Mittwoch, 28. März 2018
Dienstag, 20. März 2018
Broschs Dokumente
Einen beeindruckenden Menschen zu treffen, ist wie für einen
Sieg belohnt werden, von dem man nichts wusste. Klemens Brosch, so heißt er, der
Außergewöhnliche, der Manische, dem ich heute begegnen durfte; genauer: seinem
Werk; noch genauer: seinen Dokumenten. Der vielleicht geheimnisvollste, große Zeichner seiner Generation, der seltene Solitär, in dem sich grenzenloses Talent mit
unendlicher Ausdauer vereinten, der Wunderknabe, der schon künstlerisch „fertig“ war, noch ehe ihn die Kunstakademie aufnahm, er trifft mich heute für ganze
acht Stunden Dienst, und es ist keinen Moment zu lang, unser Treffen.
Schon ein erster, kurzer Blick auf seine vollendeten Tusche-
und Bleistiftmeisterschaften, deren Detailgrad stets unglaubhafte Züge annimmt (das
Museum tut gut daran, Lupen für die Ausstellung bereitzustellen: Broschs
detaillierte Grashalmlegionen sind mit freiem Auge nicht zu ermessen), er verdeutlicht, dass Brosch nur die Jahre fehlten, um heute für die Massen zu sorgen und regelmäßige Ausstellungen im In- und Ausland zu füllen. Er könnte heute vielleicht in einem Atemzug mit Ernst und Escher genannt werden, wäre er nur alt geworden, hätte er nur dem jugendlichen
Schaffen ein Haupt- und Spätwerk angehängt; logische, nächste, erfolgreiche Phasen,
hätte er sie nur erlebt – aber was nützt der
Konjunktiv, das Schaffen in Gedanken?
Sein vorzeitiges Ende (was heißt das eigentlich immer – "vorzeitig"? Wann wäre es denn zeitig, zu sterben?) war laut Arztbericht frei gewählt, ich bin nicht überzeugt davon: Selbstmord ist nicht gleichbedeutend mit Selbstbestimmung. Schuld am frühen Ausscheiden aus seinem Leben war der Krieg, dann die Droge, dann erst der
Künstler und Süchtige Klemens Brosch, der mit 32 Jahren nicht mehr konnte und wollte.
Vielleicht hoffte er noch, bis zuletzt, als er sich höchstdramatisch am
Friedhof vergiftete – ich weiß es nicht und muss es nicht wissen. Denn es
stimmt nicht, ich glaube nicht an die Hoffnung. Nicht sie stirbt
zuletzt, sondern das Werk. Und noch lebt es, noch atmet seine letzte
Hinterlassenschaft, die ihm dieser Weltkrieg – der später der Erste sein sollte – auch mit dem Tod nicht nehmen konnte: seine Kunst.
Albert Camus hat es so formuliert: „Man verneint den Krieg nicht. Man muss durch ihn sterben oder durch ihn leben.“ Brosch musste durch
ihn sterben, und das überaus langsam und überaus qualvoll, noch Jahre später
(obwohl er nur fünf Wochen diente) ließen ihn Massaker und Morpheum nicht in
Ruhe, zogen ihn die Bilder und die Ärzte unnachgiebig in die Friedhofserde hinab und nahmen ihm das kurze Leben; doch nur das eine. Sein körperliches Dasein starb mit 32
Jahren, sein künstlerisches aber zeigt mir heute, über neunzig Jahre später, was Camus auf den Existenzpunkt bringt: „Schaffen
heißt: zweimal leben.“
Und vielleicht ist dieses zweite Leben gar nicht in Zeit
bestimmbar, sondern nur in sich selbst, in seiner eigenen, selbstbestimmten
Einheit. Wenn das stimmt, dann war die Maßeinheit von Klemens Broschs zweitem
Leben der Strich. Der harte, leichte, lange, kurze, zarte, helle, schwere, klare, schwarze, unzählbare.
Millionen, Abermillionen von Broschstrichen sind es, die mich an diesem heutigen Tag
treffen, die in Reih und Glied an den Wänden stehen, in unendlicher Ausdauer,
und mir heute zeigen, dass die grenzenlos talentierte, intuitiv erfasste Strichanordnung
gewaltiger und bedrückender und beeindruckender wirken kann als alle
Kriegsfotografien (die Brosch zur Verfügung standen). Seine unglaubhaft
präzisen Zeichnungen von einem invaliden Schuhpaar, von zerfetzten Gliedmaßen im schneebedeckten Wald und
verhungerten Flüchtlingen im feuchten Straßengraben sind mir heute die bisher stärksten Dokumente einer unerklärlichen Zeit, die, vor allem anderen, von Selbstzerstörung
geprägt war.
Klemens Brosch scheint das erkannt zu haben. Und er kam ihr zuvor. Er nahm sich
das eine Leben, und behielt sich das zweite. Er hinterließ seiner Witwe tausend Werke aus sechzehn Schaffensjahren. Und allein die Chance zu haben, ihn hier und
heute wiederzusehen, in seiner ersten posthumen Schaffensschau in dieser Großstadt überhaupt,
hier auf seine strichlierten Dokumente zu treffen, auf die detaillierten, grausamen, schönen und oft phantastischen Zeichenwelten, scheint mir wie der letzte große Sieg des zweiten Broschs. Ein Sieg, von dem der erste nichts wusste, auf den er nicht einmal hoffen konnte – für den er einfach nur
werkte.
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