieses eine Mal und ehrlich.

Die Suppe ist schon lange kalt geworden, der Teller entfernt sich (zumindest sieht er sie nicht mehr). Er weiß, dass er nicht mehr zu retten ist, er will nicht gerettet werden, er will nicht mehr, außer ein Zeichen zu setzen, wenn nicht für sich, dann für die anderen, für alle, die es genau so satt haben wie er. 

Sein Leben war Protest, sein Tod die Konsequenz. Seine Geschichte lebt weiter.

Sonntag, 11. Dezember 2022

Die Alten (II)

Vor drei Monaten starb die Queen; die Queen, und jeder wusste, wer damit gemeint war, völlig unnötig, ihren Namen zu notieren, weil sie den Titel jahrzehntelang verinnerlicht hatte, zu dem Titel wurde, die Queen, lange vor meiner Geburt, und ich erinnere mich, mit einem Paar im Lift des Fürstenpalais’ gestanden zu sein, ein greises, ausgewandertes Britenpaar, und die Frau erzählte mir, unverkennbar stolz, ihr Mann hätte einmal mit der Queen gespeist, vor Jahrzehnten, kurz vor meiner Geburt, als er noch ihr Sicherheitsmann war; heute erinnere ich mich wieder an diese kurze Begegnung im Aufsichtsdienst; heute ist er für mich der Alte, der mit der Queen gespeist hat.

Immer wieder kommen sie zu uns ins Palais, in die privaten Kunstkammern des Fürsten – die Alten, die Langjährigen, die ein Leben intus haben, Menschen von der Insel, aus den Staaten, die ein Leben lang geschuftet haben, um sich die eine Europareise leisten zu können, und der erste Impuls im Kopf ist Warum, warum tun sie sich das an, in ihrem Alter, bei den Strapazen, mit Schiffen, Bussen, Taxis in das Herz der Stadt, um sich ein elend langes Stündchen durch die engen Galerien zu quälen, ohne Pause, ohne Sitzgelegenheit, und du bangst und zitterst, ob sie es wohl durchhalten, und bist erleichtert, wenn sie die letzte Stufe wieder hinter sich haben und wieder in ihren sicheren Reisebussen verschwinden.

Heute ist wieder so ein Tag, wo so eine Gruppe kommt, eine geschlossene Reisegruppe aus dem Land der Freiheit, jeder hat mehr Jahre als Sterne auf ihrer Flagge, weitaus mehr, und während draußen am neunten Dezember ein deprimierender Regen einsetzt, schleppen sie sich durch die Tür, die ich ihnen öffne. Es ist, als wäre eine gesammelte Mannschaft aus Benjamin Buttons eingetroffen, als hätte Fitzgerald sie persönlich hierher geschrieben, kleine staunende Kinder in undankbaren Großelternkörpern, überfordert von der Umgebung und den endlosen Stufen in den zweiten Stock. Doch um den Lift zu nehmen, sind viele zu stolz, sie nehmen den Kampf an und überschätzen sich, wie Erstsemestler (schließlich sei sie erst zweiundsiebzig, sagt mir eine, die sich besonders plagt, wenn es sogar die Neunzigjährigen schaffen, und sofort eine Entschuldigung hinten dran, als wäre ihr Alter ein Malheur). Ich zähle Gehstöcke und Rollatoren, die Buttons verstreuen sich in der Garderobe, die labyrinthische Architektur des Hauses überfordert sie, natürlich, eine Dame hat ihre Halskette verloren, eine andere ihre Gruppe, sie streifen beide verwirrt durch die Empfangshalle, wie zwei touristische Schlossgespenster, die außerhalb der Zeit wandeln.

Und wieder kommt mir der Gedanke hoch, dieses würgende Warum, doch ich weiß, es ist der falsche Impuls, es ist überheblich und zum Kotzen, so zu denken – die richtigere Frage wäre: Warum nicht? Warum sollten sie nicht ihre mürben Körper durch ein fremdes Land schleppen, warum sich nicht in einem fremden Museum verirren, „noch einmal stürmt, noch einmal …“ in den Ohren? Etwas nur deshalb nicht zu tun, weil es zu anstrengend erscheint, ist der Tod jedes Traumes, und niemand, außer der Träumer selbst, kann entscheiden, wann es zu spät ist, sich einen Traum zu erfüllen. Und wer weiß, wie viele Beweggründe, wie viele Geschichten wirklich in diesen Gesichtern liegen; vielleicht waren sie vor Jahrzehnten schon einmal hier, lange vor meiner Geburt, vielleicht haben sie wirklich jahrzehntelang auf diese Strapazen hingearbeitet, um sich einmal noch mit aller Kraft und Entschlossenheit ein Ziel zu setzen, nämlich eine Führung durch das Fürstenpalais durchzustehen, und diesen einen gefühlten Sieg davonzutragen, der sich (und daran will ich glauben) umso schöner festsetzt, je mühevoller er errungen wurde.

Es sind die Alten, die mir an diesem Tag zeigen, mir immer wieder beweisen: Es ist nie zu spät, um eine Reise zu beginnen – bevor es zu spät für sie ist.