Samstag, 23. Juli 2016

Die Unwiederholbarkeit der Dinge

Langeweile ist das Phänomen, das sich mir von allen irdischen Erscheinungen am meisten entzieht. Ich sehe, wohin Langeweile führen kann, ich begreife, welche Dämonen sie züchtet, doch ich kann nicht nachvollziehen, woher sie stammt, warum sie sich fortpflanzt und wer sie gebärt. Ist es die scheinbare Monotonie, die das Leben beherrschen soll, der bedingungslose, überzeugte Glaube an die immer gleichen Abläufe des Tages, sind es diese selbst erschaffenen Illusionen, die uns langweilen? Denn Monotonie ist eine Illusion, und noch dazu eine besonders lieblose.

Ich glaube nicht an Langeweile. Ich glaube an Ruhelosigkeit, an Belastung, an die spannende Reibung des unangekündigten Scheiterns, die mich immer wieder aufs Neue kalt erwischt; aufs Neue, weil sie mir jedes Mal neu ist. Das Scheitern kennt keine Routine, es macht mir am deutlichsten, dass jeder Tag ein neuer ist, ein Beginn ohne Gewissheit. Ich sitze vor dem Bildschirm und frage mich: Kann ich zweimal die gleiche Absage bekommen? – Nein. Aber wenn ihr Wortlaut exakt der gleiche wäre, hätte sich die Absage nicht wiederholt? – Nein. Bei der ersten Absage war meine Erwartung vielleicht höher, bei der zweiten war ich in Gedanken vielleicht schon bei Pasta oder Pornos. Weder mein Bewusstsein, noch mein Gefühl, noch meine Frisur wären in beiden Fällen identisch gewesen; beide Absagen waren mir einzigartig.

Nicht anders ist es mit dem Schreiben: Ich verfasse einen Text über die Unwiederholbarkeit der Dinge. Hätte ich den gleichen Text schreiben können, hätte ich nur eine Stunde früher begonnen, mit den exakt gleichen Gedanken im Kopf? Würde ich noch den gleichen Text schreiben, setzte ich mich erst morgen an den Computer? Nein. Ich spüre, es würde in jeder unterschiedlichen Minute, in der ich den gleichen Text verfassen wollte, ein anderer entstehen. Und selbst wenn die Worte sich glichen, hätte ich sie nie im gleichen Rhythmus, nie mit gleichem Gefühl eingetippt.

Schreiben ist unwiederholbar. Jeder Satz, jedes Wort, jeder Letter ist einzigartig, wie er gesetzt wurde. Und genauso jeder Laut, der jemals irgendwelche Lippen verließ, jeder Kaffee, der irgendwo verschüttet wurde, jede Nachtschicht, die irgendwann beginnen musste, jeder Elfmeter, der nicht gegeben wurde. Nichts davon, nichts hat sich jemals wirklich wiederholt. Ich kann den gleichen Satz öfter schreiben, ich kann den gleichen Satz öfter sagen, doch selbst der beste, der präziseste Schauspieler kann ihn nicht eins zu eins reproduzieren. Stimmung oder Stimme mögen nur um ein unmerkliches, ein winziges, ein halbes Dezibel abweichen; doch sie werden abweichen.

Und hier also, der Tag: Jeder Tagesablauf ist mir ein neues Wunder, ein erstes Mal, das gelingt oder nicht. Ich kann nicht zweimal gleich aufwachen, nicht zweimal den gleichen Kaffee aufstellen, nicht zweimal die gleiche Dusche nehmen. Es gibt keine Wiederholung. Das, was Routine genannt wird, ist nur die Blindheit gegenüber der Unwiederholbarkeit der Dinge. Der sture Glaube an Monotonie entzieht sich allein der Verantwortung gegenüber der Einzigartigkeit des Augenblicks.

Denn alles, einfach alles, was je passiert ist und je passieren wird, alles davon, alles ist einzigartig.

Montag, 18. Juli 2016

Arbeitsbefund

Ich bekam den Befund vor einigen Monaten, ohne Erklärung oder Entschuldigung. Es ist ein Geschwür (nun weiß ich es), und es wächst mit jedem neuen Morgen, wird schwerer, hässlicher und offensichtlicher; es zeichnet, es brandmarkt mich, es brennt mir auf der Stirn, beim Aufwachen, Liegenbleiben, Aufstehen, Gähnen, Anziehen, Durchsuchen, Bewerben, Zögern, Telefonieren, Kauen, Hadern, Abwarten, Hinlegen, Nichteinschlafenkönnen. Das Geschwür durchdrängt mein billig geflicktes Nervenkostüm, es lähmt meine Gedanken, Versuche und Stunden.

In dieser seltsamen Starre erklärt es mich zu einem gesellschaftlichen Ausreißer, einem, der nicht dazugehört zu seiner umgebenden Welt der Vollversicherten und Dienstzeithabenden. Ich kann dieser erwachsenen Welt nicht angehören, muss aber dennoch in ihr leben, weil mich die Geschwürstarre nicht ziehen lässt, weg, in ein freundlicheres Außerhalb, in die einzige Welt, in der ich mich sehen kann, in das verträumte Dasein zwischen zwei Buchdeckeln. Doch ich kann nicht recht schreiben, nicht fabulieren, solange in meinem Kopf die Stimme drängt, ich müsse mir einen Job suchen, müsse noch eine Bewerbung abschicken, müsse noch einmal die Stellenseiten überfliegen und alles erneut und wieder und erneut nicht einschlafen können. Und dazwischen immer wieder diese Absagen.

Als Ausreißer meines Umfeldes bin ich ein Zwischenwesen in jeder Hinsicht: Kann ich nicht schlafen, bin ich nie wirklich wach, darf ich nicht arbeiten, habe ich nie wirklich frei, muss ich nicht aus dem Haus gehen, komme ich nie irgendwo an. Arbeitslosigkeit macht krank, ernsthaft krank, weil sie mich aus dem, wofür die gesunde Norm steht, herausreißt, und ich wie der unansehnliche Dorfkrüppel zur Seite gedrängt neben der Gesellschaft humpeln muss. Es ist immer präsent, das Rufen der Stimme, das Krankheitsbild, das permanente Hinweisen auf den Befund, mit dem meine engen vier Wände tapeziert sind. Ich kann mir nicht freinehmen von der Berufssuche. Ich kann keinen Urlaub beantragen von einem Geschwür.

Die Suche nach Arbeit ist ein oft frustrierendes, mitunter endlos scheinendes Unterfangen, als wollte jemand den absurden Versuch starten, das Internet abzuschreiben; eine Aufgabe ohne Anfang und Ende. Besonders erschwerend kommt hinzu, alle Zeit der Welt für die Suche zu haben. Zu viel Zeit ist genauso schlimm wie zu wenig Zeit zu haben, oft sogar schlimmer. Ein maßloses Kontingent an Zeit überfordert, brennt und schadet, so wie alle Dinge ohne Maß.

Nie wieder möchte ich krank sein und das Geschwür vor mir hertragen, nie wieder mir das genussvolle Lesen verbieten, aus purer Angst, ein gutes Gefühl davon erhalten zu können, dass ich mir als Patient nicht leisten darf, weil ich selbst nichts geleistet habe.

Ich möchte endlich aufhören, Patient zu sein. 

Freitag, 15. Juli 2016

Montag, 4. Juli 2016

Gewöhnlicher Freitag

Ich wohne in einer ausgezeichneten Stadt – wiederholt wurde sie zur attraktivsten Metropole des Erdballs gekürt. Ihre Straßen sind sauber, ihre Mülleimer zahlreich. Das warme Licht der Frühjahrssonne färbt sie jedes Jahr grün, sogar ihre Radwege. Sie ist hell, aber nicht bleich, malerisch, aber nicht schwulstig. Ihre Penner, Süchtler, Huren und Tschickstummel sind schon lange aus ihrer Öffentlichkeit retuschiert. Manchmal, wenn ich ihr Zentrum ohne Ziel durchstreife, da trifft mich ihre reine Schönheit so sehr, dass ich glauben muss, mich in einer allumfassenden Postkarte zu bewegen. Ich gehe nicht durch eine Stadt, sondern durch ihr makellos festgehaltenes Ideal, und ganz gleich, welche Richtung ich einschlage und wohin ich auch blicke, ihre Proportionen sind golden geschnitten, ihre Farben erlesen, ihre Kontraste kunstsinnig. 

Auf dem sonnigen Platz vor meiner Wohnung, da erhält die Stadt ein weiteres, schmuckes Café. Am Tag der Eröffnung spaziere ich daran vorbei und blicke in die Gesichter ihrer zahlreichen Premierengäste. Glückliche Frauen und Männer in meinem Alter sitzen mit übereinander geschlagenen Beinen an gemeinschaftlichen Tischen, niemand sitzt allein, jeder kann sich die Getränke leisten. Sie haben Sonnenbrillen, sie haben Freizeit, sie haben Freunde. Sie trinken, lachen, rauchen mit Stil. Ein paar haben die Schuhe ausgezogen. Alle sind schön. Ich muss mich zwingen, sie nicht allzu offensichtlich anzustarren, weil ihre absurde Ausstrahlung auf mich einnehmend und allzu süchtig machend wirkt. Verzögert gehe ich weiter, ohne dabei von ihnen zu lassen, spaziere eine Runde um das Café, nur um ein weiteres Mal an den Vollkommenen vorbeigehen zu dürfen und ein paar weitere Blicke auf die lebendigen Meisterwerke zu erhaschen. Es ist, als wären alle schönen Menschen an diesem Tag gleichzeitig vor die Tür gegangen, um sich alle gleichzeitig in dieses eine Café zu setzen; doch es ist kein besonderer Tag. Es ist nur ein vollkommen gewöhnlicher Freitag in der Stadt.

An solchen Tagen fällt es mir besonders schwer, sie zu erdulden. Die Schönheit ihrer vielen jungen perfekten Menschenkörper, ihrer gepflegten Frisuren und bewussten Modeentscheidungen, sie verstört mich und schüchtert mich ein, wie das fremde Kind, das in die neue Klasse kommt, in der alle Mitschüler schon etwas weiter sind. Sie ist nicht aufzuholen, diese Schönheit, sie ist zu viel, zu intensiv, und ganz egal, wohin ich blicke, ich sehe ihr vor Glück erhitztes Lachen, ihre vitalen, nackten Beine, ihre unglaubwürdige Taille, ihren warmen Augenaufschlag, ihr unbekümmertes Spiel mit der losgelösten Strähne. Und alles davon so unerträglich natürlich und vollkommen, so viel ergreifender als der Adobe-Glamourglitzer und die fade Instagastro, so unendlich und pervers schön, dass meine Blicke sich nie daran stillen können; es ist mir schlicht unmöglich, mich an ihren Bildern satt zu sehen. Wieder einmal muss ich hungrig zu Bett.

Freitag, 1. Juli 2016