Mittwoch, 13. Dezember 2023

Keine Weihnachtsgeschichte

Es gibt Geschichten, die musst du sofort, ohne zu zögern niederschreiben, sie brennen dir unter den Fingernägeln (wie man so sagt), sie jucken und reizen dich, lassen dich nicht mehr los, bis sie endlich weggeschrieben sind: andere Geschichten dagegen verlangen nach Abstand und Zeit, sie brauchen ihre Dauer, bevor du dich an sie setzen kannst, weil die Empfindung, deine Erinnerung an sie zu intensiv, womöglich schmerzhaft ist, du überhaupt erst eine Erinnerung zu ihr aufbauen musst, und es keine Erinnerung ohne Abstand gibt. Die Geschichte meiner kurzhaarigen Kollegin ist so eine.

Vor einem Jahr, in den letzten Tagen vor Weihnachten, hatten wir gemeinsam Dienst im Fürstenpalais, es musste kurz vor Schluss gewesen sein (ich erinnere mich, es war bereits dunkel draußen, stockfinster, wie man so sagt), sie stand am Haupteingang und ich daneben, und weil keine Gäste in der Nähe waren, taten wir wieder einmal das Verbotene und unterhielten uns miteinander, suchten das Gespräch, um die Zeit zu füllen. Ich kannte die Kollegin bereits, wusste ein paar Dinge über sie (bis heute kann ich nicht sagen, wie man es anstellt, jemanden kennenzulernen, zehre immer noch von dem Umstand, dass sich die Leute mir wahllos anvertrauen); sie ist alleinerziehend, hat zwei Töchter von zwei Männern – warum die Männer heute nicht mehr da sind, ist nicht wichtig, wichtig ist nur, dass sie nicht da sind – und ich weiß, dass sie bei ihrem sogenannten Objektmanager darum kämpfen musste, an Weihnachten frei zu bekommen, um den Tag mit ihren Töchtern zu verbringen. Weil ich das wusste, und weil ich weiß, wie verdammt schwer es ist, als Museumsaufsicht an Weihnachten frei zu bekommen, frage ich, ob sie sich schon darauf freut.

Es ist eine unverfängliche, völlig uninspirierte Frage, banal bis zum Nordpol, doch oft genügt ein Wort, ein Echo, um die Lawine auszulösen. Eigentlich nicht, sagt sie. An Weihnachten muss sie immer an ihre Mutter denken. Im Winter vor zwölf Jahren lag sie mit Metastasen im Bett, ohne Aussicht oder Hoffnung. Es waren diese Tage, um Weihnachten herum, als sie langsam starb, und jedes Jahr, sagt meine Kollegin mit ihrer angenehmen Stimme, wenn Heiligabend wieder ansteht, kommen die Empfindungen, die Erinnerungen wieder hoch, die sich überhaupt erst mit der Zeit geformt haben, nachdem die Geräte schon lange abgeschaltet wurden; denn es gibt keine Erinnerung ohne Abstand.

Sie war damals nicht allein, erzählt sie mir, sie hat eine Schwester, und sie waren beide da, jeden Tag waren sie da, jeden möglichen letzten Tag ihrer Mutter, bis es tatsächlich der allerletzte war, an einem Fest, dass sich der Liebe verschreibt, weil es gut fürs Geschäft ist, doch in diesem Jahr ist nichts gut, rein gar nichts, es ist Tod und Teufel und Trauer, weil es nichts gibt neben dem Krebs, weil die Krankheit ein einziges Loch ist, ein gigantisches, lichtloses Arschloch, das dein Leben in Scheiße begräbt, bis nichts mehr übrigbleibt.

Allein, es stimmte nicht ganz; und genau das macht es heute so schwer, so verwirrend, sagt meine Kollegin mit den frei gewählten kurzen Haaren (vielleicht nicht mit diesen Worten, es macht keinen Unterschied), kurz bevor wir uns in die Feiertage verabschieden. Die Erinnerung ist so furchtbar, weil sie nicht nur mit Schmerz verbunden ist. An den Weihnachten, als ihre Mutter starb, sagt sie, da waren sie und ihre Schwester beide schwanger.

Ich habe ein Jahr gebraucht, um diese Geschichte niederzuschreiben, mit all den unvermeidlichen Ungenauigkeiten meiner eigenen Erinnerung, und fast genauso lange habe ich die kurzhaarige Kollegin nicht mehr wiedergesehen. Ich weiß, dass sie heute bei einer anderen Dienststelle arbeitet; ich kann nur hoffen, dass sie auch diese Weihnachten frei bekommt. 

Mittwoch, 1. November 2023

Sonntag, 22. Oktober 2023

Noch ein paar Notizen zur Immersion

Nichts gegen Anglizismen, aber warum müssen wir immer die billigen Wörter übernehmen? Während im Englischen so beflissene, ausgesprochen schöne deutsche Begriffe wie Doppelgänger, Wunderkind, Katzenjammer, Kindergarten oder Weltschmerz übernommen wurden, eignen wir uns im Deutschen bevorzugt nur englisches Event-Vokabular an, knallige, inhaltsarme Begriffe wie etwa den nimmermüden Boom – ständig scheint irgendetwas irgendwo zu boomen (wer in einem bestimmten Jahrzehnt geboren wurde, ist heute sogar selbst ein Boomer) – und abgesehen davon, dass es ziemlich pietätlos wirkt, in Kriegszeiten verbale „booms“ zu verbreiten, macht sich neuerdings auch in der Museumslandschaft ein neuenglischer Knalleffekt bemerkbar: die immersive Erlebnisschau. Klimt bekam eine, dann Monet, irgendwie auch Banksy, und jetzt Frida Kahlo, die surreale Meisterin der schmerzhaften Selbsterkundung, die sich selbst nie als Surrealistin sah.

Zweimal wurde die Ausstellung bereits verlängert, und bevor sie zu Ende geht, statte auch ich ihr einen Besuch ab, an einem verregneten Montagnachmittag, weit außerhalb des Zentrums, in einem sperrigen, backsteinfarbenen Areal, einer Veranstaltungshalle, die nach dem deutschen Kommunismusvater benannt ist und in diesen Tagen für kapitale Einnahmen sorgen soll. Wobei das altbackene Wort „Ausstellung“ hier bewusst vermieden wird, stattdessen ist von einer IMMERSIVE EXPERIENCE die Rede – doch die einzige Erfahrung, die ich an dem Tag mache, liegt im Gefühl der Abzocke: 24 Euro für eine Schau über eine Malerin, in der kein einziges gemaltes Original hängt; was für die Veranstalter natürlich günstig ist, denn wo es nichts zu stehlen gibt, braucht es auch keine Aufsichten, und überhaupt geht es hier nicht um Maltechnik und Struktur, sondern um das Versprechen, in die Werke (die nicht da sind) mit Leib und Seele einzutauchen – ganz immersiv eben. Doch was ist das eigentlich, Immersion?

Eine Stunde später weiß ich sehr genau, was es nicht ist: Es ist keine laute Dauerbeschallung, keine zerfließende Wandprojektion in grober Pixelqualität, kein billiger Jahrmarkttrick und keine inszenierte Fotostation, keine quadratische Insta-Weisheit, kein kunterbunter Mexikokitsch und ganz sicher nicht die deutsche Synchronstimme von Salma Hayek, die mit falschem Akzent Fridas Leidensweg familiengerecht nacherzählt – nein, ich gestehe, ich war schon skeptisch, als mir ein (sonst wenig kulturinteressierter) Kollege von der Erlebnisschau übertrieben vorschwärmte („Einen ganzen Sonntag haben wir mit der Freundin hier verbracht“), doch ein Kunsturteil aus der Ferne ist ein schwaches, also musste ich es selber sehen, um es müde zu bestätigen: Was hier verkauft wird, ist billiger Karneval, ein farbenfrohes, freundliches Fest für 3D-Fetischisten und netzaffine Frida-Fangirls, doch nichts davon, nichts zieht mich wirklich in den faszinierenden, schmerzgeplagten Kosmos einer untröstlichen Weltkünstlerin; ihre Bildmotive werden zwar bewegt, aber sie werden nicht lebendig, denn eine nervöse Wandanimation ist eben keine gespannte Leinwand, kein bemaltes Unikat, in das ich mich vertiefen kann, eintauchen will – der projizierten Vervielfältigung fehlt tatsächlich jene Aura, die Benjamin beschworen hat, und es hilft auch nicht, wenn eine deutsche Sprecherin über Leidenschaft schwafelt, während gezupfte Latin-Klänge jede Stille aussperren, als fürchteten die Veranstalter nichts mehr als das: Ruhe.

Die Stille, die hier fehlt, nimmt mir jedoch jede Möglichkeit, in die eigenen Gedanken reinzuhören – so erzeugt diese Schau am Ende nur das Gegenteil von dem, was sie verspricht: Sie reißt mich immer wieder aus meinem Kunstempfinden heraus und reduziert den Mythos dieser umtriebigen, rätselhaften und gequälten Künstlerin auf ihre populärsten Motive und bekannteste Beziehung, kurzum: sie überrascht nicht, sie verstört nicht. Sie löst nichts aus, sie tut nicht weh.

Und das ist dann doch vernichtend wenig für ein Kultur-Event, dessen Subjekt sich mit keiner Sache so sehr auseinandergesetzt hat wie mit dem eigenen Schmerz. Wollte man den Gästen eine wirklich immersive Erfahrung verschaffen, dürfte man ihnen keine bequemen Sitzsäcke zur Verfügung stellen – sondern enge Stützkorsette.

Montag, 11. September 2023

Serpico und die Künste

Es gibt diese wunderbare Szene in Sidney Lumets Serpico, als der von Al Pacino gespielte rechtschaffene Cop und Titelheld mit seiner Partnerin auf eine Hippieparty geht, und sie ihm all ihre kunstbegabten Freundinnen vorstellt, immer nach demselben, ironischen Muster: „Sie ist Dichterin, sie arbeitet in einer Werbeagentur.“ – „Sie ist Schauspielerin, sie arbeitet für einen Fotografen.“ – „Sie ist Schriftstellerin, sie arbeitet für eine Versicherung.“

Es ist eine frühe und kurze Szene, die der Handlung nichts beiträgt, doch sie illustriert mit unbeschwerter Leichtigkeit, was diesen Serpico selbst antreibt, was den gesamten Film ausmacht: das Dilemma zwischen Ideal und Realität. Die Ambition auf der einen Seite, das Geld auf der anderen. Und immer, wenn ich mit meinen Kollegen in der Museumsaufsicht spreche, muss ich an diese kleine und unscheinbare Szene denken – so viele, die neben mir und mit mir so unscheinbar in den Galerien stehen, sie haben so große Ambitionen, Träume, Ideale, sie sind oder waren in der Ausbildung, im Schaffen, auf dem Weg zu dem, der sie sein wollen, und auf einer Party könnte ich sie alle so vorstellen: „Sie ist Sängerin, sie arbeitet im Museum.“ – „Er ist Regisseur, er arbeitet im Museum.“ – „Die beiden sind Fotografen, sie arbeiten im Museum.“

Ich erinnere mich an einen Dienst, vor einiger Zeit, als ich noch regelmäßig im Touristenschloss im Einsatz war; ich saß im Pausenraum an dem langen und hellen Buchentisch, und mir gegenüber eine ältere Kollegin (sie ist studierte Historikerin, hat in ihrem Wunschbereich nie eine Stelle gefunden), und sie erzählt mir plötzlich von einem ehemaligen Mitarbeiter in der Garderobe, der sich jahrelang erfolglos für das Reinhardtseminar beworben hätte; irgendwann war er gebrochen, hat nach dem fünften gescheiterten Versuch die Schauspielschule sein lassen und die gesamte Kunst verworfen – obwohl er daneben schon ein abgeschlossenes Musikstudium in der Tasche hatte. Sie hätte ihm gesagt, die besten Schauspieler wären eh alle von der Schule geflogen, also was soll’s, es geht auch ohne, nur nicht aufgeben.

„Nur nicht aufgeben“, denke ich, das ist er, der eine Satz, die geheime Parole, die nicht vergessen werden darf, die jede Museumsaufsicht mit kunstsinnigen Träumen, jeden Gesetzeshüter mit hehren Idealen durch den Tag bringen muss. Serpico ist vor genau fünfzig Jahren erschienen, und am Ende triumphiert die Figur, der ehrliche Außenseiter, gegen das korrupte System, das er bekämpft; doch er verliert dabei nicht wenig, und er wird niemanden haben, mit dem er den späten Sieg befeiern kann. Die Moral bleibt zwiespältig, wie in allen Werken des großen Lumets, und dennoch scheint es keine Alternative zu dieser Parole, zu dem ewigen Ratschlag der weisen Kollegin und studierten Historikerin zu geben, wenn du den Willen, die Ambition, das unwahrscheinliche Ziel in dir spürst, das du nicht leugnen kannst, auch wenn alles dagegen spricht, auch wenn du fünfmal an der Schauspielschule scheiterst.

„Und stell dir vor“, sagte die Kollegin damals, als unsere Pause sich dem Ende neigte. „Jahre später hab ich ihn im Fernsehen gesehen.“

Montag, 24. Juli 2023

Brief an Modiano

Walter Benjamin hat mal geschrieben, die Übersetzung eines Buches solle wie eine Arkade sein, durch die das Licht des Originals hindurchscheine; das ist ein schönes, ein ganz wunderbares Bild, das mir immer in den Kopf kommt, wenn ich eine gute Übersetzung lese und dabei zu spüren glaube, die Stärken, den Witz, den Rhythmus und das Rätsel des Originals mitzulesen, seinen Stil durchzuhören, ein kraftvolles Echo im Arkadenhof, das lange nachhallt. Umso ärgerlicher seine Antithese: der schrille Ton der schlechten Übersetzung, das aufdringliche, überkonstruierte Gebäude, das den sanften Schein des Originals entstellt oder verdrängt.

Wie in der Schauspielkunst, der Malerei, Musik und Poesie, wie in jeder Disziplin, die nur irgendwie nach Kreativität verlangt, muss es auch im Fach der literarischen Übersetzung verschiedene Herangehensweisen und Techniken geben; die Frage, wie viel Freiheit ich mir gegenüber dem Original einräume, wie weit ich in der Übertragung abweiche, hängt nicht nur von Talent und Vorliebe der Übersetzenden ab, nein, es sind Grundsatzfragen: Versuche ich (muss ich versuchen), so nah wie möglich am Original zu bleiben und den Inhalt Wort für Wort in meine Sprache abzugleichen, oder will (sollte) ich doch eher das Gefühl des Originaltextes in meine Sprache übertragen, und mich dafür – wenn es sein muss – inhaltlich von der Vorlage weiter wegbewegen? Wie ich es auch angehe, was ich sicher nicht tun sollte, was nie und niemandem hilft, ist, das Original in der Übersetzung zu kommentieren; es zu erklären.

Wenn ich die letzten kurzen Romane eines Patrick Modiano lese, verstehe ich auch auf Deutsch sofort, warum er den Literaturnobelpreis verdient – die Unmittelbarkeit, mit der er in seine Geschichten hineinzieht, die Auslassungen, die er setzt, immer bekomme ich das Gefühl, es steckt mehr in diesen leichten Sätzen, diesen Orten, Namen, Erinnerungen, die sich in rätselhafter Nostalgie vermengen. Modiano spielt mit Geheimnissen, mit Doppeldeutigkeiten, doch hier fängt das Problem an: Sein letzter Roman ist hierzulande unter dem Titel Unterwegs nach Chevreuse erschienen, was nicht schlimm wäre, wenn es nicht eine falsche, eine grobe, eine völlig verzerrte Übersetzung darstellte. Denn im französischen Original heißt das Buch schlicht und grandios: Chevreuse.

Die Unterschiede wirken marginal, doch sie sind es nicht, ganz im Gegenteil: Schon auf der allerersten Seite philosophiert der Ich-Erzähler über diesen Titel, Chevreuse, doch er sinniert nicht einfach über den Ort, den der Name beschreibt, sondern über den Begriff selbst, seinen nebulösen Klang, der ihn über die Jahre verfolgt und ihn zurückzerrt, durch die Lücken der Vergangenheit, seine Vergangenheit, sein Mysterium: „Chevreuse“. Der Name steht zugleich für die Gegend und für das Geheimnis, das Wort ist ein Geheimnis, es ist rätselhaft, mehrdeutig, mystisch, wie die Erinnerung selbst, das große, das ewige, das Lebensthema des Autors.

In der deutschen Übersetzung geht dieser Mehrwert flöten; durch das unmotivierte, völlig unnötig hinzugedichtete Element des Unterwegsseins verliert Chevreuse seine Absolutheit, wird reduziert auf eine austauschbare französische Ortschaft. Sicher, es ist legitim, oft notwendig, etwas umzudichten, doch einen Titel auf solche Art zu verfälschen, ihn abzuschwächen, indem angehängt wird, wo nichts war, wo es nichts braucht – warum? Ich kann mir nur eine Antwort darauf geben: Angst. Eine kapitale Furcht der Verleger, ein deutschsprachiges Publikum könne sich unter Chevreuse womöglich nichts vorstellen, weshalb es einen Zusatz braucht, einen Eingriff, künstlerische Freiheit ohne jede Kunst, ein schales, vages Gefühl von Aufbruch und Reise, weil Reisen geht immer, und so erscheint ein ambivalenter, höchst geheimnisvoller Inhalt unter einem mäßigen, beschwingten Werbetitel, in der bangen Hoffnung, dadurch ein paar Bücher mehr zu verkaufen.

Und hier bröckelt Benjamins Bild, denn Unterwegs nach Chevreuse gibt es keine Arkade, kein durchscheinendes Licht, es gibt nur die sture Düsternis eines ängstlichen Marktes, der mir zu viel erklärt und zu wenig zutraut, weil er blind den Gesetzen folgt, die er selbst aufstellt, und vermutlich gar nicht begreift (oder ignoriert), wie viel dadurch verloren geht.   

Das, denke ich, ist das Paradox der Übersetzung: je mehr sie dem Original hinzufügt, umso mehr nimmt sie ihm.

Donnerstag, 13. Juli 2023

Der melancholische David

Seit 500 Tagen wütet jetzt schon der Krieg in der Nachbarschaft, nur zwei Grenzen entfernt, während ich Woche für Woche die barocken Schlachtengemälde eines Peter Paul Rubens bewache (die erst kürzlich wieder aus der Restaurierung zurück sind). Zu Beginn, da wurde die abgewehrte Invasion, die Verteidigung gegen diesen Angriffskrieg pathetisch beschrieben als ein neues, biblisches Duell David gegen Goliath, kleine und große Medien haben den Vergleich aufgenommen, ihn immer wieder stur und willig wiederholt – und nichts könnte falscher sein.

Ein Duell ist eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe, ein angesetzter Zweikampf unter gleichen Voraussetzungen, für den geltende Regeln festgelegt wurden – zu einem Duell trifft man sich, es braucht eine Vereinbarung; Krieg ist das Gegenteil der Vereinbarung. Es ist dumm, es ist gefährlich, von einem Duell zu sprechen, weil es die Voraussetzungen verfälscht, außer Acht lässt, was wirklich passiert ist: ein freies Land wurde überfallen, es wird besetzt und zerstört, ohne Rücksicht auf ein Regelwerk, auf Einverständnisse, auf alles. Dass sich der Überfallene zur Wehr setzt, dass sich die Verhältnisse am Schlachtfeld umkehren, das macht es nur verführerisch (und viel zu einfach), den verkitschten David-Vergleich zu bemühen, die ewige hollywoodsche Sehnsucht nach der unwahrscheinlichen Erfolgsgeschichte, dem romantischen Triumph des Underdogs gegen eine tumbe, überhebliche Übermacht.

Es gibt viele, unzählige Bilder und Statuen des David in der Kunstgeschichte, in der ganzen Welt sind zu verteilt, doch jene Darstellung, die mich am allermeisten bewegt, sie hängt ausgerechnet hier, in meiner Stadt; in einem der schönsten hiesigen Museumshäuser (das ich ausnahmsweise privat durchgehen darf), hier hängt Caravaggios David mit dem Haupt des Goliath; es ist kein spektakuläres Gemälde, in der Größe überschaubar, fast schüchtern, zurückhaltend, auf den ersten Blick, und vielleicht zieht es mich gerade deshalb in seinen Bann. Aus der Schwärze des Hintergrunds löst sich der junge Heroe, hält den abgetrennten Kopf des Feindes hoch und schultert das Schwert, während der Blick ernst, konzentriert, etwas müde zur Seite schaut. Caravaggio zeigt uns diesen David unmittelbar nach seinem Triumph, nachdem er alles erreicht hat – nur warum sieht er dann nicht wie ein Sieger aus?

Caravaggios David präsentiert uns das Haupt des Goliath wie einen Pokal – doch er ist für uns gedacht, nicht für ihn selbst; in Davids Blick scheint keine Genugtuung, keine Euphorie des Geschafften auf, seine Augen suchen nicht die Bühne, das Publikum, sie sehen ins Abseits, von etwas abgelenkt, als wäre er noch jetzt, im Moment des Sieges, in seine Gedanken vertieft. Der nachdenkliche Blick, er befreit ihn von all dem vordergründigen Heldenpathos, denn Helden denken nicht, sie handeln, sie tun die Dinge einfach. Und immer frage ich mich, woran denkt dieser David, jetzt, wo er alles erreicht hat?

Caravaggio lässt ihn dunkel nachsinnen, er macht den Helden zum melancholischen Gewinner. Sein David ist ein Denker, und für einen Denker wird der Sieg nie genug sein – denn schon im Triumph macht er sich Gedanken über die Folgen, über das, was danach kommt, was die Tat mit ihm selber macht; deshalb sehe ich in dem Bild nicht einfach den Sieg, über den alle Welt Bescheid weiß, ich sehe die Ungewissheit, die er mit sich bringt. Ich sehe einen jungen Mann, der entgegen allen Vorzeichen gewonnen hat; der aber auch begreift, was er dafür tun musste. So sehen wahre Sieger aus, die unmenschliches geleistet haben – müde und schwermütig über das Erlebte.

Selbst im Triumph noch einen Hauch von Melancholie in den Augen, das macht mir diesen kleinen David größer und zugleich näher und glaubhafter als jede andere Darstellung des siegreichen Außenseiters. 

Dienstag, 11. Juli 2023

Sonntag, 28. Mai 2023

Die Unmöglichkeit von Händen

Unlängst geisterte ein verstörendes Bild durch die digitalen Netzwerke, es zeigt dichte Rauchschwaden am Areal des Pentagons, das Ergebnis einer vermeintlichen Explosion; sofort und massenhaft (und klarerweise panisch) wurde über einen Angriff spekuliert, ein Anschlag im Herzen Amerikas, an alten Traumata rüttelnd, ehe in seriösen Medien schnell die Entwarnung kam: das Bild ist eine Fälschung. Es gab nie eine Explosion am Areal des Pentagon, der falsche Rauch im Bild stammt aus der Maschine; der größten Nebelmaschine der Jetztzeit. 

Es überrascht nicht, kann nicht überraschen, dass der rasante Aufstieg Künstlicher Intelligenzen zu solchen Bild-Realität-Scheren führt, dass wir uns in Zukunft neue Strategien überlegen müssen, um die Authentizität von medialen Bildern zu prüfen; was jedoch erstaunt, ist die Talentverteilung der digitalen Zwangsarbeiter: zumindest heute, momentan, während ich diese Zeilen verfasse, zeigen sich im Werk der KI-Künstler noch äußerst klare Stärken und Schwächen, die ihre perfekten Lügenbilder enttarnen und den falschen Nebel lichten können, und die Achillesferse der Bildmaschine liegt dabei ausgerechnet im Erstellen einer vermeintlichen Kleinigkeit, der haptischen Urbedingung alles Analogen: den Händen.

Wer sich im Frühjahr 2023 mit Bildern aus der Maschine spielt, wer die Künstliche Intelligenz mit kreativen Forderungen an ihre handwerklichen Grenzen bringt, wird erstaunt, belustigt oder zufrieden erkennen, dass die große Maschine ihre größten Probleme mit dynamischen Prozessen und komplexen Bewegungen hat; kurzum: sie kann keine Hände. Die fiktiven Erzeugnisse, verzerrten Figuren, die mir (noch) kostenfreie Bildwerkstätten im Datennetz innerhalb von Sekunden erstellen, sind Porträtkunst für die Geisterbahn, eine Hochleistungsschau des Horrors, verstörende Chimären und hyperrealistische Missbildungen, als säße ein versklavter Gottfried Helnwein in der Maschine und pinselte unentwegt Veteranen auf den Bildschirm; und immer wieder fallen die unmöglichen Stellungen, Verrenkungen und falschen Anzahlen der digitalen Wurstfinger ins verwirrte Auge. Es ist bezeichnend, dass der naive Künstler, den wir KI nennen, eine täuschend echte Explosion erzeugen kann, noch bevor er gelernt hat, schöne Hände zu malen.

Was diese Beobachtung besonders macht (und ein wenig erschreckend), ist, dass es mir nicht anders geht. Wenn ich nicht gerade Albrecht Dürer bin, so fällt es mir als leidlich begabten Zeichner unfassbar schwer, korrekte Hände zu komponieren. Es ist, als gäbe es im Gehirn irgendwo eine Barriere, eine verbotene Baustelle für die Konstruktion von Handflächen, die nie vollendet wird; die forcierte Vision einer Fingeraufstellung sorgt für Verrenkungen in meinem Kopf, und tausend Stunden Übung kann mich nicht davor bewahren, dass ich beim nächsten Mal wieder den Daumen verkehrt ansetze, die Finger verdrehe, Proportionen verfälsche; sogar die weißen Marmorhände von Michelangelos David erscheinen mir auf Bildern immer eine Spur zu groß, ein winziger, doch sichtbarer Makel in Anbetracht der Perfektion, als bräuchte es noch einen Beweis, dass sie von Mensch geschaffen sind, dem Erfinder des Makels.

Und genau das ist er, denke ich, der Punkt, der mir echte Empathie für die falschen Bilder der großen Nebelmaschine entlockt: nicht ihre Meisterschaft, sondern ihre Makel. Die Tatsache, dass die Künstliche Intelligenz (noch) keine Hände kann, dass sie ausgerechnet (noch) an dem scheitert, woran sich große und kleine Künstler seit Jahrhunderten abplagen, das macht sie mir fast schon: menschlich.

Dienstag, 18. April 2023

Macabéas Erbe

Ich lese Lispector. Nicht ihre neu übersetzten, wilden Erzählungen, sondern ihren letzten und schmalsten Roman, Der große Augenblick (die Autorin gibt noch zwölf weitere Titelvorschläge), ein Text über Armut und Tod, der mit einem großen Ja endet, einem Montaigneschen Ja zum Leben, trotz Armut und Schwindsucht, trotz allem.

Im Buch geht es um ein naives krummes Ding mit kümmerlichen Brüsten und schwacher Lunge, ein mageres Wesen, das niemand gern hat, eher eine Anomalie, als eine Person, geschweige denn ein Individuum; erst nach der Hälfte des Romans erhält Macabéa überhaupt einen Namen, später einen Kaffee, doch viel mehr bekommt sie nicht – sie hat weder Glück in der Liebe, noch im Beruf, und dennoch, erzählt uns der fiktive Autor, da gibt es kein Mitleid und keine Traurigkeit für Macabéa, nein, im Gegenteil, sie spiegelt den verborgenen, inneren Reichtum der Armen, denn Traurigkeit war nur was für Reiche: „Traurigkeit war Luxus.“ Macabéa aber weiß nicht, was Luxus ist. Sie weiß nicht einmal, dass sie eigentlich unglücklich sein müsste. Also ist sie glücklich.

Seit einigen Monaten habe ich einen neuen Kollegen im Museum, der mich an Macabéa erinnert. Er ist nicht mehr der Jüngste, hat schon ein Leben hinter sich, doch er strahlt wie ein Kind, dass noch keine Enttäuschung kennt, er ist überpünktlich, motiviert und hilfsbereit, er trägt sein Lächeln wie eine Dienstwaffe, er jammert nicht (nie), ganz egal, wie lang und monoton und schlechtbezahlt die Dienste auch sein mögen. Er weiß nicht, dass er nach sozialen Standards unglücklich sein müsste, und deshalb ist er die Sonne selbst, er erzeugt das Licht, das ihm nicht beschienen ist, kurzum: er ist ein geborener Romanheld.

Genau wie die arme Macabéa kann er sich keine Traurigkeit leisten; nein, im Gegenteil, er trägt die Rückschläge des Lebens nicht nur, er verlacht sie, er übertönt den Schmerz mit guter Laune, hat eigentlich Architektur studiert, war fünfzehn Jahre ohne Pause in Bauprojekte involviert, hatte Verantwortung für Menschen und Millionen, bis der Körper irgendwann nicht mehr wollte oder konnte und der Arzt ihn vor die Wahl stellte – weniger Arbeit oder früheres Grab, denn der endlose Bau, er hat ihn kaputt gemacht, ihn physisch ausgebrannt, er konnte nicht mehr schlafen, nicht mehr gerade gehen, nicht mal an Autofahren war noch zu denken; bis heute steigt er nicht mehr hinters Steuer.

Doch heute, hier, im schlanken Dienstanzug, da wirkt er ganz in seiner Mitte, und selbst gegen ein Virus ist seine Laune immun: erst vor ein paar Wochen hatte es ihn erwischt (die Pandemie ist aus den Nachrichten, aber nicht aus der Welt), erstaunlich heftig, Fieber, Schwindel, Zahnfleischbluten, und er leidet immer noch an den Folgen, wird sehr schnell müde, sagt er am Ende einer Elfstundenschicht, an Tennisspielen ist gar nicht zu denken. Und dann schmunzelt er wieder.

Er ist glücklich und dankbar, in einem Museum, in einem Palais zu stehen, für zu wenig Geld zu viele Stunden zu machen, nur eines will er nicht mehr: massenhaft berufliche Verantwortung. Wie Clarice Lispectors letzte Heldin will er einfach nur sein, was er gerade ist: grundlos zufrieden. Sogar der Umstand, dass alle Kollegen (auch ich) seinen persischen Vornamen ständig falsch aussprechen, kann ihn nicht aus der Ruhe bringen, im Gegenteil, er wünscht sogar, dass wir die falsche Variante weiterführen, um uns vor Schwierigkeiten zu bewahren.

Es gibt Menschen (nicht wenige), die so ein Maß an Gelassenheit nicht aushalten, es macht sie verrückt, so wie es Macabéas lieblosen Liebhaber völlig irre macht, wenn sie ihm unnützes Wissen aus dem Radio vorträgt, so lange und vergnügt, bis er sie sitzen lässt, natürlich, denn Glück ist überschätzt, und ihre Schöpferin weiß, dass Gerechtigkeit Verrat ist, und deshalb schenkt sie ihrer Heldin am Ende auch den tragisch großen Augenblick, einen filmreifen Abgang aus einer Welt, die sich nicht um sie geschert hat; und trotzdem – trotzdem – entlässt mich der Roman in seinen letzten Zeilen mit einem selten hellen Gefühl, das so unverwüstlich ist, wie das Schmunzeln meines unaussprechlich guten Kollegen:

Nicht vergessen, erst mal ist Edbeerzeit. 
Ja.

Freitag, 31. März 2023

Rand und Reste

Kürzlich kam ich aus dem Kino (ich sah ein strenges Kammerspiel mit Willem Dafoe als kauzigen Kunstdieb, der in einem Luxusapartment ohne Vorräte, aber voller Hochkultur feststeckt, und zwischen Schiele und Fontana den einsamen Robinson geben muss, ein Gemälde von einem Film, doch nicht im ästhetischen Sinn, sondern in der Art und Weise, wie er mich dazu auffordert, etwas darin zu sehen, das Motiv auf mich wirken lassen – oder es besser gleich zu lassen), und weil ich zuvor nichts gegessen hatte und der Film permanent um Hunger kreiste, setze ich mich in die niemals ferne Burgerbude bei der Bahnstation und bestelle mir das nächstgrelle Bild über dem Tresen.

Es ist wenig Platz und nicht viel los; rechts neben mir drei junge, reich geschminkte Frauen, gegenüber, in einer Ecke abseits des Tresens, ein schmaler dunkler Typ in einem blauen Trainingsanzug, der Tisch vor ihm leer. Während ich den anspruchslosen Hunger stille, stehen die Frauen neben mir auf, stellen ihr Tablett mit den Pommesresten in das dafür vorgesehene Metallwägelchen und verlassen den Laden. Nur einen kurzen Moment später erhebt sich der knochige Kerl im Trainingsanzug, und ich beobachte, wie er sich langsam zum Tablettwagen bewegt und prüfend einen Blick in die dunklen Einschübe wirft, bevor er sich mit den zurückgelassenen Essensresten wieder in die Ecke zieht, in der er zuvor gewartet hatte.

Ausgerechnet hier, in einer lieblosen Schnellfressstädte, ist Platz für diese Beobachtung, die in jedem Cafe oder Restaurant der Stadt undenkbar wäre; früher, vor über hundert Jahren, da waren die Kaffeehäuser noch Auffangbecken für die sozial Schwachen, die Randständigen, die Prekären, die den ganzen Tag an einer leeren Mokkatasse nippten, weil es im Kaffeehaus warm war und für alle Platz; heute sind es die austauschbaren Konsumketten mit ihrer wurschtigen Massenmentalität, die das Kaffeehaus als Hort der Unterschicht längst abgelöst haben; heute ist hier der Platz für Hungerleider und Wärmesuchende, für knochige Kerle in zu weiten Trainingsanzügen, die sich ihr Menü selbst bauen, ohne behelligt zu werden, weil sich in den Schnellfressstädten kein Schwein um dich kümmert, und wo du allen egal bist, da wirft dich auch keiner raus, da gibt es keine Kellner, die dich zum Gehen auffordern, keine Gäste, die dich mit Abscheu strafen – hier, bei Billigburger & Co. fressen alle dasselbe und jeder für sich; in gewisser Weise wird ausgerechnet hier die Gleichheit des Menschen besonders deutlich: Niemand isst hier besser als der andere. Bloß konsumieren manche mehr, während für andere nur der kalte Rest bleibt. Aber immerhin dieser.

Mittwoch, 1. März 2023

Skepsis


 

Donnerstag, 23. Februar 2023

Zurück zur Immersion

Der Kollege, über den ich heute schreibe, gehört zu den Menschen, die immer wieder überraschen; sie tun es nicht bewusst, es liegt einfach in ihrer Natur, weil sie eine innere Freiheit ausleben, die sich nicht um Erwartungen schert, sich nicht ständig die Frage aller Fragen stellt: Was werden sie von mir denken?

Sich dieser Frage zu entziehen (oder sie zu ignorieren) ist Größe. Der Kollege ist eine Spur größer als ich, seine Haltung suggeriert immer eine latente Rückenlage, statt des ersten, hat er immer den zweiten Knopf seines Dienstsakkos zugeknüpft, das Aufsichtsschild trägt er gelegentlich verkehrt herum, aber mit Würde. Vor eineinhalb Jahren hat er aus dem Nichts mit der Fotografie angefangen; hat sich eine Kamera zugelegt, einen Kurs besucht, sich Ziele gesteckt – eine eigene Ausstellung, ein Artikel in der Zeitung (einer guten). Er verfolgt seine Leidenschaft mit angemessener Neugier und Ernsthaftigkeit, er kann über Fotografie sprechen wie über die Bücher von Stephen King, und noch in der kürzesten Pause findet er Zeit, mir seine Ansichten zu erörtern.

Vor kurzem hatten wir ein großes Projekt im Palais, ein internationaler Dreh, der über mehrere Tage in den Prunkräumen des Hauses stattfand, und über dessen Inhalte wir zum Schweigen verpflichtet waren (was die Zeitungen und das Internet nicht davon abhielt, zu berichten und zu spekulieren). Mehr als sonst gilt für die Aufsichten in diesen Stunden: Diskretion, Zurückhaltung, Unsichtbarkeit. Ich stehe in einem Raum neben dem Kollegen mit dem fotografischen Gusto, und während des Aufbaus für die nächste Szene flüstern wir über Inspiration. Ich schreibe gerade wenig, sage ich, und frage, wie es bei ihm mit der Fotografie steht. Nein, sagt er ganz selbstverständlich, die Kamera hat er schon seit Monaten nicht mehr in die Hand genommen, es ist auch wichtig, kreative Pausen zu machen. Es klingt ehrlich, uneitel, er ist kein Mann der Posen. Stattdessen, fährt er fort, spielt er jetzt wieder viel PlayStation.

Und wieder ist sie da, die Überraschung, der Gestus eines gut geschriebenen Charakters: Er hat alle neuen Konsolen zu Hause, PS5, XBox One, doch sie sind ihm völlig egal, er spielt doch lieber wieder nur Resident Evil 4 auf der antiken PS2. Nicht trotz oder obwohl die Grafik von damals heute vollkommen klobig, veraltet und überholt ist, sondern genau deswegen. Heute, sagt er, setzten alle Engines auf fotorealistischen Einheitsbrei, doch bei einem Klassiker wie Resident Evil 4 (immer noch das beste Gameplay, sagt er, unübertroffen), da ist die Immersion viel stärker als bei heutigen Hochglanztiteln – eben nicht trotz, sondern weil die Grafik viel einfacher und abstrakter ist und du deine Fantasie aktiv einsetzen musst, ganz nach Shakespeares flammenden Publikumsappell: „Ergänzt mit euren Gedanken uns’re Mängel.“

Wie klar und kindlich begeistert mein Kollege mir seine These erzählt, ich kann nicht anders, als ihm zuzustimmen, und mich selbst über das Paradox zu wundern, weil es stimmt: es ist leichter, mich in eine abstrakte Welt fallen zu lassen, die ich mit meinen Gedanken ergänze, als mich in einer Kopie der Realität zu Hause zu fühlen; im Roman geht mir die Welt der Auslassungen näher als die ermüdenden Beschreibungen prosaischer Raumausstatter; auf der Bühne kann ein Schauspieler mit weißem Shirt, auf dem „HUND“ steht, mir stärker und authentischer erscheinen als der gleiche Darsteller im echten Fellkostüm mit Schwanz und Schnauze. Die Immersion verlangt keine Perfektion, im Gegenteil, die vollständige Versenkung in fantastischen Welten gelingt vielleicht überhaupt nur, wenn sie sich durch gewisse Mängel vom Realismus abgrenzt, um meine Fantasie nicht außen vor zu lassen.

Auch das eine Erkenntnis, die ich meinem überraschenden Kollegen verdanke.

Freitag, 3. Februar 2023

Über das Sitzen

Es genießt keinen guten Ruf in diesen Tagen, es ist verpönt, gilt als Volkskrankheit, wird als „das neue Rauchen“ bezeichnet – nein, im Ernst, das Sitzen hatte schon mal einen besseren Stand. Das ist schade, es ist ungerecht, vor allem aber verfehlt, denn es gibt viele klare und gute Gründe, sich hinzusetzen – schwieriger und existentieller ist dagegen schon die Frage, wofür ich eigentlich aufstehe.

In der Museumsaufsicht ist der Stuhl meine Rettung; die Aussicht, sich setzen zu dürfen, ist unsere ferne Erscheinung um Horizont, das rettende Schiff, das sich minutiös nähert, bis die Hoffnung Anker legt, die Ablöse mich in die Pause entlässt, die Füße entspannen, die Bandscheiben ruhen, für ein paar Minuten nur. Erst das erzwungene Stehen offenbart den wahren Wert des Sitzens, und erst im dankbaren Niederlassen auf den Stuhl wird klar, was er wirklich darstellt – einen Luxus, ein wertvolles, vierbeiniges Kulturgut, für das es sich zu kämpfen lohnt. In der Schule geht die Angst vorm Sitzenbleiben um, doch die härteste Strafe liegt im Stehen: es kann als Demütigung, kann als Folter verwendet werden (gerne kombiniert mit Nacktheit, Kälte, Fessel, Finsternis), kann zur öffentlichen Vorführung, Abwertung, Ausstellung dienen, kann im endlosen Anstehen an den Verstand gehen, bis zum Umfallen und darüber hinaus.

Das Stehen erregt Aufmerksamkeit, es behauptet jede Bühne für sich, doch viele, wirklich bewegende Dinge entstehen im Sitzen. Wird uns Gewichtiges mitgeteilt, sollen wir uns zuerst lieber hinsetzen, denn das Sitzen steht für Intimität, am Stuhl fühle ich mich privat, sicher und beschränkt, während das Stehen nach Größe und Pathos strebt (Ansprachen erfolgen im Stehen, Aussprachen im Sitzen). Sitzend wird geredet, gegessen, gewürfelt und gezinkt; sitzend werden Gesetze unterzeichnet und Geschichten aufgeschrieben, die gesamte Literaturgeschichte wäre ohne der Gegenwart eines Stuhls vollkommen undenkbar, denn jeder Text (auch dieser), jeder Akt des Schreibens beginnt damit, sich hinzusetzen. Der Stuhl ist nicht nur eine gesellschaftliche Errungenschaft des Menschen, er ist auch längst in die Kulturgeschichte eingegangen, von Van Goghs gelben Holzstuhl bis zu den zerschlissenen zwölf Stühlen bei Ilf & Petrow.

Pascal wird der Ausspruch zugeschrieben, alles Übel in der Welt entstehe überhaupt nur dadurch, dass der Mensch nicht ruhig in einem Zimmer sitzen kann. Und vielleicht ist das tatsächlich das Dilemma, der urtümliche Grund, warum das Sitzen heute so schlecht wegkommt: weil Unruhe urmenschlich ist, und die Stunden am Stuhl in ihrer Masse von jedem Genuss und Genius befreit wurden, beschlagnahmt von Kafkas Beamtenapparat, der längst Alltag geworden ist; im globalen Großraumbüro ist der Stuhl keine entspannende Erlösung, keine Hilfe zur Entscheidung, er ist die ergonomische Knechtschaft, die verbiegt und verkrümmt, weil sie aus dem Luxus eine Legebatterie schafft, die sich in der sitzenden Unruhe selbst abstraft. 

Wenn meine Museumspause vorbei ist (und sie ist immer zu schnell vorbei), wenn ich nach diesen kurzen Zeilen wieder aufstehe, mich erhebe, dann fühle ich mich für einen Moment erfrischt, ja, beinahe erholt, in jedem Fall dankbar. Und vielleicht bekäme das Sitzen wieder einen besseren Ruf, wenn wir uns öfter dieser einen Sache bewusst werden: Es ist nicht der Stuhl, der uns krank macht, sondern die Art und Weise, wie wir unsere Zeit auf ihm verbringen.

Sonntag, 22. Januar 2023

Der Postphobiker

Während andere Angst vor der Zukunft haben, fürchtet er, dass alles schon passiert ist. Jedes Mal, wenn er das Radio, den Browser anmacht, sich die Nachrichten ansieht, überkommt ihn die Panik, dass alles, was ihm gerade berichtet wird, nur die Wiederholung einer Vergangenheit ist, dass selbst die vagen Wetteraussichten nur falsche Rückschauen sind, weil in Wahrheit nichts davon live ist, auch wenn es so klingen soll (gerade, wenn es so klingen soll). Seine Angst ist die Krankheit, sein Zweifel das Symptom: Was, wenn nichts in unserer Welt gegenwärtig ist? Was, wenn uns nur vorgegaukelt wird, dass wir im Jetzt leben?

Er glaubt oder fürchtet, dass uns die Vergangenheit nur als Gegenwart verkauft wird, weil die Katastrophen der Zukunft schon längst eingetroffen sind. London könnte längst zerfallen sein, die Arktis geschmolzen, Australien versunken, der nukleare Erstschlag erst ein paar Jährchen her. Er sucht Hinweise in der Sprache, Signale im Radio, verdächtige Störgeräusche, Rückkopplungen, jede knisternde Frequenz heizt seine Paranoia an; natürlich, denkt er, nur die wenigsten wären eingeweiht, die meisten würden wirklich glauben, im vorgegebenen Jahr zu leben, sie glaubten, dass die Nachrichten von dem berichten, was gerade passiert, während er spürt, dass gerade vertuscht wird, was nicht mehr zu ändern ist.

Dummkopf, wird ihm gesagt, warum prüfst du es nicht einfach – reise nach London, flieg nach Australien, überzeug dich davon, dass die Welt noch steht, schau es dir an, mit eigenen Augen; doch für ihn ist das nicht Beweis genug, nein, es reicht nicht, um ihm seine Angst zu nehmen: Wenn er sieht, dass London in Ordnung ist, wer garantiert ihm dann, dass nicht Amsterdam im Argen liegt, der Eiffelturm einstürzt, das letzte Nutztier verreckt, in diesem Moment? Und woher weiß er, dass er nicht bloß durch die Fassade einer Stadt läuft, die im Inneren bereits verfallen und verseucht ist? Um seine Angst wirklich zu überwinden, um wahre Gewissheit zu haben, müsste er hinter jede verschlossene Tür blicken, er müsste an allen Orten der Welt zugleich sein, um sicher zu wissen, dass sie alle noch existierten. Und deshalb macht er sich auf die Suche nach dem Aleph.

Im Zuge seiner Angst ist er auf die Reportagen von Borges gestoßen; in einer berichtet er von einem winzigen Gegenstand, der das gesamte Universum in sich trägt. Fragwürdige Quellen wollen ihm zwar einreden, Jorge Louis Borges hätte phantastische Literatur verfasst, doch er glaubt nicht daran; er denkt, dieser Mann hätte schlicht und einfach zu viel gewusst, denn als einer der wenigen hat er sich getraut, über die Zukunft (also die eigentliche Gegenwart) zu berichten, er hat über das Internet geschrieben, noch lange, bevor es uns zugänglich wurde, und deshalb hat er auch nie den Nobelpreis erhalten, weil sie ihm natürlich keine Bühne bieten, ihn zum Schweigen bringen wollten – zwar könne niemand klar benennen, wer „sie“ sind, doch genau das ist ihre Absicht, weil „sie“ nicht auffliegen wollen, wandeln sie unsichtbar und unsterblich unter uns, wie Homer. Er denkt, dass Borges das wusste; und vermutlich musste er deshalb schleichend erblinden, offensichtlich haben sie ihm die Sehkraft entzogen, damit er nicht mit eigenen Augen die Wahrheit überschauen konnte; doch der Postphobiker will genau das.

Im Bericht von Borges wird das Aleph im Keller eines alten Hauses in der argentinischen Calle Garay entdeckt; zwar wurde das Haus mittlerweile abgerissen, der Gegenstand zerstört – doch wie uns Borges in seiner Schlussbemerkung mitteilt, hegt er die Vermutung, dass ein weiteres Aleph existiert, dass er womöglich das falsche beschaut hatte – es könnte sich im Inneren einer Steinsäule in Kairo befinden (sofern Kairo existiert), es könnte ein Spiegel sein, uns womöglich in menschlicher Form erscheinen. Der Postphobiker geht sämtlichen Hinweisen nach, die der Argentinier ihm hinterlassen hat, denn es ist die einzige, die letzte Möglichkeit, sich von seiner Furcht zu lösen, am Ende über sie zu triumphieren: indem er jenen Gegenstand findet, der ihm alle Ereignisse zu allen Zeiten zeigt, ihm Sicherheit gibt, dass es nie so kommen wird, wie es in seiner Panik bereits ist, ihm endlich all seine Ängste nimmt.

Er sucht ihn bis heute.

Dienstag, 3. Januar 2023

Der Boris-Effekt

Neujahr. Im dichten Nebel dieser imaginären Zäsur, die einen Neustart verkündet, ohne irgendetwas anzuhalten, zurückzusetzen (außer die Kalenderwoche), sitze ich in der kühlen Altbauhöhle und schaue mir den Distelfink an, die Verfilmung von Donna Tartts großem Roman um ein kleines Gemälde, The Goldfinch im Original, ein mit übermäßigen Vorschusslorbeeren bedachter Film, der sofort und tief im Nebel der Enttäuschungen verschwunden ist, an den Kinokassen ignoriert, von der Kritik in seltener Einigkeit vernichtet. Zu Unrecht, wie ich finde: denn der Film ist nicht schlecht, im Gegenteil, Besetzung und Ausstattung sind tadellos, das Drehbuch verknappt an den richtigen Stellen, die Kameraarbeit ist ein einziges Gemälde. Es ist paradox: Normalerweise leiden Romanverfilmungen gerade an den unendlichen Erwartungen durch jene, die ihre Vorlage verehren, doch beim Distelfink beschleicht dich das Gefühl, alle Kritiker, die den Film mit dem Buchvergleich abstrafen, haben Donna Wartts Wälzer niemals gelesen.

Denn im Grunde muss dir der Film leid tun, wenn du das Buch kennst, macht er doch schrecklich offensichtlich, woran bereits der Roman krankte: die seltsame Blässe seines Helden. Denn auch nach über tausend Seiten weiß ich von diesem Theo nicht mehr als seinen Namen; seine jugendlichen Drogenexzesse mit seinem abgeranzten Außenseiterkumpel Boris, sein unüberwindbares Trauma durch den gewaltsamen Verlust der Mutter, sein zwanghaftes Festhalten am titelgebenden Kunstwerk, seine Entwicklung zum kalkulierten Dandy, kalten Ehemann, berechnenden Lügenbaron, all das bleibt bereits im Buch die reinste Behauptung, nichts davon glaube ich ihm – bei all seinen Abenteuern bleibt Theo (wie durch ein Wunder) die langweiligste Figur seiner eigenen Geschichte.

Im Roman wiegt dieser Umstand erstaunlicherweise nicht sehr schwer, weil die Autorin es meisterhaft versteht, mich durch akribische, fast schon obsessive Beschreibungen in ihre Welt zu versetzen, und mehr Wert legt auf die Belebung eines Antiquariats als auf die Lebendigkeit des Antihelden; und weil sie Nebenfiguren schafft, die neben seiner Blässe umso stärker strahlen, allen voran der bleiche (niemals blasse) Boris, der bunteste Vogel und eigentliche Star neben dem Distelfink – über hunderte von Seiten verbannt ihn Tartt gnadenlos aus ihrem Buch, und dann, wenn er nach vielen, vielen Jahren endlich wieder in Theos Leben auftaucht, freue ich mich darüber so ehrlich, so euphorisch, als würde ich einen alten, bereits totgeglaubten Freund nach Ewigkeiten wiedertreffen. Im Film gelingt dieser Effekt nicht; er kann nicht gelingen – wenn Boris auf dem Bildschirm wieder auftaucht, ist nur ein halbes Stündchen vergangen und ein anderer Schauspieler in seiner Haut, einer, der mir meinen Boris wieder aus dem Kopf reißt, ihn mir ersetzen will; aber natürlich kann es nur einen Boris geben.

Über seine filmische Rückkehr freu ich mich nur, weil sie mich daran erinnert, welche unbändige Freude sie während der Buchlektüre in mir ausgelöst hat. Es ist ein magischer, universaler Effekt, den alle Büchermenschen kennen. Der manische Allesleser Alberto Manguel („Ich verstehe mein Leben als ein unablässiges Lesen in den Seiten vieler Bücher“) hat ein ganzes Werk darüber geschrieben, wie uns fiktive Figuren durchs Leben begleiten, uns zu wahren Freunden werden, uns manchmal sogar echter und greifbarer erscheinen als ihre leibhaftigen Schöpfer, die uns nicht weiter interessieren. Der Boris aus dem Buch ist mir ein solcher Freund geworden; seine filmischen Inkarnationen bleiben ferne Bekannte.

Donna Tartts Roman habe ich vor vielen Jahren gelesen, ich war damals noch keine Aufsicht, trug noch nie einen Dienstanzug, doch ich denke heute noch an Boris, wenn ich gute Kollegen nach Ewigkeiten wieder auf Position treffe; und ich frage mich, was dieses blonde Schlitzohr, dieser sympathische Solitär, Gift- und Gurkengenießer, dieses prinzipientreue Phantom wohl heute treibt, ob er für sich Erlösung gefunden hat, ob er noch manchmal seinen berauschten Jugendtagen in der Wüste von Nevada nachtrauert und was er in diesen Tagen wohl fühlt, jetzt, wo in seiner alten Heimat der Krieg herrscht. Boris ist Ukrainer.