Samstag, 24. Dezember 2016

Noch ein paar Worte an Camus

„Der Wurm sitzt im Herzen des Menschen“, schreibt Camus. Ich denke, er liegt in der Erwartung. Das Herz pumpt; wie sehr ich es auch belaste, ich lebe bis zum letzten Schlag. Der Wurm der Erwartung aber frisst sich Löcher durch meinen Geist und hindert mich daran, naiv und anonym ins Dasein zu beißen und seinen puren Geschmack zu genießen, weil mich die vielen Wurmlöcher der Fülle berauben.

Woher kommt sie aber bloß, die so konstant keimende Erwartung? Sind meine Eltern, meine Lehrer, meine Vorbilder und Vorgesetzten Schuld an meiner Unfähigkeit, ohne Erwartung an diese oder jene Aufgabe zu gehen? Sind es die omnipräsenten Medien, das schlaflose Internet, deren trügerische Reize eine Vorstellung schaffen, die mein Dasein zwanghaft einlösen muss? Sie alle sind es – jeder einzelne Lebenseindruck löst eine Erwartung an die kommenden Dinge aus. Alles, was ich heute sehe, ändert meinen Blick auf morgen; die Erfahrungen und Eindrücke überkommen meinen biegsamen Körper und zwingen mich in eine steife, krampfhafte Erwartungshaltung, die mich am vorbehaltlosen Genießen hindert. Lese ich einen soliden Abenteuerroman wie Goulds Buch der Fische mit der abstrusen Erwartung, ein neuer Ulysses zu sein (weil es der Klappentext suggeriert), so werde ich schon nach wenigen Seiten von dem Buch enttäuscht werden. Lege ich verbindliche Hintergedanken in ein neutrales Gespräch mit der anziehenden, jungen Kollegin (weil ich konditioniert wurde, mehr zu wollen), stehe ich meiner schönen neuen Vorstellung selbst im Weg. Gehe ich in den Silvesterabend mit der erwartunsgetränkten Einstellung, eine unvergesslich legendäre Nacht erleben zu müssen (weil es der Brauch vorgibt), wird aus Vorfreude Druck, aus Spiel Arbeit, aus Möglichkeit Überforderung.

Die Wurmlöcher der Erwartung sorgen überall für Leere und Enttäuschung; mehr noch, sie sind sogar deren Voraussetzung: Es kann nur enttäuscht werden, wo Täuschung vorherrscht. Und die Erwartung selbst ist die stärkste Täuschung, ihre verkrampfte Haltung eine durch und durch unnatürliche, ungesunde, die schmerzvolles Leiden verursacht. Ein Dasein ohne Erwartung ist der einzige Weg zur Linderung – weg von der krankhaft künstlichen Haltung, dem unaushaltbaren, mentalen Druck, dessen Motor ich an allen fremden Mündern und Medienkanälen festmachen kann, und der doch nur aus mir selbst kommt und von mir selbst betrieben wird. Ich bin das Perpetuum Mobile der Täuschung, eine niemals erfüllende Erwartung an mich selbst, ich bin der Wurm, der an mir nagt und mich am Genießen hindert, weil ich gelernt habe, Ziele erreichen zu müssen.

Tag für Tag wird mir umso klarer, wie weit meine Erwartungen von der Wirklichkeit entfernt sind. Die Erwartung an mich, einen Text zu verfassen, der dieses Gefühl in befriedigende Worte fasste, hindert mich seit Wochen, diesen Text überhaupt erst anzufangen. Es ist unmöglich, mein selbst auferlegtes Ziel jemals ganz zu erreichen – dieses Wissen muss ich mir tagtäglich vor Augen halten und alles andere fortziehen lassen. Um den Wurm in der Erwartung zu vermeiden, darf ich die Erwartung gar nicht erst festhalten. Hat der, der den Stein auf den Berg rollt, je Erwartungen an seine Aufgabe gestellt? Er weiß, er wird sein Ziel niemals erreichen – wie könnte er Gefahr laufen, sich wurmstichige Erwartungen zu machen?

Den groben Unsinn in allem Streben zu erkennen, naiv und unbeschwert an jede Aufgabe zu gehen, ohne jemals zu vergleichen, zu werten, zu erzwingen oder nachzuahmen – das ist, wonach mein Geist sich sehnt. Den Wurm entdecken, bevor er sich ins Leben beißt, ihn zu neutralisieren, ehe er meinen Kopf anfault und die Fäulnis mich am Genießen hindert. Denn ohne Genuss ist jeder Tag nur eine Angelegenheit, die nicht aufgeschoben oder beschleunigt werden kann. Nicht mehr, nicht weniger.

Der Tod der Erwartung ist die Geburt des Erlebens. Ihre Stätte wird der Moment sein, der sich selbst genügt, der unbezwingbare Berg, der keine Enttäuschung kennt, weil das Ziel unsinnig ist. Dort – und nur dort – wird das Glück ins Rollen kommen; wo die Erwartung aufhört, fängt das Leben an.

Freitag, 23. Dezember 2016

Unpassende Worte

Die letzten Absagen an meine Textangebote waren ungewohnt freundlich, aufbauend beinah. Aus obligater Formalität sprach durchaus Interesse und Faszination, allein das Bedauern überragte, mein Schreiben passe leider nicht hinein. Es ist, wie ich mich fühle, wenn ich einen Schritt vor die Tür setze – ich passe nicht in das anonyme Treiben auf der Straße, nicht neben die variierenden Kollegen im Dienst. Nirgendwohin. Ich habe ihn noch nicht gefunden, den Ort, an dem ich das Gefühl hätte, in stolzer Haltung und mitsamt meinen präzisen Denkmaßen vollständig hineinzupassen. Wo auch immer ich bin, sehe ich Menschen, die ihrem alltäglichen Handeln seltsam entsprechen, die wirken, als hätten sie schon von Geburt an gewusst, sich einmal im knielangen Faltenmantel vor den Universitätstoren auf die Stufen zu setzen, eine unansehnliche Zigarette zu drehen und dabei die Beine übereinander zu schlagen, um ihre bunten Ringelsocken zu betonen. Als hätten sie schon von Geburt an gewusst, sich nur schwarz zu kleiden, Gitarre zu spielen und sich die Haare bis zum Brustbein wachsen zu lassen, um sie vor dem nächsten Auftritt zum Pferdeschwanz zu knoten. Als hätten sie immer schon gewusst, im weißen Kittel hinter einer Verkaufstheke zu stehen und die gewünschten Tabletten aus einer Lade zu nehmen und lächelnd einen schönen Tag zu wünschen, während die Augen bereits an den Dienstschluss denken. Es ist seltsam, wie, von außen betrachtet, alles in der Welt so unabänderlich ineinander zu greifen scheint und jeder Mensch in seine Aufgabe passt, als gäbe es nur Idealbesetzungen im Schauspiel der Welt. Alle passen in ihre Rolle, bis auf den Fremdkörper, der ihnen bei ihrer stillen Entsprechung zusieht; einen Seitwärtsschritt daneben, gezwungenermaßen, mein Bewusstsein passe leider nicht in ihre Mitte. 

Ich blicke noch einmal auf die letzte Absage und das freundliche Bedauern. Meine Worte sind natürlich unpassend – sie sind von mir verfasst.

Sonntag, 11. Dezember 2016

Gefühl in Lila

Ich sitze im Erinnerungsspeicher meines Kinderzimmers, tief gebeugt über den buchenen Schreibtisch, und versuche das Gerippe eines Textes mit ein wenig Leben zu umfüllen. Der lilafarbene Stift überarbeitet den Mittelteil meiner Geschichte, ein rückblickendes Beziehungsgeflecht zweier junger Menschen; eine Stelle scheint mir noch sehr unvollständig, löchrig, doch schon fliegt mir der entscheidende, der wichtige, der eine Satz zu; der Satz, der ihre gemeinsame Vergangenheit ohne Wertung, ohne Belehrung auf den endlichen, allumfassenden Punkt bringt.

In dem Moment wird die Zimmertür aufgestoßen, schon an der Schwelle höre ich die Stimme meiner Mutter, das Mittagessen sei längst fertig und alle warten schon auf mich, der Kleiderschrank wird aufgerissen, die gebügelte Wäsche hineinsortiert, schnell und geschäftig, alles noch während sie spricht, und dann erst dreht sie den Kopf zum Schreibtisch und sieht mich an, erkennt plötzlich, was ich tue und verzeiht die Störung; es ist zu spät. Der entscheidende Satz ist mir längst wieder entschwunden.

Als ich aus dem Traum erwache, bleibt nur das Gefühl, etwas Wichtiges verloren zu haben, das nie wiederkehren wird, ein lilafarbenes Gefühl der Unruhe und Widersprüchlichkeit, sowie die stille Vorgabe, darüber zu schreiben.

Donnerstag, 8. Dezember 2016

Der Hochzeitssänger

Ich begegnete ihm bereits öfter, das letzte Mal bei einer russischen Hochzeit im Palais des Fürsten. Man erkennt ihn sofort an seinen Augen, die all das vorwegnehmen, was nie aus ihm geworden ist. Er präsentiert sich gut gekleidet, aber nicht sehr, er trägt glänzende Schuhe, aber keine hochwertigen. Er lächelt viel und breit, doch er hat wenig zu lachen. Er ist selten sehr alt, aber niemals noch jung.

Ich stelle mir vor, er hatte einmal einen Traum; keinen ideologischen, weltumspannenden, bedeutsamen Traum, aber immerhin einen persönlichen, festen, an den er wahrhaftig und hoffnungsvoll glaubte, noch ehe er Wörter wie „Sozialversicherung“ oder „Zynismus“ kannte. Er wollte Sänger und Musiker werden, wie andere Fußballer oder Autor werden möchten. Er hatte Talent, nur eben geringes, er zeigte Disziplin, nur eben zu selten. Und doch gab er den klaren Vorzeichen niemals nach, ließ sich von der übermächtigen Konkurrenz nicht beirren und hielt den eiskalten Traum so lange in der Hand, bis er hinweg schmolz und ihm zwischen den Fingern zerrann und einen inneren, winzig-abstrakten Restbestand freigab, das traurige Fossil des Traumes, von dem selbst Experten nur mutmaßen können, was er einmal darstellte.

Er hätte den Traum rechtzeitig loslassen können und sich an etwas anderes, wärmeres klammern, er hätte ganz neu anfangen können, hätte etwas lernen können, das allgemein akzeptiert und annehmlich bezahlt wird, er hätte leise aufsteigen und langweilig leben können, auf Schiene fahren, statt am Bahnhof zu schlafen; er tat es nicht. Er lebt den astronomisch kleinen, radikal abgeschwächten, letzten Rest an Traum, der sich ihm anbietet, er hält sich fest an dem unansehnlichen Wurmfortsatz des einstigen Wunschorgans, er steht auf der heute errichteten und morgen schon abgebauten Bühne, die wie sein Traum auf lächerliche Größe zusammengeschrumpft ist.

Er geht beständig gerade aus, aber er geht rückwärts; er ist das fleischgewordene Symbol des Scheiterns, der heimliche Schutzpatron all jener, die es nicht geschafft haben, aber sich dank ihm ein kleines bisschen besser und sicherer und weniger allein fühlen dürfen. Er gibt Hoffnung, ohne es jemals zu erfahren. Er wird geliebt, aber nur für ein paar Stunden, und manchmal, für eine Zugabe. Er ist die Lebensgeschichte, die nie erzählt wird, das Monument, das nie errichtet wurde, der Minnesänger, der sich im Jahrhundert vertan hat. Er ist viele und er existiert – und auch in mir steckt bereits eine Ahnung seiner glänzenden Gestalt.

Ich fühle mit ihm, in jedem seiner lächelnd vorgetragenen, fremden Evergreens.

Sonntag, 4. Dezember 2016

Über Ästhetik

Ein Märchen: Es lebte ein Künstler, der wollte nicht sterben. Er wollte ein Kunstwerk schaffen, das ihn unsterblich machte, das die Zeit überdauerte, weil es alle Völker entzücken und alle Generationen ansprechen würde. Er dachte: Was mögen alle Menschen? Liebe. Er dachte: Was mögen die Menschen noch? Gold. Er kombinierte das eine mit dem anderen und schuf damit das schönste Bild der Welt.

An einem Sonntag stehe ich neben dem Bild und darf es über die nächsten acht Stunden bewachen. Ich bin das erste Mal auf der goldenen Position im ersten Stock und spüre schon von fern das stampfende Dröhnen der Touristenherde. Alle kommen sie ins Museum, um dieses eine Bild zu sehen, die Schönste der Schönen, das Bild der Bilder, das selbst nicht so recht zu wissen scheint, warum es so berühmt ist. Fast schon peinlich berührt hängt es da, allein auf einer breiten, schwarzen Wandseite, bedeckt von einer schamvollen Glasschicht, die doch nichts verhüllen kann und jeden Auktionsdollar unfreiwillig preisgibt.

Ich stehe zwischen Bild und Tür, halte die Herde auf Abstand und tue das, was der Arbeitsauftrag verlangt: Verbote aussprechen. Ich bin ein negatives Hinweisschild mit Sprachfunktion, eine interaktive, notwendige Hausordnung, weil ich dem modebewussten Museumsraum in meinem schwarzen Dienstanzug besser stehe als eine hässlich rote Wandtafel. Zumindest ist das die Meinung der Direktorin, was wiederum zu vielen, unnötig hektischen Momenten führt – in allen Ausstellungsräumen herrscht striktes Fotografieverbot, doch nirgendwo wird darauf hingewiesen.

Die Lösung mit den Dienstanzügen ist deshalb bloß eine halb durchdachte, unsere Anzahl eine zu geringe, um die Schnappschussprohibition in allerletzter Konsequenz zu verfolgen. Denn auf allen Seiten und in jeder Herde gibt es sie, die Kamerablitzer und Momentaufnehmer, die ihre mobile Technik hochhalten und draufhalten, weil – ja, weil sie es eben können und nicht besser wissen. Obwohl ich immer noch nicht ganz begreifen kann, weshalb jemand ein Kunstwerk fotografiert, wenn es doch direkt vor ihm steht, und sich ohnehin viel ergiebigere Fotobeute im Netz findet, so kann ich  allein aus Advokatensicht – niemandem den Klick verübeln. Ein Verbot kann nur verletzt werden, wenn es auch bekannt ist.

Nur darin liegt der Fehler. Ich muss ahnungslose Weltenbummler und arbeitende Familienurlauber auf frischer Tat ertappen, ihnen von hier, von dort die Wörter entgegenbrüllen und wie ein Albtraum auf sie zuschreiten. Meistens natürlich ist da nichts dabei, aber dennoch – wer kann mir mit Gewissheit sagen, ob es nicht an dem einen oder anderen kurzfristig nagte? Denn immerhin mache ich sie auf ein Vergehen aufmerksam, von dem sie nicht wissen konnten, weil sie nie gelernt haben, Schilder zu deuten, die nicht da sind. Mit jedem automatisch bestürzten Zwischenruf und jeder ausgestreckten Hand vor die Kamera gebe ich ihnen das Gefühl, eine Tat begangen zu haben. Es ist ein unangenehmes, unnötiges Gefühl, eines, das du im Urlaub nicht erleben möchtest, das zur irritierten Ahnung des Nichtwillkommenseins führt, das vielleicht den gesamten Museumsbesuch in ein schlechtes Erinnerungslicht setzt, das von sensiblen Seelen womöglich sogar einen ganzen halben Tag abnagt. Und so geht es mir bei jeder Schicht in den Stockwerken der kulturellen Goldquelle, weil die Direktorin keine verunreinigenden Schilder in ihrer sauberen Quelle erduldet.

Ich mache ganze Heerscharen von Touristen, Urlaubern, Studierenden und Familienmenschen zu überrumpelten Halbtagstätern, einzig und allein aufgrund des ästhetischen Empfindens einer Einzelperson.

Freitag, 2. Dezember 2016

Das geheimnisvolle Gartenwerkzeug

Bin ich nicht im Museum, bewache ich das barocke Gartenpalais einer Fürstenfamilie, das heute regelmäßig für Firmenfeiern, Festmahle, Pharmapräsentationen und forcierte Märchenhochzeiten besetzt wird. Die Türen aufhalten, Auskünfte erteilen, Zwischenfälle funken, leere Getränke vom Sandstein entfernen und achtlose Oberschichtler davon abhalten, den Exponaten der Fürstenfamilie zu nahe zu treten – das sind die aufblitzenden Glanzlichter meiner Tage und Nächte in dem privaten Weltkulturgebäude, das mir nach Monaten zum zweiten Wohnzimmer geworden ist.

Heute scheint es endlos. In den pompösen Saallandschaften, in denen ich meinen einsamen Dienst vor mir her spaziere, verebbt die Zeit wieder einmal zu einem festen Klumpen, als hätte jemand vom Catering einen Schuss Sodawasser ins Stundenglas gekippt. Während im ersten Stock eine laute Veranstaltung im Gang ist, verbleibe ich auf meiner festen Erdgeschossposition und bewache sinnfrei die leeren Quadratmeter der Sala Terrana, einem zugebauten, cremeweißen Innenhof, dessen Wände und Decken überrannt sind von unfassbar aufwändiger, sinnfreier Kunstmeisterschaft.

Allein auf weiter Flur, lasse ich den Blick schweifen, vorbei an Sandsteinsäulen und Marmorstatuetten, den Kopf hebend, bis die Augen an die Decke gehen und der Blick hängen bleibt an einem von zahlreichen Deckenbildern. Ein mäßig konserviertes Fresko, darauf zwei liebreizende Frauen in zartrosa-fliederfarbenen Gewändern, die Brüste unmotiviert entblößt. Gemeinsam sitzen sie auf einer felsartigen, erstarrten Wolkenformation in seltsamer Pose – die vordere deutet mit dem rechten Zeigefinger ins Leere, während die linke Hand eine blecherne Gießkanne umfasst, die leicht versetzte Hinterdame stemmt eine massive Gartenschere in den Himmel.

Zum ersten Mal fällt mir dieses Fresko bewusst auf, zum ersten Mal habe ich die Zeit, meinen Blick an der Decke festzuhalten, das Motiv in aller Ruhe und Detailliertheit zu betrachten. Und sofort wachsen die Fragen aus dem Blick: Wer sind die beiden barbusigen Damen? Warum schweben sie flügellos auf den Wolken? Zu welchem Zweck hat der Barockkünstler den ominösen Zeigefinger da Vincis kopiert? Wohin soll der Finger deuten, wenn er nach außerhalb des Bildes zeigt? Und weshalb posieren die Damen mit diesen banalen Gartenwerkzeugen? Sind sie symbolisch aufgeladen? Ist die Venuskanne gefüllt mit dem Regen der Fruchtbarkeit, der auf die Erde prasselt? Ist die salomonische Schere das Instrument der Rechtsprechung, das zur Vernunft aufruft? Oder ist sie die Richterin, die das menschliche Band durchtrennt? Und wenn ja, welches Band? Hat der verschmitzte Künstler in dieses unscheinbare Barockmotiv eine latent-lesbische Variante des Garten Eden gepinselt, das zartfliedern über der groben, kaputten Männerwelt schwebt? Zerschneidet die Gartenschere das traditionelle Band der Hetero-Ehe und begießt die Kanne deren Tod? Oder (langweiliger, weil naheliegend) verweisen die Werkzeuge einfach nur auf den barocken Garten, der hinter den Palaismauern anfängt? Und wie viel weitere, geheimnisvolle Geschichten stecken hinter diesem Motiv, von denen niemals jemand erfahren wird?

Langsam kommen die Gäste über die Prunkstiege hinunter, die Veranstaltung verlagert sich ins Erdgeschoss, dekadente Dessertteller werden gereicht, Raucher wagen sich für eine frierende Zigarette auf die Gartenterrasse, die Sala Terrena füllt sich mit jeder Minute. Ein Saal voll zufriedener, gutgelaunter, sichtlich erfolgreicher Menschen, alle fest im Leben stehend, den überzeugten Blick steif und klar nach vorn gerichtet.

Dienstag, 22. November 2016

Montaignes Traum

Die neue Woche beginnt mit Sehnsucht. Seltsam beseelt von einem mitreißenden Traum, der an den letzten Luc-Besson-Streifen erinnerte, scheint mir das Aufwachen selbst wie eine Niederlage. Trägheit überkommt meinen Körper und jeder Versuch, zurück in den Traum zu finden, scheitert an der Zerstreuung des Erwachens, dem steinernen Zustand zwischen Nacht und Tat. Je länger ich liegen bleibe, desto mehr sehne ich mich nach der Fortsetzung des Films, zurück an die Seite jener hollywoodschönen Fremden, der ich durch die wilde, vorwärts peitschende Handlung folge, die an allen Ecken mit überbordenden Ideen aufwartet, und in jeder Wendung schon die nächste steckt, "–– gerade noch deutlich genug, um mich zur quälenden und aufreibenden Suche nach dem Entschwundenen anzutreiben. Vergebens." Montaigne nahm die Worte vorweg, die mich regelmäßig überkommen, stupsend und piksend, als wollten sie mir vorführen, wie übermächtig der Traum ist, der meine schwache Erinnerung an ihn verlacht.

Der Traum kennt keine Leerstelle, er überschwemmt mich mit Ereignis und Überraschung, erlaubt mir, über müden Zweifeln und faulem Zaudern zu stehen. Im Traum bin ich stets munter und involviert, agiere mit dem Selbstvertrauen des Hauptdarstellers, während ich im Wachen wieder zurückfalle in die gefühlte Statistenrolle, wartend und uneingeweiht, fern von dem spannenden Geschehen, träge und voll Sehnsucht, aus der Rolle auszubrechen; stets sehne ich mich danach, etwas möge passieren, aber nicht an mir vorbei, sondern in mir und mit meinem Tag. Im Traum geht immer etwas weiter, weil immer etwas in Bewegung ist, während ich im Alltag stets neue Varianten des Stillstands erlebe.

Die Trägheit des Tages weicht nur langsam von mir, das Frühstück, die Dusche, alles Dinge, die mir wie ein Aufschub erscheinen; ein ängstliches Hinauszögern des Beginns einer neuen Woche, die ein neues Kapitel sein könnte. Wenn ich mich nur getrauen wollte, wenn ich wohl die Kraft hätte, weiterzublättern, anstatt das gleiche Kapitel immer wieder neu zu lesen.

Ich unterdrücke ein Gähnen, weil ich gewöhnt bin, es zu tun, doch es ändert nichts an der Sehnsucht. "Wir wachen schlafend, und schlafend wachen wir" – wie sehr fühle ich die Worte Montaignes, wie sehr möchte ich ihm etwas entgegnen, diesem gelassenen Franzosen, der sich mit seinen Gedanken über die Pest erhob und noch klar und offen ins Heute spricht.

Ich wollte endlich aufhören, jeden Morgen müde zu sein und mich nur einmal wach fühlen, so wach, wie ich es jede Nacht im Traum bin – diese unstillbare Sehnsucht, eines Morgens aufzuwachen und den Traum nahtlos weiterzugehen, munter und involviert.

Freitag, 18. November 2016

Erinnerung eines grauen Tages

„Wenn man nackt mit Lichtgeschwindigkeit um einen Baum rennt, kann es durchaus sein, dass man sich selbst fickt.“

Diese Worte lese ich auf einem folierten A4-Blatt, das in der Fensterscheibe eines fragwürdigen Cafés aushängt. Weiße Schrift auf grobflächiger Druckerschwärze, daneben das bekannte Porträtfoto Albert Einsteins, und unter diesem Satz noch ein Kommentar, der nahelegt, die Wahl einer bestimmten politischen Partei führe zu selbigem Ergebnis. Es ist ein kalter, unwirtlicher, durch und durch schlaffer Tag, die Stadt probiert unentschlossen Grautöne durch, ich flaniere die breite, dreckige, laute Straße hinunter und nichts scheint es wert, meine Aufmerksamkeit zu erhalten, außer diese dämliche, infantile Anti-Erkenntnis, die aus der austauschbaren Umgebung heraussticht und ein seltsam bedeutsames Detail bildet, das sich in mir widerhakt.

Es ist idiotisch, es ist sinnlos, es ist tief in meinem Kopf, wie eine unvergessliche Gedichtzeile, die nichts aussagt und doch alles bedeuten kann. Ich habe nichts vorzuweisen an diesem grauen Tag, außer der festhaltenden Erinnerung an dieses Bild, an die infantil dämliche, relativ poetische Verknüpfung der Selbstkopulierung mit den Lehren Einsteins.

Dienstag, 15. November 2016

Rollenspiele

Während einer der vielen Stunden meiner letzten, von der Zeit befreiten Museumsschicht, gleite ich langsam hinüber in das zittrige, ferne Land der Imagination und erdenke mir folgende Geschichte.

Ein junger Mann, der in der Museumsaufsicht arbeitet, kommt zu spät zum Dienst. Sein Vorgesetzter, ein verschwitzter Gorilla mit Zuhältergestus, beschimpft ihn wüst und macht mit groben Worten klar, er solle diesmal besser auf das Fotografieverbot achten. Der junge Aufseher, nervös und verunsichert vom rauen Ton seines Chefs, verspricht Besserung und arbeitet besonders motiviert an diesem Tag. Er schickt Touristen mit Rucksack in die Garderobe, er unterbindet Fingerzeige auf die Kunst, er macht sämtliche Fotoversuche zunichte. Er sieht alles.

Plötzlich steht eine zierliche Asiatin vor einem besonders wertvollen, wandfüllenden Gemälde und hebt ihre Hände. Der junge Aufseher, der seine Kontrollrunde macht, sieht die Dame von Weitem und glaubt, eine blitzende Kamera in ihrer Hand zu erkennen. Laut brüllend stürzt er zu ihr, um das Foto zu verhindern; doch es kommt nicht mehr dazu. Die Asiatin hat das Handy fallen lassen und liegt reglos daneben. Ihr ist vor Schreck das Herz stehen geblieben.

Jahre später ist der junge Aufseher kaum noch jung und hat schon lange die Stadt gewechselt. Zerfressen von seiner Schuld am Tod der Touristin, lebt der Mann allein und zurückgezogen, verfolgt einen Beruf ohne Menschenkontakt, und hat seit dem Zwischenfall nie wieder ein Museum betreten. Ohne aktives Zuwirken lernt er eines Tages eine Frau kennen, die es schafft, ihn aus der Lethargie zu reißen. Sie weiß nichts von seiner Vorgeschichte, sie interessiert sich nicht dafür, sie will und liebt ihn, wie er heute ist. Sie werden ein Paar. Er ist glücklich.

Eines Tages gehen sie gemeinsam ins Kino. Sie schauen einen Film über einen jungen Museumsaufseher, der zu spät zu seiner Schicht kommt. Sein Vorgesetzter, ein verschwitzter Gorilla mit Zuhältergestus, beschimpft ihn grob und befiehlt, diesmal besser auf das Fotografieverbot zu achten. Der junge Aufseher wirkt verunsichert und will seinen Job besonders gut machen, da sieht er plötzlich eine zierliche Asiatin vor dem wertvollsten Gemälde, die dabei ist, ihre Kamera zu zücken. Er stürzt brüllend zu ihr hin, um sie am Foto zu hindern; doch es kommt nicht mehr dazu. Vor Schreck hat die Frau einen Herzinfarkt erlitten und liegt reglos am Museumsboden. Jahre später ist der junge Aufseher kaum noch jung und lebt in einer neuen Stadt, allein und zurückgezogen, meidet Menschenkontakte und Museumsräume. Ohne aktives Zuwirken lernt er eine Frau kennen, die es schafft, ihn aus der Lethargie zu reißen. Er ist glücklich. Eines Tages gehen sie gemeinsam ins Kino, setzen sich in einen dunklen Saal und starren gebannt auf die Leinwand.

Plötzlich geht das Licht an, Applaus hallt durch den Kinosaal, das Publikum steht auf und alle Köpfe drehen zu dem ehemaligen Museumsaufseher, der in ihrer Mitte sitzt. Und er begreift, dass er der Hauptdarsteller ist, der gerade die Premiere seines eigenen Filmes gesehen hat. Er war so sehr in seiner tragischen Rolle versunken, dass sie im Kopf zu seiner Wirklichkeit geworden ist. Er wird vor die Leinwand geholt, und die Frau, die ihn glücklich gemacht hat, steht plötzlich neben ihm, sie reicht ihm einen Blumenstrauß und haucht ihm anerkennend ins Ohr, während der Applaus anhält: "Die Rolle deines Lebens ..."

In dem Moment reißt mich ein Funkspruch aus den Gedanken, und ich bin schlagartig zurückversetzt in die reale Ausstellungswelt, ich bin sofort wieder der mannshohe Sicherheitshinweis im dunklen Anzug, bin die Aufsicht, die in der Ecke steht, die vielen Gäste überblickt und nicht sitzen darf, niemals sitzen darf.

Samstag, 5. November 2016

Borges hatte recht

Wenn es einen Schriftsteller gab, der die widersprüchlichen Wirren der Netzkultur und ihres labyrinthischen Spielplatzes schon am Papier vorwegnahm, dann war es der Argentinier Jorge Louis Borges. Das Internet (das andere auch das Universum nennen) ist im Grunde nichts weiter als ein praktisches Update seiner babylonischen Bibliothek, die alle Bücher in sich vereint und jeden Text enthält, der je geschrieben wurde und je geschrieben wird.

Borges’ Gedankenspiele der Unendlichkeit, der anfangslosen Traumsphären und gebrochenen Spiegelwelten, sie finden ihre Praxis im geschäftigen Treiben des globalen Hyperspace, der weder Anfang noch Ende, weder Zentrum noch Randzone kennt. Jeder und jede darf den digitalen Spielplatz betreten, ihn benützen und seine Parolen hinterlassen – jeder Gedanke, der vorstellbar ist, kann seinen Weg ins Netz finden.

Das Erstaunliche daran ist, dass mir die Netzinhalte dennoch auf so tragische Weise limitiert erscheinen. Im Lesen stolpere ich immer wieder über die ewig gleichen Textmuster, die dem Labyrinth seinen ewig gleichen Anstrich verpassen und die Unendlichkeit mit Austauschbarkeit überziehen. Vielleicht haben wir, die User, noch nicht gelernt, besser und individueller mit dem Internet umzugehen. Vielleicht sind wir einfach nicht dazu fähig.

Borges hatte recht, als er meinte, die eigentliche Freiheit liege nicht im Schreiben, sondern im Lesen – denn lesen kann ich, was immer ich möchte, aber schreiben kann ich nur, wozu ich fähig bin. Ich schreibe, weil ich nicht anders kann, in der Abhängigkeit meines endlichen Wissens, meiner beschränkten Weltsicht und unbewussten Vorurteile, die jedes Resultat im persönlichen, kleingeistigen Zaun halten. Zu lesen aber bedeutet, aus dem Repertoire aller beschränkten Schreibenden schöpfen zu können und mir auszusuchen, was ich mir davon aneignen möchte. Sieg oder Niederlage liegt allein in der Auswahl; sie zu treffen belastet oft schwerer als jede körperliche Mühe. Es ist seltsam, seltsam und mühselig, heraus zu finden, was mich ohne Vorbehalte interessiert und zum Auslesen zwingt. Jede Wahl ist eine Suche und jede Entdeckung eine Leistung. Inmitten der grenzenlosen Bibliothek, der immergleichen Parolen in Print oder PDF, Buch oder Blog, einen Text zu finden, ihn zu lesen, zu begreifen und – über allem – zu genießen, das ist, in der Tat, ein unendlich gewichtiger Erfolg. Einer, der ganz allein mir gehört.

Ich habe einen Buch- oder Hypertext gelesen, der mich für zwei Sekunden erfüllt: Ich habe es geschafft, einen Text unter allen Texten zu finden, ich habe im genussvollen Lesen etwas geleistet, weil ich ganz allein auf diesen Text gestoßen bin und mir das Gefühl nach der Lektüre selbständig erarbeitet habe, dieses genussreiche Gefühl der Klarheit, für einen kurzen Moment außerhalb des Labyrinths zu stehen. Das ist Arbeit, und vielleicht eine der schwersten: bedingungslos zu genießen. Jedes gute Gefühl ist eine Leistung, die nur selten zu erbringen ist.

Ich stelle mir vor, der schüchterne, geniale Argentinier hätte ähnlich gedacht. Borges hielt das Genießen für noch wichtiger als das Schreiben – und auch hierin hatte er recht.

Freitag, 4. November 2016

Relationen (VI)

Ein guter Autor kann einen Feldhasen über eine ganze Seite beschreiben. Ein sehr guter Autor kann einen Feldhasen mit einem Satz beschreiben.

Montag, 31. Oktober 2016

Herbst

Es ist Herbst. Ich warte auf die Straßenbahn, zittere und friere wie gewohnt und reibe mir die erkalteten Hände. Und dort, neben mir, steht ein Mädchen, eine junge Frau, präziser, und ich kann nicht anders, als schamlos auf ihre Fußknöchel zu starren. Sie trägt flache Sportschuhe, helle, beinah unsichtbare Füßlinge und diese figurenbetonten, hautengen Jeans, deren Hosenbeine immer eine Spur zu kurz sind, bewusst zu kurz (oder aufgebogen). Dadurch entsteht eine gewollte Lücke, ein Stück perfekter, nackter Haut zwischen den unsichtbaren Halbsocken und der zu kurzen Hose – knappe zehn Zentimeter pure Nacktheit, die mich wieder und wieder in den Bann schlägt und fassungslos zurücklässt.

Es scheint mir wie eine gezielte Kampfansage, ein Zeichen der offenen Rebellion inmitten von verhüllten Stiefel- und Strumpfmenschen, das verbindende Element eines empfindlosen Frauentypus, deren stilsicheres Modebewusstsein über der Saison steht. Es ist Herbst, und egal, wohin ich gehe, überall begegnen mir diese gefühllosen, jungen Menschen, die mir ihre nackten Knöchel präsentieren, als wüssten sie nichts von Jahreszeiten oder Temperaturstürzen. Immer wieder haftet mein Blick auf diesen spannenden, unheimlichen, nackten Zentimetern über ihrem Schuh, und immer wieder lässt er mich ungläubig zurück, weil ich nicht begreifen kann, dass diese jungen, barknöcheligen Frauen einfach nicht frieren wollen. Wäre allerdings das Gegenteil der Fall, ja, falls ihnen in dieser Mode tatsächlich kalt ist – warum zeigen sie dann überhaupt ihre unverhüllten Knöchel?  

Immer noch wartend, zieht jedes Gefühl betont langsam aus meinen gefrierkalten Händen und meine Finger wandeln sich in ein lebloses Farbgemisch aus gelb, weiß und blau, während ihr makellos weiblicher, glatter Knöchelglanz gnadenlos gelassen in meine Richtung schimmert und ihr Gesicht keine Miene verzieht, ihr Blick ganz unbeeindruckt und konzentriert auf der mobilen Technik verbleibt. Der eisige Wind peitscht von allen Seiten, demonstriert sein Können und sucht verzweifelt nach Aufmerksamkeit; es lässt sie kalt.

Montag, 24. Oktober 2016

Lektüre und Strafe

Ich habe Schuld und Sühne in meinem Bücherregal stehen. Ich habe es noch nicht gelesen, weil ich sehe, wie dick es ist. Ich glaube, es würde mir gefallen, und mehr noch, es würde mir gut tun, würde meine Weltsicht (und somit mein Dasein) erweitern und auffächern, mich zu einem besseren Menschen machen. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, jede Nacht, wenn ich nicht schlafen kann, ist das Buch da und wartet darauf, von mir berührt zu werden. Seit Jahren habe ich es nicht mehr angefasst.

Die Wahrheit ist, ich getraue mich nicht, es zu lesen.

Die Größe des Werkes macht mir Angst, erzeugt einen innerlichen Respekt vor der Lektüre, der in Hemmung und Vorsicht umschlägt, eine Vorsicht vor der Aufgabe, der ich mich nicht gewachsen fühle. Ich sage mir, ich muss den richtigen Zeitpunkt wählen, muss die richtige Ruhe finden, um die Aufgabe zu beginnen, denn ohne Vorbereitung ist es unmöglich, sich auf ein solch überlebensgroßes Werk von vollendeter Meisterschaft zu stürzen. So zumindest stellt sich mir das Buch jedes Mal vor, wenn ich, mit sicherem Abstand, seinen Rücken im Regal betrachte.

Der richtige Zeitpunkt ist noch nicht gekommen. Die richtige Ruhe hat sich noch nicht eingestellt.

Ich schreibe „noch nicht“ und spüre bereits seine Nähe zum „nie“, weil sich an meinem Verhältnis zur Lektüre nichts ändert, weil der Roman nicht kleiner wird. Wenn das Buch nur aus einer einzigen Seite bestehen würde, wenn es ein magisches, analoges E-Book wäre, deren Seiteninhalt sich selbst erneuerte und ich nicht wissen könnte, wie viele Seiten noch kämen – dann änderte sich alles. Dann wollte ich das Buch einfach beginnen, einfach lesen, ohne zu wissen, wie viel Zeit ich noch zu investieren, wie viel Seiten ich noch zu absolvieren hätte. Wenn die Angst doch nur kein unerbittliches Gedächtnis hätte.

Und so ist es bei mir mit jeder großen Aufgabe: Sie will gar nicht erst begonnen werden, weil mich der Gedanke an ihre Bewältigung bereits überfordert. Die Angst vor der Größe übersieht sogar ihre Zusammensetzung: Ich kann dreißig schmale Erzählbände lesen, aber ich ziere mich, diesen einen Roman zu beginnen. Ich kann sieben Mal für den nächsten Tag einkaufen, aber nicht ein Mal für die ganze Woche. Ich sehe die Summe, aber nicht die Teile. Die Rechnung, aber nicht die Ersparnis.

Ich könnte mich einfach von dem Buch trennen. Es verschenken und mich von dem Gedanken befreien, es lesen zu müssen – denn das ist der dominante Gedanke: weniger es noch nicht gelesen zu haben, als es noch lesen zu müssen. Als wäre es eine verdammte Pflicht, eine Strafe, mir im Lesen etwas Gutes zu tun.

Nein, es ginge nicht. Ich könnte das Buch verschenken, aber ich kann mich nicht von ihm trennen. Es ruft mich bereits seit Jahren, verlangt nach mir, in jeder Buchhandlung, die ich durchstöbere, in jedem Film, der es zitiert, jedem Artikel, der es verknüpft. Und hier, in meinem Regal, ist es mein unberührter Begleiter, der immer für mich da ist, der noch nicht, der vielleicht morgen, der vielleicht nie von mir angefasst und ausgelesen wird.

Und allein durch seine Präsenz verschmilzt meine Angst vor der Lektüre mit Dostojewskijs Werk zu einer unerklärlichen Kraft, einer absurden Konstante, die mein Leben durchzieht und zusammenfasst und ich wieder einmal vor meinen Gefühlen stehe wie ein naiver, grenzenloser Idiot – den ich auch noch lesen muss.

Dienstag, 11. Oktober 2016

Die Banalität des Guten

Immer noch überfordert es mich regelmäßig, wenn Menschen gut zu mir sind. Arbeitskollegen, die mir Zigaretten und Nachsicht schenken, herzliche Putzfrauen, die mir ständig eine Tasse Kaffee anbieten, der achtsame Supermarktkassier, der mir nachruft, ich hätte meinen Schirm vergessen. Solche Akte der Güte lösen in mir eine seltsame Hilflosigkeit der Sprache aus, ein automatisches Ausgeliefertsein im Widerfahrnis des Guten, das ich nicht einordnen kann.

Dabei sind es weniger die Taten an sich, als vielmehr ihre Auslöser, Beweggründe, die mir jedes Mal unbegreiflich erscheinen. Immer, wenn jemand einfach so gut zu mir ist, bin ich versucht, anzuhalten und nachzufragen, um zu begreifen, nachzuvollziehen, und innerlich stammelt eine überwältigte Stimme irgendwelche fragenden Fragmente, auf der unnützen Suche nach dem Warum des Guten.

Langsam beginne ich zu glauben, manche Menschen sind grundlos gut. In ihrer Natur steckt etwas zutiefst Gütiges, das sie weder verstecken noch leugnen können; sie zeigen dir an deinem ersten Arbeitstag, worauf du zu achten hast, sie entschuldigen sich, wenn du sie in der Straßenbahn anrempelst, sie haben immer etwas bei sich, das sie mit dir teilen können (und es auch tun). Und das alles ganz ohne Motiv, ohne dich oder mich sonderlich gut zu kennen oder etwas in retour zu verlangen. Gut sein ist für sie der banalste Vorgang der Welt. Sie handeln, ohne ihre Güte je zu hinterfragen oder an ihrer Richtigkeit zu zweifeln, weil sie immer schon gut waren. Die Guten sind natürlich gut.

Deshalb fällt es mir so schwer, mit ihren unerwarteten Geschenken umzugehen; ich kann ihre Güte nicht logisch nachvollziehen, weil sie keine Logik verlangt, kann nicht nach tieferen Gründen suchen, weil es keine gibt. Das Gute hat kein Anrecht auf Psychologie. Ich muss es einfach akzeptieren und annehmen, auch wenn es so viel schwerer fällt, als die Schlechtigkeit der Menschen hinzunehmen. Im Gegensatz zum natürlich Guten sind die alltäglichen Spielformen des Schlechten (die Arroganz, die Grobheit, die Erwartung, die Ungeduld, die Einseitigkeit, die Dogmatik, die Ausnutzung ...) immer tiefenbegründet, immer und überall erklärbar, verfolgte man sie nur weit genug zurück.

Gutes geschieht grundlos. Schlechtigkeit und Übel haben immer ein Motiv.

Samstag, 8. Oktober 2016

Amazonen und Faune

Meine Arbeitsdienste führen mich immer wieder in die Ausstellungsräume großflächiger Museen, in denen ich die Sicherheit der Exponate gewährleisten soll. Objektschutz heißt das in der Firmensprache. In der Realität heißt das schlechte Bezahlung und lange Dienstzeiten. Ich stehe mir die Füße wund, beobachte die seltsam lustlose Grundhaltung von Touristengruppen und muss versuchen zu erkennen, welches Smartphone auf Fotomodus gestellt ist. „No photo, please“, sage ich mechanisch und mit einem überraschten Nicken wird das Handy weggesteckt, nachdem der Zeigefinger den Bildauslöser berührt hat.

Seit Wochen bin ich führender Experte in der Ausstellungswelt des Malerfürsten Franz von Stuck, dessen ironische Fabelwesen ich längst nicht mehr sehen kann. Hundert ölbefleckte Natur- und Mythosbilder, und ein einziger Schiele zeigt ihnen die Grenzen auf.

Nicht immer habe ich so gedacht. Am Anfang hatte er auch mich gepackt, der spektakuläre, bunte Überwältigungseffekt des Malerfürsten, der mit jedem Blick schrumpfte und schließlich und endlich verschwand und nichts hinterließ als ernüchterte, enttäuschte Leere. Vielleicht ist das der Preis der Ironie, mit denen er seine Bilder durchzieht, deren attraktive Verpackung die gehaltlose Idee zu übertünchen versucht. Kunst, die nur für den schnellen Blick gemacht worden ist, für das erste Staunen ob der fantastischen Nixen, Götter, Amazonen und Faune in den majestätischen, unikalen Goldrahmen; Antike und Sünde, Kitsch und Prunk. Einem wochenlangen Blick hält ein solches, verschmitzt hingepinseltes Werk nicht stand. Je länger ich in der Ausstellung arbeite, desto grober, unbedachter und leerer erscheint mir eine Vielzahl der Gemälde. Ein wahlloser Schiele dagegen wird sich niemals leer betrachten. Und vielleicht zeigt sich wahre Kunst tatsächlich erst in seiner Langzeitbetrachtung.

Inmitten eines Ausstellungsraumes thront ein breiter Sessel auf einem sanften Podest, ein von den Jahrzehnten gezeichneter, wie mit rotem Moos überzogener Fauteuil, der eins im Atelier der Villa von Stuck ruhte. Ein kunstvolles Einzelstück von roher Kostbarkeit, ein unantastbares Mobiliar ohne Zweck. Heute bin ich im hinteren Museumsabschnitt eingeteilt, drehe meine Kontrollrunden im letzten Raum und blicke hier und da in den Bereich der erfahrenen Kollegin, blicke direkt auf den bemoosten, feuerroten Armsessel, nicke der Kollegin zu und dann wieder kehrt und eine weitere Runde. Wieder einmal sind die Gedanken ganz weit weg und ich ärgere mich, im Dienst nichts niederschreiben zu können, da stehe ich plötzlich wieder an der Grenze meines Bereichs, hebe den Kopf und starre in das Grinsen einer jungen Dame, die seelenruhig auf dem roten Fauteuil sitzt. Es dauert eine Sekunde, bis ich begreife, was ich sehe. Noch eine Sekunde, bis ich sie mit überraschender Strenge auffordere, vom Ausstellungsobjekt zu verschwinden. Noch länger, bis ich begreife, die grinsende Dame gehört einer auffälligen Personengruppe an, zu der sie auf Zehenspitzen zurücktrippelt und aufschließt. Ich verbleibe mit meinem Blick bei der Gruppe, die Arbeit schlägt in Neugier um, nach einiger Zeit kommt die überforderte Kollegin zu mir herüber und rechtfertigt ihre Nichtreaktion beim Fauteuilüberfall. „Ja, das ist schwierig“, sagt sie. „Die sind nämlich behindert. Da weiß man nicht, wie man reagieren soll.“

Fast wird mir schwindlig, bei so viel Menschlichkeit inmitten von fabelhafter Leere.

Mittwoch, 28. September 2016

Schulbank

Und dann wieder die Frage, wie ich in dieser Welt zu einer Tätigkeit stehen kann, für die ich nicht bezahlt werde. Wie kann ich es rechtfertigen, mir Zeit zum Schreiben heraus zu nehmen, ohne zu wissen, ob dabei überhaupt Zählbares herauskommt? Die Einschüchterung steckt bereits im Wort: Zählbares. Nur Bares wird im Leben gezählt. Ich hasse es, dass jede Diskussion mit mir selbst an irgendeinem Punkt immer beim Geld endet.

Es ist dieser Druck, der in meinem Kopf herrscht, diese eingefüllte und aufgesogene Lüge, etwas habe nur Wert, wenn es mit Geld verbunden sei; eine Aufgabe mache sich nur bezahlt, wenn sie auch bezahlt wird. Dieser unendlich hemmende, lähmende Druck, Bares abbauen zu müssen, um zu dem Gefühl zu finden, etwas geleistet zu haben.

Dieser Banknotendruck, wann wird er endlich aus dem Kopf ziehen und sich selbst abschaffen?

Freitag, 23. September 2016

Dienstag, 20. September 2016

Brief an Camus

Ich beneide Sisyphos. Nicht nur, weil ihm eine Aufgabe zugewiesen wurde, die ihn von der zermürbenden Freiheit befreit hat, sich ein Ziel suchen zu müssen, sondern vor allem, weil er diese Aufgabe jeden Tag aufs Neue ausüben darf. Da er den Gipfel nie erreicht, beginnt die Aufgabe immer wieder im Tal, tagein, tagaus. Der Träger des Steins verfolgt sein Ziel jeden Tag erneut mit dem abenteuerlichen Elan, der nur im Anfang steckt. Sisyphos nützt diese Anfangseuphorie, er schiebt nicht auf, weil er nicht aufschieben kann, er lässt den Elan weder verpuffen noch einbremsen, weil ihn plötzliche Zweifel und Ablenkungen aus dem Tritt bringen. Er muss nicht suchen, nicht warten, nicht zögern. Er muss keine Bewerbungen schreiben und keine Versicherungen abschließen. Er muss einfach nur Tun. Er ist der notgedrungene Philosoph, der jeden Tag lebt, als wäre es sein erster.

Ich sitze an meinem Schreibtisch und verzweifle über dem Wordpapier, dem digitalen Blatt, das nicht und nicht gefüllt werden will, weil ich so lange und verkrampft über dem ersten Satz brüte, bis ich die Schale des Gedankens zerbreche und sein flüssiges Inneres mir entschwindet. Ich warte und warte und warte auf den ersten Satz, der heute brillant aufsteigen muss, nur um morgen schon wieder auf die schlechte Seite zu fallen. Anstatt einfach den Stein hinauf zu rollen, ohne seine Form und sein Ziel zu bewerten und zu zerdenken. Einfach nur rollen.

Ich bewundere Sisyphos und ich bewundere seine Arbeit. Sie ist so wunderbar ehrlich und persönlich, wie alles Sinnlose. Und doch betreibt er seine Aufgabe mit einer Ernsthaftigkeit, als wäre sie unendlich wichtig, wozu sonst nur Kinder und Narren imstande sind. Er rollt den Stein, als hänge die Welt davon ab; und in gewisser Weise tut sie das auch.

Das Allerschönste an der Aufgabe ist, dass er seinen Stein auf den Berg rollen darf. Es ist nicht irgendein Stein, den Sisyphos tagein, tagaus zum Gipfel bringt. Es ist immer derselbe Stein. Sisyphos wurde dieser eine Stein zuteil, der nur ihm gehört, der sein wahrer, inniger und ewiger Lebensgefährte ist, der nur von ihm berührt, gewendet, gehegt, beschimpft, gehasst und geliebt wird. Er kennt alle Stellen an diesem Stein, kennt seine guten und schlechten Seiten, seine Risse, Dellen, Flecken und Moose, jedes noch so winzige, besondere Kennzeichen. Würde ihm der Stein abhanden kommen, er könnte jederzeit ein perfektes Vermisstenprofil erstellen. Bei jeder TV-Show könnte er den Stein blind ertasten und unter tausenden wiederfinden. Er könnte sogar beschreiben, wie der Stein riecht.

Tagein, tagaus mit demselben Stein zu verkehren, ihm jeden Tag zu begegnen, als sähe man ihn zum ersten Mal – ist eine persönlichere, liebevollere Beziehung denkbar? Ich starre in all diese unpersönlichen Bits und Bytes, Nullen und Einsen, zweifelnd, suchend, wartend und überfordert von den immensen Möglichkeiten der einsamen Auswahl, die jeder Tag mit sich bringt. Und alles, wovon ich träume, ist eine Aufgabe, die sich selbst genügte, eine innige, persönliche Beziehung zu meinem Lebenswerkzeug, das mir jeden Tag die Route vorgibt und sich von mir vertrauensvoll leiten lässt, als kannten wir einander seit ewigen Zeiten. Der Traum, einfach nur rollen.

Einmal nur mit Sisyphos tauschen zu dürfen, wer wünschte sich das nicht? 

Sonntag, 11. September 2016

Übung

Ich versuche für gewöhnlich, jede Nacht zu schlafen. Dennoch habe ich nicht das Gefühl, sonderlich gut darin zu sein.

Montag, 5. September 2016

Schwarze Spielkegel

Ich spaziere ziellos an der Uferpromenade der Stadt entlang, erspähe einen ausgewachsenen Schwans im Wasser und denke: der dunkle Bereich von Schnabel bis Auge sieht aus wie ein Spielkegel, ein überdimensionaler, schwarzer Spielkegel, entwendet von einem überdimensionalen Spielbrett einer angebrochenen Halmapartie, die seither und bis in alle Zeit auf ihre Fortführung warten muss. Einmal gedacht, ist mein Gedanke nicht mehr auszulöschen; er ist unumkehrbar mit der Welt (meiner Welt) vernetzt; und jedes Mal, wenn ich fortan einen Schwan sehe, muss ich ebenso den gestohlenen Spielkegel sehen, der sich mitten im Gesicht des ahnungslosen, gefiederten Schönlings versteckt.

Mit jedem neuen Gedanken wächst die weltliche Anschauung, die allein in meinem Inneren existiert – und doch nur existiert dank ihren äußeren Impulsen, dank des ziellosen Ausgangs, dank den Schwänen an der städtischen Uferpromenade. Mein unwiderruflicher, unendlich persönlicher (sprich: sinnloser) Gedanke, ausgelöst durch die Ausgangsstunde zwischen Internet und Dienst: Er ist der seltene Moment des beglückenden Austauschs zwischen mir und der Welt, eine meiner seltenen persönlichen Errungenschaften im Verkehr mit dem Außen, der mir das so seltene Gefühl verleiht, einfach da zu sein. Aus mir und in die Welt zu gehen.

Das allein ist es, was mich jeden Tag dazu bewegt, weiterzugehen. Ich möchte keinen Grund, keine schriftliche Sinnverpflichtung, möchte keine Rechtfertigung ablegen gegenüber meinen Tagen; ich möchte einfach nur große, schwarze Spielkegel in Schwänen verstecken.

Dienstag, 30. August 2016

Freitag, 26. August 2016

Putins Hund

Vergangene Nacht träumte mir, ich sei der neue, persönliche Assistent von Wladimir Putin. Bei einer Rede am Petersburger Hafen erhalte ich erste Befehle: eine große Menschenmasse mobilisieren und ein bisschen mitschreiben. Ich reagiere verkrampft, voller Ehrfurcht vor der politischen Gestalt, jeden Moment in dem ängstlichen Glauben, fürchterlich bestraft zu werden, sollte ich versagen. Doch entgegen all meiner Vorurteile, da ist Putin kein gewaltvoller Despot, ist er kein launischer Bär. Völlig gelassen nimmt er es hin, dass ich keine Menschenmasse mobilisieren konnte.

Die Tage vergehen, der Frühling zieht ins Land; das Wetter ist gemäßigt, die Luft angenehm. Einmal schneit es und Petersburg wird mit sanftem Weiß bedeckt. Von meinem Schreibtisch aus sehe ich auf die Straße, die Leute gehen in bunten Mänteln über den Asphalt, niemand scheint in Eile.

Mit Putin verstehe ich mich täglich besser. Seine eloquente Ausdrucksweise und leidenschaftliche Literaturfreude steigern mein Selbstvertrauen kontinuierlich. Eines Tages fühle ich mich bereit, ihm einen meiner Texte vorzulesen; eine kurze Parabel mit dem Titel „Putins Hund“. Putin gefällt der Text auf Anhieb, er richtet umgehend eine Diskussionsrunde in einem Palastzimmer ein und wir besprechen meine Geschichte, bis es dunkel wird.

Irgendwann fragt mich Putin, ob der Hund in dem Text tatsächlich existiert. Nein, sage ich, aber wenn er diese Frage aufwirft, hätte der Text bereits ein Ziel erreicht, oder? Daraufhin verfällt Putin in ein langes, denkerisches Schweigen, während mir seine entspannten Gesichtszüge andeuten, mit der Antwort und der Welt zufrieden zu sein.

Als ich aufwache, droht Putin dem Westen und niemand diskutiert meine Texte. – Die gewohnte Vertrautheit der Realität, sie hat mich umgehend wieder.

Dienstag, 23. August 2016

Relationen (V)

Es fällt mir immer noch schwer, mit Kritik umzugehen. 
Es fällt mir immer noch schwerer, mit Lob umzugehen.

Samstag, 20. August 2016

Relationen (IV)

Manchmal kann ich mich nicht entscheiden, was ich schlimmer finde: verstecktes Elend oder zur Schau gestelltes Glück.

Freitag, 19. August 2016

Zutiefst versichert

Seitdem ich wieder einen Job habe, mischt sich endlich etwas Struktur und Pflicht unter meinen Alltag. Ich sage mir, ich muss froh sein, einen Job zu haben – auch wenn die Arbeit meilenweit davon entfernt ist, ein Beruf zu sein, so nimmt sie mir doch die Möglichkeit, einen Großteil meiner Zeit ohne Bezahlung zu verschwenden.

Ich arbeite als Teilzeitwachorgan, um den Leuten die Illusion von Sicherheit zu vermitteln, an die ich selbst nicht glauben kann. Ich habe mich für, oder besser: nicht gegen die Stelle entschieden, weil ich der monatelangen Suche nach ähnlich schlecht entlohnten Alternativen müde war und weil mir diese Arbeit ein wenig Zeit verschafft, Aufschub, um mich nicht weiter mit dem idealen Anschreiben der Existenzbewerbung herumzukasteien. Und weil ich mit der Stelle voll versichert bin. Und versichert sein, so wurde mir gesagt, ist erst einmal das wichtigste im Berufsleben.

Ohne Versicherung muss ich jederzeit in Angst leben. Mit Versicherung darf ich jederzeit in Angst leben. Ich zahle für ein Leben im Konjunktiv, um mich abzusichern vor den Folgen einer imaginierten Tragödie, eines Schicksals- oder Ausschlages, der mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht eintreten wird. Doch die Präsenz meiner Versicherung zwingt mich zu Vor-Sorgen, in denen ich mich mit der Möglichkeitsform des brutal Unwahrscheinlichen auseinandersetze. Ich muss den Konjunktiv ernst nehmen, muss mir das Was-wäre-wenn-Szenario des Albtraums vor Augen halten, um die Notwendigkeit der Versicherung zu rechtfertigen. Versicherungen unterstützten mich in meinem Denken an das Eintreffen von Geschehnissen, die nicht eintreffen dürfen; sie legitimieren den Albtraum. Und das ist erst einmal das wichtigste im Berufsleben.

Seitdem ich über eine sichere Dienststelle verfüge, bei der ich voll versichert bin, fühle ich mich erstmals als vollwertiger, erwachsener Gesellschaftspart wahrgenommen. Zumindest, solange ich meinem erwachsenen Umfeld verschweige, dass ich nebenher gewisse literarische Ambitionen verfolge und die Arbeit des Wachorgans mir lediglich als inspirativer Ausgleich zur Niederschrift meiner beschränkten Gedanken dient. Sobald der vage Traum des Autors jedoch verbal ausgebreitet wird, bin ich sofort wieder Kind, sofort wieder das naive, weltfremde, schöngeistige Dingelchen, das am Tisch der Erwachsenen nichts verloren hat. Ambitionen sind gefährlich, weil sie von der Versicherung nicht abgedeckt werden. Sie lassen sich weder kategorisieren, noch abwägen, und sind deshalb nicht ernst zu nehmen, was sie vom konkret bemessenen Versicherungsinhalt unterscheidet; Ich werde belächelt, wenn ich mich auf die Terrassen ruhmreicher Kunst träume. Ich werde bekräftigt, wenn ich mich auf einen deformierenden Unfall einstelle.

Es ist dieses Bewusstsein der erwachsenen Welt, das mich so sehr befremdet: Wer Träume hat, ist ein Träumer. Wer Albträume hat, ist Realist.

Montag, 15. August 2016

Lob der Schwäche

Stärke galt als eine der sieben Tugenden im frühen Christentum, jene überzeugte Fortitudo, die der alte Bruegel im Kupferstich verewigte, und die in 1500 Jahren noch nicht sonderlich überzeugt hat. Heute, da lebt die Proklamation der Fortitudo in den sozialen Netzwerken weiter, welche die Stärke als gelebte Vollendung utopischer Schönheitsideale feiern und die zahllosen Selbstbilder ihrer blattschmalen A4-Taillen und kraftnormierten Sechserpackungen als ikonenhafte Wertetafeln an die Glaubensgemeinschaft aussenden. Das Web ist die Religion, deren Glaube zwingt, sich in der Netzgemeinde besonders stark präsentieren zu müssen; der positive Kommentar ist die ersehnte Heilsbringung, der den Worten Christi gleicht. Damit lebt die Generation Selfie den christlichen Angstkanon des Spätmittelalters nahtlos und bereitwillig weiter, sie preist die scheinheiligen Tugenden im digitalen Rudel, während ihre selbst auferlegten Todsünden den bedingungslosen Gehorsam gegenüber der Tugend weiter und immer weiter festigen.

Wenn die Todsünden dabei die kategorischen Messstäbe menschlicher Schwäche darstellen, dann habe ich die schlimmste aller Todsünden begangen; nämlich, zur Schwäche zu stehen.

Stärke interessiert mich nicht. Was ist Stärke auch anderes als ein geschmackloses Bindemittel zum Zwecke der Verhärtung? Mir liegt nichts daran, hart sein zu wollen, um der Härte des Lebens zu entsprechen, zu dem ich keine Beziehung habe. Das Leben schuldet mir nichts und ich schulde nichts in retour. Härte erstrebe ich nicht, Hartnäckigkeit verstehe ich nicht, Hartschale steht mir nicht. Ich meide, was mich stärken könnte, stattdessen fühle ich mich tragisch angezogen von meiner eigenen Schwäche, die ich in jedem meiner Sätze erfasse und fortführe, in der einzigen Konsequenz, mich ihr niemals zu entziehen.

Schwäche ist, was mich durch die Tage trägt. Ich bewundere jedes kleinste Blatt, das als allererstes vom zitternden Zweig abfällt und auf der kalten Erde landet, bevor ihm alle anderen, stärkeren Blätter in den unausweichlichen Tod nachfolgen. Der Pioniertod des kleinsten Blattes, er ist vielleicht der wahrhaftigste, poesievollste Sieg der Schwäche, den ich mir vorstellen kann. Es schenkt mir den Glauben, dass der gesamte Baum bis zur Wurzel nur an diesem einen kleinsten Blatt hing, welches die Last des verhärteten Stammes auf sich lud und daran selbstlos zu Grunde ging.

Ich bedaure das Starke, das eisern standhält. Ich begrüße das Schwache, das ungeschickt im Wind tanzt. Alles, was schutzlos zittert und flieht, was vor Bruch und Schaden nie gefeit ist, was beweglich, fragil, kurzfristig, ungewürdigt, übersehen existiert, ist mir der Grund, auf dem mein Leben fußt. Mein Dasein ist auf Sand gebaut, meine Grundfeste erschüttern sich bei Sturm und Regen – gleichzeitig durchspülen die Unwetter meinen schwachen Alltag in sturer Regelmäßigkeit, sie erfrischen und säubern mich. Warum sollte ich eine Stärke anstreben, die mich davor bewahrte, mich selbst zu reinigen?

Ich lobe mir die Schwäche, die mich zur schonungslosen Selbstbetrachtung zwingt und mir jeden Makel aufzeigt, den die Tugend retuschieren möchte, weil die Glaubensgemeinschaft den Makel nur als Sünde kennt. Ich lobe mir die Sünde des Makels, deren Präsenz mich in den Wahnsinn treibt, vom entnervenden Haut- bis zum Talentpickel, jene Makel, die mich aufwühlen, ablenken, antreiben und auszeichnen. Denn was wäre ich für ein Mensch ohne meine Makel? Wie könnte ich meine Gefühle ergründen, wenn mich der Makel nicht dazu herausforderte?

Ich habe eine Schwäche für die eigene Schwäche. Das ist, neben allen anderen, meine größte und schwerste Sünde. Und so wie das kleinste Blatt jederzeit Angst vor dem Tod haben muss, so habe ich große, stürmische Angst vor der Einsamkeit und Verstoßenheit des bewussten Sünders. Und ich empfange meine Angst noch mit offenen Armen und ich tanze allein und vogelfrei in ihrem stürmischen, haltlosen Auge. Denn ich bin schwach.

Dienstag, 2. August 2016

Im Zweifel Sokrates

Ich weiß, dass ich nichts weiß – ist vielleicht wahr und ganz sicher schlecht übersetzt. Denn, soviel lässt sich heute sagen, die gedanklichen Ausführungen des Sokrates schließen nicht auf eine manifestierte Absolutheit seines Nichtwissens, sondern auf das schlichte Bewusstsein, keine zweifellose Weisheit zu besitzen. Sokrates hatte mit dem Ausspruch wohl nicht gemeint, nichts zu wissen, sondern eher, nichts genau zu wissen.

Der Vorschlag für eine bessere, eine genauere Übersetzung wäre somit: Ich weiß, ich weiß nichts. Nicht nur erspart sie mir dieses hässliche, verwirrte Entlein unter den Bindewörtern, es füllt die Aussage zudem mit nachhaltiger Ambivalenz, da sie eine doppelte Lesart zulässt; und damit dem ursprünglichen Gedankengang des Sokrates um einiges präziser entspricht als die bisherige Version.

Zumindest möchte ich das glauben. Ich möchte glauben, Sokrates hatte, nachdem er wusste, nichts genau zu wissen, auch noch daran gezweifelt.

Samstag, 23. Juli 2016

Die Unwiederholbarkeit der Dinge

Langeweile ist das Phänomen, das sich mir von allen irdischen Erscheinungen am meisten entzieht. Ich sehe, wohin Langeweile führen kann, ich begreife, welche Dämonen sie züchtet, doch ich kann nicht nachvollziehen, woher sie stammt, warum sie sich fortpflanzt und wer sie gebärt. Ist es die scheinbare Monotonie, die das Leben beherrschen soll, der bedingungslose, überzeugte Glaube an die immer gleichen Abläufe des Tages, sind es diese selbst erschaffenen Illusionen, die uns langweilen? Denn Monotonie ist eine Illusion, und noch dazu eine besonders lieblose.

Ich glaube nicht an Langeweile. Ich glaube an Ruhelosigkeit, an Belastung, an die spannende Reibung des unangekündigten Scheiterns, die mich immer wieder aufs Neue kalt erwischt; aufs Neue, weil sie mir jedes Mal neu ist. Das Scheitern kennt keine Routine, es macht mir am deutlichsten, dass jeder Tag ein neuer ist, ein Beginn ohne Gewissheit. Ich sitze vor dem Bildschirm und frage mich: Kann ich zweimal die gleiche Absage bekommen? – Nein. Aber wenn ihr Wortlaut exakt der gleiche wäre, hätte sich die Absage nicht wiederholt? – Nein. Bei der ersten Absage war meine Erwartung vielleicht höher, bei der zweiten war ich in Gedanken vielleicht schon bei Pasta oder Pornos. Weder mein Bewusstsein, noch mein Gefühl, noch meine Frisur wären in beiden Fällen identisch gewesen; beide Absagen waren mir einzigartig.

Nicht anders ist es mit dem Schreiben: Ich verfasse einen Text über die Unwiederholbarkeit der Dinge. Hätte ich den gleichen Text schreiben können, hätte ich nur eine Stunde früher begonnen, mit den exakt gleichen Gedanken im Kopf? Würde ich noch den gleichen Text schreiben, setzte ich mich erst morgen an den Computer? Nein. Ich spüre, es würde in jeder unterschiedlichen Minute, in der ich den gleichen Text verfassen wollte, ein anderer entstehen. Und selbst wenn die Worte sich glichen, hätte ich sie nie im gleichen Rhythmus, nie mit gleichem Gefühl eingetippt.

Schreiben ist unwiederholbar. Jeder Satz, jedes Wort, jeder Letter ist einzigartig, wie er gesetzt wurde. Und genauso jeder Laut, der jemals irgendwelche Lippen verließ, jeder Kaffee, der irgendwo verschüttet wurde, jede Nachtschicht, die irgendwann beginnen musste, jeder Elfmeter, der nicht gegeben wurde. Nichts davon, nichts hat sich jemals wirklich wiederholt. Ich kann den gleichen Satz öfter schreiben, ich kann den gleichen Satz öfter sagen, doch selbst der beste, der präziseste Schauspieler kann ihn nicht eins zu eins reproduzieren. Stimmung oder Stimme mögen nur um ein unmerkliches, ein winziges, ein halbes Dezibel abweichen; doch sie werden abweichen.

Und hier also, der Tag: Jeder Tagesablauf ist mir ein neues Wunder, ein erstes Mal, das gelingt oder nicht. Ich kann nicht zweimal gleich aufwachen, nicht zweimal den gleichen Kaffee aufstellen, nicht zweimal die gleiche Dusche nehmen. Es gibt keine Wiederholung. Das, was Routine genannt wird, ist nur die Blindheit gegenüber der Unwiederholbarkeit der Dinge. Der sture Glaube an Monotonie entzieht sich allein der Verantwortung gegenüber der Einzigartigkeit des Augenblicks.

Denn alles, einfach alles, was je passiert ist und je passieren wird, alles davon, alles ist einzigartig.

Montag, 18. Juli 2016

Arbeitsbefund

Ich bekam den Befund vor einigen Monaten, ohne Erklärung oder Entschuldigung. Es ist ein Geschwür (nun weiß ich es), und es wächst mit jedem neuen Morgen, wird schwerer, hässlicher und offensichtlicher; es zeichnet, es brandmarkt mich, es brennt mir auf der Stirn, beim Aufwachen, Liegenbleiben, Aufstehen, Gähnen, Anziehen, Durchsuchen, Bewerben, Zögern, Telefonieren, Kauen, Hadern, Abwarten, Hinlegen, Nichteinschlafenkönnen. Das Geschwür durchdrängt mein billig geflicktes Nervenkostüm, es lähmt meine Gedanken, Versuche und Stunden.

In dieser seltsamen Starre erklärt es mich zu einem gesellschaftlichen Ausreißer, einem, der nicht dazugehört zu seiner umgebenden Welt der Vollversicherten und Dienstzeithabenden. Ich kann dieser erwachsenen Welt nicht angehören, muss aber dennoch in ihr leben, weil mich die Geschwürstarre nicht ziehen lässt, weg, in ein freundlicheres Außerhalb, in die einzige Welt, in der ich mich sehen kann, in das verträumte Dasein zwischen zwei Buchdeckeln. Doch ich kann nicht recht schreiben, nicht fabulieren, solange in meinem Kopf die Stimme drängt, ich müsse mir einen Job suchen, müsse noch eine Bewerbung abschicken, müsse noch einmal die Stellenseiten überfliegen und alles erneut und wieder und erneut nicht einschlafen können. Und dazwischen immer wieder diese Absagen.

Als Ausreißer meines Umfeldes bin ich ein Zwischenwesen in jeder Hinsicht: Kann ich nicht schlafen, bin ich nie wirklich wach, darf ich nicht arbeiten, habe ich nie wirklich frei, muss ich nicht aus dem Haus gehen, komme ich nie irgendwo an. Arbeitslosigkeit macht krank, ernsthaft krank, weil sie mich aus dem, wofür die gesunde Norm steht, herausreißt, und ich wie der unansehnliche Dorfkrüppel zur Seite gedrängt neben der Gesellschaft humpeln muss. Es ist immer präsent, das Rufen der Stimme, das Krankheitsbild, das permanente Hinweisen auf den Befund, mit dem meine engen vier Wände tapeziert sind. Ich kann mir nicht freinehmen von der Berufssuche. Ich kann keinen Urlaub beantragen von einem Geschwür.

Die Suche nach Arbeit ist ein oft frustrierendes, mitunter endlos scheinendes Unterfangen, als wollte jemand den absurden Versuch starten, das Internet abzuschreiben; eine Aufgabe ohne Anfang und Ende. Besonders erschwerend kommt hinzu, alle Zeit der Welt für die Suche zu haben. Zu viel Zeit ist genauso schlimm wie zu wenig Zeit zu haben, oft sogar schlimmer. Ein maßloses Kontingent an Zeit überfordert, brennt und schadet, so wie alle Dinge ohne Maß.

Nie wieder möchte ich krank sein und das Geschwür vor mir hertragen, nie wieder mir das genussvolle Lesen verbieten, aus purer Angst, ein gutes Gefühl davon erhalten zu können, dass ich mir als Patient nicht leisten darf, weil ich selbst nichts geleistet habe.

Ich möchte endlich aufhören, Patient zu sein. 

Freitag, 15. Juli 2016

Montag, 4. Juli 2016

Gewöhnlicher Freitag

Ich wohne in einer ausgezeichneten Stadt – wiederholt wurde sie zur attraktivsten Metropole des Erdballs gekürt. Ihre Straßen sind sauber, ihre Mülleimer zahlreich. Das warme Licht der Frühjahrssonne färbt sie jedes Jahr grün, sogar ihre Radwege. Sie ist hell, aber nicht bleich, malerisch, aber nicht schwulstig. Ihre Penner, Süchtler, Huren und Tschickstummel sind schon lange aus ihrer Öffentlichkeit retuschiert. Manchmal, wenn ich ihr Zentrum ohne Ziel durchstreife, da trifft mich ihre reine Schönheit so sehr, dass ich glauben muss, mich in einer allumfassenden Postkarte zu bewegen. Ich gehe nicht durch eine Stadt, sondern durch ihr makellos festgehaltenes Ideal, und ganz gleich, welche Richtung ich einschlage und wohin ich auch blicke, ihre Proportionen sind golden geschnitten, ihre Farben erlesen, ihre Kontraste kunstsinnig. 

Auf dem sonnigen Platz vor meiner Wohnung, da erhält die Stadt ein weiteres, schmuckes Café. Am Tag der Eröffnung spaziere ich daran vorbei und blicke in die Gesichter ihrer zahlreichen Premierengäste. Glückliche Frauen und Männer in meinem Alter sitzen mit übereinander geschlagenen Beinen an gemeinschaftlichen Tischen, niemand sitzt allein, jeder kann sich die Getränke leisten. Sie haben Sonnenbrillen, sie haben Freizeit, sie haben Freunde. Sie trinken, lachen, rauchen mit Stil. Ein paar haben die Schuhe ausgezogen. Alle sind schön. Ich muss mich zwingen, sie nicht allzu offensichtlich anzustarren, weil ihre absurde Ausstrahlung auf mich einnehmend und allzu süchtig machend wirkt. Verzögert gehe ich weiter, ohne dabei von ihnen zu lassen, spaziere eine Runde um das Café, nur um ein weiteres Mal an den Vollkommenen vorbeigehen zu dürfen und ein paar weitere Blicke auf die lebendigen Meisterwerke zu erhaschen. Es ist, als wären alle schönen Menschen an diesem Tag gleichzeitig vor die Tür gegangen, um sich alle gleichzeitig in dieses eine Café zu setzen; doch es ist kein besonderer Tag. Es ist nur ein vollkommen gewöhnlicher Freitag in der Stadt.

An solchen Tagen fällt es mir besonders schwer, sie zu erdulden. Die Schönheit ihrer vielen jungen perfekten Menschenkörper, ihrer gepflegten Frisuren und bewussten Modeentscheidungen, sie verstört mich und schüchtert mich ein, wie das fremde Kind, das in die neue Klasse kommt, in der alle Mitschüler schon etwas weiter sind. Sie ist nicht aufzuholen, diese Schönheit, sie ist zu viel, zu intensiv, und ganz egal, wohin ich blicke, ich sehe ihr vor Glück erhitztes Lachen, ihre vitalen, nackten Beine, ihre unglaubwürdige Taille, ihren warmen Augenaufschlag, ihr unbekümmertes Spiel mit der losgelösten Strähne. Und alles davon so unerträglich natürlich und vollkommen, so viel ergreifender als der Adobe-Glamourglitzer und die fade Instagastro, so unendlich und pervers schön, dass meine Blicke sich nie daran stillen können; es ist mir schlicht unmöglich, mich an ihren Bildern satt zu sehen. Wieder einmal muss ich hungrig zu Bett.

Freitag, 1. Juli 2016

Dienstag, 28. Juni 2016

Relationen (III)

Ein Autor, der nicht publiziert, ist wie ein Fußballer, der nie spielt.

Donnerstag, 23. Juni 2016

Talent (geringfügig)

Schlimmer als kein Talent zu haben, ist nur, wenig Talent zu haben. Wer kein Talent in einer Sache hat, der nimmt sich ihrer gar nicht erst an. Doch wer, so wie ich, wenig Talent im Schreiben hat, der versucht es immer wieder, nur um jedes Mal aufs Neue an seine engen Grenzen zu stoßen. Während der wenig Talentierte sich an jeden Strohhalm klammert, verhöhnen ihn alle extrem Talentierten und verlachen seine beschränkte Sprache, die so ausgetragene Floskeln verwendet wie „sich an Strohhalme klammern“. Sie tun es natürlich nicht direkt, sondern über den Umweg ihres Erfolges, der dem wenig Talentierten immer wieder in die offene Wunde des Scheiterns gedrückt wird.

Der wenig Talentierte erhält nämlich nicht nur Absagen und Ablehnung für sein beschränktes Bemühen, er erfährt auch, wer statt ihm die Lorbeeren erhalten hat. Und das ist vermutlich die schlimmste Strafe des wenigen Talentes. Während ein Talentloser sich dem konkurrierenden Gesamtfeld bewusst entzieht, ist der wenig Talentierte in seiner Unterlegenheit gegenüber den reich Talentierten nicht nur mit seinem Scheitern konfrontiert, sondern auch mit dem Wissen, welcher hochtalentierten Gruppierung er niemals nahe kommen wird.

Es wäre vielleicht Zeit, mir einzugestehen, dass ich insgeheim weiß, wo mein Platz ist, dass ich durchschnittlich schaffe, durchschnittlich schlafe und durchschnittlich lebe. Vermutlich genügte das auch, um in einem durchschnittlichen Dasein zu einem  bescheidenen Glück zu finden. Doch dann wiederum sind da diese winzig kleinen, hässlichen Talentausschläge, die mich immer wieder jucken, irritieren und nicht weggehen wollen. Sie tun nicht sehr weh, sie töten nicht, sie sehen bloß peinlich aus.

Und während ich meine talentierten Irritationen weiter kratze und es nur noch schlimmer mache, komme ich nicht umhin, die wunderbare Reinheit der makellosen Ganzkörpertalente zu bestaunen, die mir auf so schmerzliche Weise unerreichbar scheint.

Sonntag, 12. Juni 2016

Nicht überzeugt

Ich bin nicht überzeugt. Weder von diesem Satz, noch von sonst irgendwas. Wie kann ich schreiben, wenn ich keine Überzeugungen habe? Wie kann ich keine Überzeugungen haben, wenn ich doch so gerne verurteile? Zum Beispiel Menschen, die einen Blog erzeugen, um darin ihre Mode-, Garten- oder Nahrungsvorlieben einem breiten Publikum vorzustellen. Wie kann man schon im Vorhinein davon ausgehen, dass jemand diese Vorlieben teilt? Vermutlich müsste man davon überzeugt sein.

Manchmal glaube ich, alle Menschen sind von irgendetwas überzeugt; nur ich nicht. Ich verstehe nicht, wie man ehrlich und standhaft überzeugt sein kann. Ich verstehe nicht, wie man überzeugte Meinungen und Interessen festigen und erhalten kann, wenn man auch nur ein wenig länger und intensiver über sie nachdenkt. Eine Überzeugung ist für mich wie ein Ausstellungsobjekt, bei dem der Alarm losgeht, sobald man es berührt. Einfach nicht fassbar.

Wäre ich zumindest vom Schreiben überzeugt, müsste ich nicht die überwiegende Schreibzeit damit verbringen, mir etwas zu überlegen, das ich statt dem Schreiben tun könnte, weil ich nicht davon überzeugt bin, zu mehr als einem guten Satz zu finden, bevor ich den Stift abgebe. Ich denke dreimal die Woche, ich sollte das Schreiben überhaupt sein lassen und endlich etwas Erbauliches lernen, wovon ich sicher und in Ruhe leben kann.

Aber auch hiervon bin ich nicht überzeugt.

Freitag, 3. Juni 2016

Teilzeitambitionen

Ich bin es müde, von mir zu schreiben. Ich tue es, weil ich kaum Menschen kenne und weil es so viel einfacher ist, als sich fundierte Charaktere auszudenken und kohärente Texte zu verfassen. Von mir zu schreiben geht immerhin schnell und wirkt spontan, authentisch, obwohl es das natürlich nicht sein kann. Kein Text ist authentisch, weder handgeschrieben, noch gedruckt, weil im Moment der Niederschrift bereits die Distanzierung vom "echten" Leben erfolgt, genau so weit von der Wahrheit entfernt, wie die Hand vom Kopf. 

Ich schreibe, obwohl - oder gerade weil - ich keinen Grund dazu habe. Ich bin ein austauschbares Mitglied der Generation Prekär, zu ambitioniert für einen sicheren, austauschbaren Alltag, zu ängstlich und inkonsequent für die Ausformung meiner galanten, imaginären Lebensentwürfe. Ich brauche das Schreiben und ich brauche einen Job. Ich weiß nicht, wie beides geht, also mache ich nichts davon. Ich stecke im kaputten Fahrstuhl der Unentschlossenheit und niemand kommt, weil ich den Notschalter nicht betätige; bewusst nicht betätige.

Ich leide unter meiner jungen Arroganz, keinen Vollzeitjob zu wollen, der mich vielleicht endlich als Teil der Gesellschaft akzeptieren würde, statt mich ernsthaft zu ignorieren. Denn wer nicht Vollzeit arbeitet, wird nicht für voll genommen. Ich sitze an meinem Schreibtisch, tippe diese Zeilen und bin dabei arbeitslos. Ich verabscheue diese generische Bezeichnung, die sich wie ein Brandmal ins Fleisch prägt und nicht weggeht. Es gibt keinen schlimmeren Beruf, als sich einen Beruf suchen zu müssen.

Ich möchte, ich brauche eine Arbeit, die sich mit dem Schreiben vereinbaren lässt. Ein Teilzeitmodell, das meine Teilzeitambitionen trägt. Das mir einen Rhythmus schafft, den ich noch nicht gefunden habe. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich vollkommen unmusikalisch bin. Vielleicht bin ich unfähig, einen wohlklingenden Lebensrhythmus zu schaffen, weil ich nicht einmal sagen kann, wie dessen Noten aussähen.

Ich bin ein dissonanter Zwischenton, der nicht ins Ohr findet.

Mittwoch, 1. Juni 2016

Relationen (II)

Lieber blind, als zu wissen, dass nichts in Sicht ist.


Donnerstag, 26. Mai 2016

Der Ekel 2.0

Ich hasse das Internet. Wäre es ein Schiff, ich wollte es versenken. Wäre es eine Scheune, ich wollte sie anzünden.

Ich hasse mich, dafür, dass ich das Internet nur hasse, weil ich meinen Umgang darin nicht kontrollieren kann. Weil ich mir wertvolle Zeit zum Schreiben stehle, indem ich wahllos und geistlos in seinen digitalen Sphären vegetiere. Ich verschwende meine Stunden für den Konsum von Bilderlisten, Pornografie und belanglosen Nachrichtenstorys, dem Lesen von narzisstischen Kommentaren zu wahllosen Themen und willkürlichen Videos zu unterentwickelten Filmen. Immer wieder verschlägt es mich dabei auf die gleichen, wenigen Websites und Portale, und deren ekelhaft grellen Oberflächen. Doch das Internet kann nichts dafür, es ist nicht schuld, dass ich es nutze wie ein unkultivierter Analphabet, der sich das Hinterteil mit einem Gutschein abwischt.

Die Freiheit des Internets überfordert mich, so wie mich jede Form von Freiheit überfordert, die ich nicht möchte, deren Ausmaße mich irritieren und bloßstellen, wie einen gewohnheitsverhärteten Gasthausbesucher, der auf einer endlosen Speisekarte immer nur dasselbe bestellen wird. Wenn ich ein Opfer meiner Natur bin, dann deshalb, weil mir die Opferrolle so unendlich leicht fällt. 

Das Internet ist nichts für Menschen wie mich, es soll seine ekelhafte Freiheit abschaffen und sich rar machen. Ich wollte, hätte ich nur einen Wunsch frei, eine exakt definierte, allgemeine Limitierung: Zwei Stunden Internet am Tag, nicht mehr. Zwei Stunden, in denen alles erledigt werden müsste, in denen ich mich darauf beschränkte, zu filtern, was wichtig wäre und was wichtig sein müsste. Zwei Stunden, in denen jeder Klick gezählt wird und nach einer exakt definierten Anzahl an Links Schluss wäre. In denen das Anklicken von kalkulierten Scheinskandalen und belanglosen Bestenlisten nicht mehr kostenfrei wäre. In denen ich entscheiden müsste, ob ich für digitalen Dünnschiss auch wirklich zahlen wollte. In denen ich gezwungen wäre, meinen Surfverkehr endlich von Grund auf zu überdenken und mir ernste Gedanken über mein Netzverhalten zu machen; Gedanken, die ohne Grenzen obsolet sind, weil jeder Gedanke ohne Grenzen obsolet ist.

Ich weiß, wie unmöglich die Erfüllung dieses weltumfassenden Wunschtraumes klingt. Sie könnte einzig und allein aus mir selbst kommen, doch dafür müsste ich aufhören zu wünschen und zu fordern und mich zu ekeln; und stattdessen einfach nur handeln. Selbständig handeln anstatt zu hassen, eigenmächtig tun anstatt zu wollen. Offline bleiben, statt ins Netz zu gehen. So einfach. So unmöglich.    

Dienstag, 24. Mai 2016

Montag, 23. Mai 2016

Relationen (I)

Auf einen, der es geschafft hat, folgen tausend, die geschafft sind.