Dienstag, 9. April 2019

Der Lahme


Ich stehe am Haupteingang des Fürstenpalais und begrüße und zähle die Gäste. Dieses Wochenende findet die jährliche Kunstmesse im Palais statt, verwandeln sich Sala Terrena und Herkulessaal in enge Labyrinthe zeitgenössischer Kunst, schweben Gemälde in Petersburger Hängung dicht an dicht, wetteifern Galeristen um die großzügige Gunst der Geladenen. Ich kontrolliere die Karten und den Andrang, in jeder Hand halte ich, wie unsichtbar, einen kleinen, metallenen Personenzähler; mit dem einen zähle ich die Gäste, die reinkommen, mit dem anderen all jene, die das Gebäude verlassen. Ich bin kein Türsteher; ich bin die freundliche, manuelle Echtzeitstatistik.

Nach Scharen von Gästen, die kunstsinniger und ausgestellter wirken, als die Ausstellungen selbst, erkenne ich von weitem einen Mann mit Stock, der sich mit seltsamen Schritten über den Innenhof bewegt. Ich beobachte ihn und verstehe schnell: der Mann hat ein lahmes Bein. Mit jedem Schritt muss er es mühevoll nachziehen, jede Bewegung scheint ihm unendliche Überwindung, unfassbare Kraft zu kosten. Zum Haupteingang sind es zwei Stufen – andere gehen sie, er muss sie bewältigen. Für eine Fußstrecke von wenigen Sekunden benötigt er mehrere Minuten (ich zähle sie). Sein Tempo ist endlos langsam, qualvoll langsam, wie man so sagt, weil das reine Zusehen bereits schmerzt. Zumindest rede ich mir das ein, als wüsste ich irgendetwas über Schmerzen.

Wie aufwendig muss wohl jede noch so kurze Strecke für diesen Menschen sein? – Wenn ich nicht gehen kann, ist es unmöglich, es zu versuchen; kann ich aber schlecht gehen, wird jeder Schritt zur Erprobung. Der Gang über den bekiesten Vorplatz, über die zwei knappen Stufen zum Haupteingang – war dieser Weg für den Mann mit dem lahmen Bein ein Triumph oder eine Tortur? Was überwiegt bei ihm – Schmerz oder Ziel? Und wie muss dieser Mensch die Zeit in jeder Bewegung wahrnehmen? Empfindet er wieder wie ein Kind, für das jede Strecke unendlich lang ist, weil es noch so kurze Beinchen und so wenig Gewohnheit und Übersicht hat? Wird jeder Tag für ihn ein Marathon, ein Großereignis, auf das er sich intensiv vorbereiten muss?

Ich hoffe es, irgendwo. Ich hoffe, er spürt jeden Tag den Triumph der kleinen Schritte, den Erfolg, einen Eingang oder eine Kunstmesse erreicht zu haben, einen stolzen, alltäglichen, extremen Erfolg, der ihm ganz alleine gehört, weil er allein weiß, wie viel Mühe, wie viel Überwindung in diesem Erfolg steckt. Ein Erfolg, den weder ich, noch irgendein anderer Gast hier begreifen kann, weil wir alle gesund sind, weil wir nicht lahmen, weil unsere Schritte und unser Tempo selbstverständlich sind. Und was selbstverständlich ist, darüber redet man nicht. Es ist kein Thema.

Für mich ist Marathon die Luxusoption meiner Freizeitgestaltung. Für den Mann mit dem lahmen Bein ist Marathon der unumgängliche Alltag. Und er bewältigt ihn nicht nur; er gewinnt ihn, jeden Tag.

Freitag, 5. April 2019

Zeichen im Sand

Ich lese Mankell. Nicht seine Krimis, sondern den Treibsand, eines seiner letzten Bücher, das Mankell schon im Wissen um die schwere, unheilbare Krankheit niederschrieb, um darin sein Leben festzuhalten. Aber was ist das schon, in der Rückschau, ein Leben? Mit einem Sandbild könnte man sagen: Leben, das ist, was hängen bleibt, wenn man mit beiden Händen in den Sand der Erinnerung fasst und nichts mehr durch die Finger rieselt. Diese übrig gebliebenen, geretteten Sandkörner hält Henning Mankell mit offener Hand fest, während der Krebs seine Lungen zerfrisst.

Als Kind hatte Mankell Angst vor Treibsand; mit der Krankheit, dem Tumor, erinnert er sich zurück an dieses Bild, erlebt die ersten Wochen nach der Diagnose wie ein langsames, aber unentrinnbares Versinken im haltlosen Albtraum. Später, nachdem er sich selbst aus der Angst herausgezogen hat, sieht er im Internet nach und erfährt, dass unser Bild des menschenfressenden Treibsandes nur ein Mythos ist. Eine Geschichte. Mankells Buch ist voll von solchen Geschichten. Eine davon führt ihn auch in meine Stadt.

Mankell war vierundzwanzig, noch unbekannt, unvermögend, ein Schulabbrecher und Tageträumer, als er in einem kalten Winter durch die Kaffeehäuser zog; und dabei, rein zufällig, im Zentrum der Stadt landete und aus verfrorener Neugier eine schwere Pforte öffnet und ehrfurchtsvoll eintritt in die Domkirche St. Stephan. Hier, in dieser Kathedrale, an einem harschen, freudlosen Wintertag, entdeckt der junge Schwede zum ersten Mal was wahre Trauer bedeutet: In der Kirchenbank des Wahrzeichens, eine Reihe vor ihm, sitzt eine schwarze Frau mit schmerzgeballten Fäusten, sichtbar verzweifelt, aufgelöst, am Ende. Mankell beobachtet sie, er hat Mitleid, versucht, sie anzusprechen, in dieser und jener Sprache, er will fragen, ob er etwas für sie tun kann, doch es macht die Frau nur noch unruhiger. Sie steht auf, rennt aus dem Dom, Mankell sieht sie nie wieder. Und doch bringt ihn diese Unbekannte, diese kurze, kleine, tieftraurige Begegnung zu der größtmöglichen Einsicht: „Ohne die Erfahrung von Trauer kann wohl kein Mensch ein vollwertiges Leben führen.“

Vor einiger Zeit saß ich in der Garderobe des Fürstenpalais’ (ich liebe sie, die seltenen, sesshaften Garderobendienste), ich wartete auf die Gäste und las in den Fiktionen von Borges. Plötzlich tritt eine Dame im Pelz an den Tresen, ich hatte sie nicht kommen sehen, war zu vertieft in die Lektüre, lege das Buch hastig weg und springe hoch, erwarte mir einen abschätzigen Blick – doch die Dame lächelt mich an, warm und ehrlich, und während sie ihren Mantel auszieht, gratuliert sie mir: Wie wunderbar zu sehen, dass ein junger Mensch heute noch ein richtiges Buch liest. Als sie später wiederkommt, um ihren Mantel abzuholen, gibt sie mir kein Trinkgeld. Die Dame gibt mir etwas sehr viel wertvolleres: Sie schenkt mir ein Lesezeichen.

Seitdem habe ich es aufgehoben, an meinem Schreibtisch, wie einen Schatz, eine kostbare, geldlose Erinnerung (alle bedeutenden Erinnerungen sind geldbefreit), eine, die man nicht ausgeben kann, die einem nicht durch die Finger geht. Eine Geste, die mir Glauben an die Menschheit schenkt, das Gegenteil von Trauer: Hoffnung. Doch nie habe ich es benutzt, in den letzten Wochen, Monaten; vielleicht schien es mir allzu wertvoll, vielleicht waren die letzten Supermarktrechnungen einfach schneller bei der Hand, ich weiß es nicht. Jetzt lese ich Mankells Lebensgedanken und zum ersten Mal verwende ich das Lesezeichen, das mir die großzügige, freundliche Dame im Pelz geschenkt hat. Und ich schließe meine Lektüre nach dem Kapitel des Kathedralenbesuchs, lege das Lesezeichen zwischen die Seiten und betrachte das Motiv darauf, als würde ich es das erste Mal sehen: Es zeigt den Ausschnitt einer größeren Zeichnung, zeigt den aus der Häuserschlucht herausragenden, spitzkantigen Turm des Wahrzeichens der Stadt, und darunter die Beschriftung: „St. Stephan, Wien“.

Das ist es, denke ich, das ist eines dieser Zeichen, an die man glauben kann, ohne religiös zu sein. In diesem Moment, im Blick auf den Lesezeichenturm, nach der Lektüre des prägenden Dombesuchs, in dieser Sekunde verbindet sich die Erinnerung an absolute Trauer mit der Erinnerung an das absolute Glück der kleinen Geste. Dieser unsterbliche Augenblick verbindet die Erfahrungen und Erinnerungen zweier Menschen, die einander nie kannten und einander nie treffen werden.

Henning Mankell starb im Oktober 2015 an den Folgen seines Krebsleidens. Ich stelle mir vor, diese Verbindung hätte ihm gefallen. Stelle mir vor, sie wäre nicht durch seine Finger gerieselt. Und für ihn und für mich halte ich sie fest, mit offenen Händen.