Sonntag, 26. März 2017

Unter dem frittengelben Doppelbogen

Auf meinen Spaziergängen durch die Stadt verschlägt es mich immer wieder in eine der austauschbaren Filialen jener genussbefreiten Schnellimbisskette mit dem frittengelben Doppelbogen im Logo. Ich trete ein, obwohl ich das Markenkonzept dieser Einrichtung zutiefst verachte. Ich trete ein, weil mir das Bild im Inneren mehr erzählt als tausend Blogs und ich nach genau diesen Bildern giere, die umgehend einen Schalter in mir betätigen und den Beobachtermodus des Sicherheitsorgans aktivieren. Stoisch betrachte ich all die heiter bis apathischen, modebewussten Schüler und Schülerinnen, die sich in den Sitzecken sammeln und unter dem Dach des Konsumtempels ein selbsternanntes Jugendzentrum einrichten, das sie in ihrer maßlosen, überfordernden Freizeit auffängt. Wann immer ich eine Filiale betrete, sind die Jugendlichen bereits da; sie bilden eine soziale Konstante in meinem Leben, ohne je mit ihnen Kontakt zu haben.

Doch meine Aufmerksamkeit gilt nicht ihnen. Mein Blick ergreift sie nur so lange, bis ich die sauber blitzende, raumschiffartige Theke erreicht habe und in die Gesichter dahinter sehen darf – die jungen, emsigen, ausgebeuteten Mitarbeiter der Marke, Mitarbeiter, die täglich variieren und mir dennoch seltsam vertraut erscheinen. Vielleicht erkenne ich mich in ihnen wieder, vielleicht kann ich mir vorstellen, an ihrer statt zu stehen – wenn ich ihre Geschwindigkeit hätte und eine Kasse bedienen könnte.

Zögernd stehe ich an der sterilen Raumschiffverkleidung und bestelle schließlich einen einzelnen Cheeseburger, während ich den Euro in der Hosentasche ertaste und mit meinen Blicken bei den drei jungen Thekenkräften verbleibe, die ich schon in der Warteschlange fixiert hatte – drei Menschen, in denen sich das ethnische Spektrum der Stadt bündelt, deren Körperhaltungen und Hautfarben nicht unterschiedlicher sein könnten. Menschen mit verschiedensten Wurzeln, deren Stammbäume Kontinente überschatten. Bunte Menschen aus aller Welt, vereint unter dem frittengelben Doppelbogen.

Wie kommt es, dass ich immer wieder hier lande, obwohl der Burger kaum schmeckt und ich mich offen schäme, diese lieblose Einrichtung mit meinem Euro zu unterstützen? – Ich sage, ich bin hier wegen ihnen. Wegen der kleinen Inderin mit dem Trainee-Button auf der Brust, dem tätowierten Deutschen mit dem Riesenbizeps, der übermüdet lächelnden Dame mit dem dunklen Afro. Diese Menschen auf der anderen Seite der Theke sind es, Hintermenschen, die mich herlocken, in diese sonderbare Raumschiffstation, und mir meinen dunklen Tag erhellen, allein durch das Wissen, dass es sie gibt. Ich bewundere sie, jeden einzelnen von ihnen, sie machen einen wunderbaren Job zu furchtbaren Konditionen, werden annähernd schlecht entlohnt wie ich, doch sind sie zusätzlich einem kulturlosen Umfeld ausgeliefert, das nur aus Normierung und Kapital besteht, einer Schnellkonsumphilosophie, die nirgendwohin führt, einer Droge ohne Genuss. Ich bewundere sie, die Tag und Nacht einer Arbeit nachgehen, die niemand machen möchte, für die es mitleidige Mienen setzt, wenn man den Arbeitstitel nur ausspricht.

Jedes Mal, wenn ich wieder in der Warteschlange stehe, bevor ich meinen Euro hervorhole, da stelle ich mir ihre Geschichten vor, frage mich, woher sie kommen und was ihre Träume sind, wofür sie arbeiten und wofür sie einstehen – und wenn ich mich traute, ich wollte sie ausfragen und ihnen lauschen, über Stunden und Wochen, alles, ja, alles wollte ich von ihnen wissen, ihre gesamte Geschichte, von ihrer Geburt bis hin zu der Geste, die mir den Cheeseburger in die Hand drückt.

Und ich stelle mir jede einzelne ihrer unbekannten Geschichten um so vieles spannender vor, als es das normierte Erfolgsmärchen des Markengründers je sein könnte.

Dienstag, 21. März 2017

Donnerstag, 16. März 2017

Das absolute Kunstwerk

Immer wieder habe ich das seltsame Gefühl, filmisch zu träumen. Also eben so zu träumen, als befände ich mich in einem interaktiven Filmkunstwerk, mitsamt all seinen handwerklichen Raffinessen und medialen Markenzeichen, mit seinen sanften Überblendungen, harten Schnitten, dynamisch-rhythmischen Montagen und, manchmal, sogar überstilisierte Zeitlupeneinstellungen, in denen sich das unmittelbare Geschehen wie ein beschwertes Pendel in bodenlose Langsamkeit zieht.

Doch wie könnte – trotz all dieser Eigenheiten – ein nächtlicher, unbewusster Trauminhalt jemals filmisch sein? Der Traum existiert seit Menschengedenken, die Filmgeschichte weist gerade einmal lächerlich kurze 120 Jahre auf. Warum also sollte sich der Traum für eine pubertäre, unreife Erfindung wie den Film interessieren? Was nützte er ihm? Mein Traum kennt kein Filmvokabular, er kennt nur mich, und auch von mir nicht mehr als mein Unterbewusstsein.

Ich sage, ich träume filmisch, doch im Grunde sage ich damit das Gegenteil, ich sage, gewisse Filme weisen Merkmale des Traums auf. Denn der Traum muss immer vor der Kunst stehen und jedes Kunststück muss vom Traum beeinflusst sein – ganz gleich, ob die Kategorie nun Film, Literatur, Musik oder Malerei heißt, die Künste werken allesamt nach den Regeln des Traums, bauen Ängste und Wünsche ab wie Erz und verpacken sie in eine sinnlose Form, die sich selbst genügt; eine Form, in der ich Bedeutung finden möchte, weil es keine gibt, und die mich dadurch erst recht zur Suche animiert. Im Schreiben bin ich ein Sklave meiner Gedanken, im Traum aber bin ich der gedankenbefreite Künstlerautomat, der sich wie auf Schienen dem Bilderreigen nähert und an sich selbst vorbeizieht, gleichzeitig Architekt und Tourist seiner eigenen Welt ist, sich mitreißen lässt vom Unterbewusstseinsstrom, der uns Menschen überhaupt erst ermöglicht, im Wachen zu schöpfen – denn ohne Traum gäbe es keine Ideale und Paradiese, keine göttliche Komödie, keine Erinnerung an schmelzende Uhren, keine dunkle Seite des Mondes, keine kreisförmigen Ruinen, keinen Bloom’s Day, keine Montage der Attraktion. Jedes Kunstwerk ist eine hilflos beschränkte Annäherung an den Traum, dessen absolute Erfahrung nie vollständig dargestellt werden kann, weil die verschlafene Erinnerung ihn bereits abschwächt und zusammenfasst. Zeit seines Lebens wollte er etwas schreiben, dass sich ganz wie ein Traum anfühlt, sagte Borges einmal. Es sei ihm nicht gelungen, ergänzte er.

Ich sage, ich träume filmisch, weil es mir an präziseren Worten mangelt, um das vage, unhandliche Traumerlebnis in seine nachträgliche Form zu überschreiben. Die morgendliche Sehnsucht, den Traum im Wachen so wiederzugeben, wie er sich im Schlaf zeigte, muss stets unerfüllt bleiben; und jedes Kunstwerk muss ein unvollendeter Traumtransfer bleiben, weil der Traum introvertiert ist und sich niemandem zeigt, außer dem Träumer selbst. Es gibt nichts Intimeres als den Traum – und weil der Traum immer privat ist, kann er nie ein äußeres Publikum finden. Nie wirklich.

Das absolute Kunstwerk, es wäre ein öffentlicher Traum.