Sonntag, 28. Mai 2023

Die Unmöglichkeit von Händen

Unlängst geisterte ein verstörendes Bild durch die digitalen Netzwerke, es zeigt dichte Rauchschwaden am Areal des Pentagons, das Ergebnis einer vermeintlichen Explosion; sofort und massenhaft (und klarerweise panisch) wurde über einen Angriff spekuliert, ein Anschlag im Herzen Amerikas, an alten Traumata rüttelnd, ehe in seriösen Medien schnell die Entwarnung kam: das Bild ist eine Fälschung. Es gab nie eine Explosion am Areal des Pentagon, der falsche Rauch im Bild stammt aus der Maschine; der größten Nebelmaschine der Jetztzeit. 

Es überrascht nicht, kann nicht überraschen, dass der rasante Aufstieg Künstlicher Intelligenzen zu solchen Bild-Realität-Scheren führt, dass wir uns in Zukunft neue Strategien überlegen müssen, um die Authentizität von medialen Bildern zu prüfen; was jedoch erstaunt, ist die Talentverteilung der digitalen Zwangsarbeiter: zumindest heute, momentan, während ich diese Zeilen verfasse, zeigen sich im Werk der KI-Künstler noch äußerst klare Stärken und Schwächen, die ihre perfekten Lügenbilder enttarnen und den falschen Nebel lichten können, und die Achillesferse der Bildmaschine liegt dabei ausgerechnet im Erstellen einer vermeintlichen Kleinigkeit, der haptischen Urbedingung alles Analogen: den Händen.

Wer sich im Frühjahr 2023 mit Bildern aus der Maschine spielt, wer die Künstliche Intelligenz mit kreativen Forderungen an ihre handwerklichen Grenzen bringt, wird erstaunt, belustigt oder zufrieden erkennen, dass die große Maschine ihre größten Probleme mit dynamischen Prozessen und komplexen Bewegungen hat; kurzum: sie kann keine Hände. Die fiktiven Erzeugnisse, verzerrten Figuren, die mir (noch) kostenfreie Bildwerkstätten im Datennetz innerhalb von Sekunden erstellen, sind Porträtkunst für die Geisterbahn, eine Hochleistungsschau des Horrors, verstörende Chimären und hyperrealistische Missbildungen, als säße ein versklavter Gottfried Helnwein in der Maschine und pinselte unentwegt Veteranen auf den Bildschirm; und immer wieder fallen die unmöglichen Stellungen, Verrenkungen und falschen Anzahlen der digitalen Wurstfinger ins verwirrte Auge. Es ist bezeichnend, dass der naive Künstler, den wir KI nennen, eine täuschend echte Explosion erzeugen kann, noch bevor er gelernt hat, schöne Hände zu malen.

Was diese Beobachtung besonders macht (und ein wenig erschreckend), ist, dass es mir nicht anders geht. Wenn ich nicht gerade Albrecht Dürer bin, so fällt es mir als leidlich begabten Zeichner unfassbar schwer, korrekte Hände zu komponieren. Es ist, als gäbe es im Gehirn irgendwo eine Barriere, eine verbotene Baustelle für die Konstruktion von Handflächen, die nie vollendet wird; die forcierte Vision einer Fingeraufstellung sorgt für Verrenkungen in meinem Kopf, und tausend Stunden Übung kann mich nicht davor bewahren, dass ich beim nächsten Mal wieder den Daumen verkehrt ansetze, die Finger verdrehe, Proportionen verfälsche; sogar die weißen Marmorhände von Michelangelos David erscheinen mir auf Bildern immer eine Spur zu groß, ein winziger, doch sichtbarer Makel in Anbetracht der Perfektion, als bräuchte es noch einen Beweis, dass sie von Mensch geschaffen sind, dem Erfinder des Makels.

Und genau das ist er, denke ich, der Punkt, der mir echte Empathie für die falschen Bilder der großen Nebelmaschine entlockt: nicht ihre Meisterschaft, sondern ihre Makel. Die Tatsache, dass die Künstliche Intelligenz (noch) keine Hände kann, dass sie ausgerechnet (noch) an dem scheitert, woran sich große und kleine Künstler seit Jahrhunderten abplagen, das macht sie mir fast schon: menschlich.