Donnerstag, 12. November 2020

Sonntag, 8. November 2020

Fünf vor Sechs

Jeder, der jemals in Aufsicht oder Handel gewerkt hat, kennt ihn: den Typ Mensch, der immer fünf Minuten vor der Schließung kommt, der nur noch kurz einen Blick riskieren möchte, der sich dreimal sagen lässt „Wir schließen jetzt“, bevor er sich, höchst widerwillig, zum Ausgang bewegt, und dabei immer, immer, noch einmal stehenbleibt, um sich nur noch kurz dieses eine Bild anzusehen, nur noch ein Foto zu schießen, ganz schnell, natürlich, und vielleicht noch ein Blick auf die Uhr: Sie schließen doch erst in einer Minute. 

Letzten Samstag, im Auktionshaus: eine Dame kommt in die Schaustellung, die Zwischentüren schließen bereits. Sie fragt nach einem Künstler, nie gehört, ich verweise sie an den Katalog im Netz, leider, wir schließen schon. Ob sie nicht noch eine Runde gehen dürfe, sagt sie hartnäckig, sie wäre schließlich viel zu lange bei dem Schmuck hängengeblieben, der sie ja gar nicht interessiere. „Tut uns leid, wir schließen.“ Und ob bei den Möbelstücken nicht etwas Asiatisches dabei ist, fragt sie weiter, schielt an mir vorbei in die Ausstellung, ob sie nicht noch einen Blick riskieren könne. Ich bin versucht, mit ihr zu diskutieren, schließlich retten mich meine Kollegen: „Wir haben schon zu. Kommen Sie Montag wieder.“ Die Worte fallen wie die Tür ins Schloss, die Dame wendet sich wortlos ab, eine Beschwerde ist zu erwarten; ihr Menschentypus liebt Beschwerden.

Immer und immer wieder stoße ich auf diesen Typus, auf diese Damen und Herren, die das Prinzip der Öffnungszeiten nicht verstehen oder akzeptieren wollen, weil sie einfach nicht verstehen oder akzeptieren können, dass man für sie keine Ausnahmen macht. Es müssen Menschen sein, denke ich, die selbst nie an unserer Stelle waren, die niemals in ähnlicher Position gearbeitet haben wie eine Aufsicht; die Worte „Wir schließen jetzt“ empfinden sie als eine Art persönliche Anfeindung, eine Beleidigung, die speziell und ausschließlich gegen sie gerichtet ist, und sie können nicht nachvollziehen, können einfach nicht begreifen, warum wir nach acht Stunden in den schwarzen, durchgeschwitzten Dienstschuhen nicht noch ein paar Minuten für sie dranhängen. Weil sie nie in unseren Schuhen gestanden sind.

Es ist der Mangel an Erfahrung, der zu einem Mangel an Respekt führt. Nicht zu wissen, wie es ist, nach einem langen, ausgestandenen Tag nach Hause zu wollen, in der letzten Stunde schon jede Minute zu zählen, weil die Kniescheiben knirschen, der Magen knurrt, die Unfähigkeit, sich in eine Aufsicht hineinzuversetzen, die mit allerletzter Freundlichkeit zum Ausgang bittet, sie ist das Kennzeichen aller, die um fünf vor Sechs noch einmal durch die Ausstellung wollen, die alles immer in letzter Minute wollen; nur nicht gehen. Hätten diese Menschen nur einen einzigen ganzen Tag im Museum, im Schauraum, im Dienstanzug verbringen müssen, dann wären sie bereits ein anderer. Dann würden sie vielleicht verstehen (respektieren), dass vor den finalen Minuten viele Stunden standen, dass keine unnötige Strenge, kein persönlicher Affront in den Worten „Wir schließen“ steckt, und vielleicht, vielleicht würden sie dann in Zukunft sogar rechtzeitig kommen, um fünf Minuten vor der Zeit zu gehen. Von selbst. Aus Respekt.

Natürlich, die Hoffnung darauf ist gering. Was bleibt, ist die Möglichkeit, an ihrem Beispiel mich selbst zu prüfen: es ihnen nicht gleichzutun, wann immer ich privat durch Museumsräume, Buchhandlungen, Supermarktregale streife. Aus Respekt vor denen, die den Laden am Laufen halten, bis zum Schluss. Nicht länger.

Mittwoch, 4. November 2020

Wegen Renoir

Ich bin wieder hier; weil sonst alles schließt, weil selbst im Fürstenschloss keine Arbeit auf mich wartet, stehe ich wieder hier, wo ich schon im Winter vor zwei Jahren stand: im führenden Auktionshaus der Stadt. Es ist, wie jede Ausstellung, eine geschützte, zweite Welt, parallel zum Draußen, und doch ist vieles anders, vieles lockerer als im Museum, muss ich mich als Aufsicht wieder umstellen und die Reflexe unterdrücken: Rucksäcke, Schirme, Telefone? Alles unerheblich. Abstände? Völlig nebensächlich. Sämtliche Gemälde, Teppiche, Möbel und Skulpturen sind hier nicht schüchtern, verschämt, sie verstecken sich nicht hinter Abgrenzungen, sie hören keinen Alarm, sie wollen beschaut und berührt werden, geprüft, gewogen, liebgewonnen, bevor sie im Auktionssaal den Besitzer wechseln. Die Kundenfreiheit in der Vorbesichtigung ist die Grundvoraussetzung des Auktionshauses. Und seine Schwachstelle.

Es geschah wenige Tage, bevor ich das erste Mal hier stand, im November vor zwei Jahren; drei Männer gingen zielgerichtet in den ersten Stock des Hauses und betraten die Schaustellung. Neunzig Sekunden später waren sie verschwunden – und ein Renoir mit ihnen. Ich erinnere mich, erinnere mich deutlich an meine junge Kollegin (geflochtenes Haar, unfassbar freundlich), die an jenem Tag die Aufsicht hatte. Sie stand am anderen Ende des Raums, konnte die Aktion nicht sehen, nur hören, wie einer der Männer das Bild von der Wand nahm, es aus dem Rahmen drückte, in die Einkaufstasche, die der zweite aufhielt (wie die Kameras später zeigten), ehe sich alle drei im Treppenhaus verstreuten. Die junge Kollegin hat es mir erzählt, in jedem Detail, sie hat alles richtig gemacht, sofort den Alarmknopf gedrückt, die Täter waren dennoch schneller. Sie kannten alle Ausgänge, waren schon verschwunden, als die Sirenen eintrafen.

Zwei Wochen später wurde einer der Männer in Amsterdam gefasst, von dem Bild fehlt bis heute jede Spur. Finanziell hielt sich der Verlust wohl in Grenzen – die blasse Küstenlandschaft war kein Hauptwerk Renoirs, und wofür hat man auch Versicherungen – schlimmer war der Imageschaden für das Haus: Kein Tag in den folgenden Wochen, an dem nicht jemand über den Verlust scherzte, hohnlachend nachfragte. Die Berichterstattung tat ihr übriges; am schlimmsten aber war das Wissen um meine junge, freundliche Kollegin: Sie wurde noch am Tag des Diebstahls von der Polizei verhört, musste alles noch einmal durchleben, und obwohl sie keine Schuld traf, sie gar keine Schuld haben konnte, wusste ich, dass sie sich Vorwürfe machte; nicht, weil ich mich anmaßte, es zu erraten – ich wusste es, weil sie es mir sagte: In diesem furchtbar traurigen, gnadenlos neutralen Erzählton, der so viel stärker, ehrlicher ist als jedes ausgestellte Wort, mit dieser zurückgenommenen Stimme hat sie mir alles mitgeteilt, so selbstverständlich, als kannten wir einander schon seit Jahren. Sehr schwierig war das alles, sehr viel auf einmal, sagt sie, denn erst am Tag davor hat ihr Freund Schluss gemacht. Und sie fügt an, freundlich wie immer: „Das ist einfach nicht meine Woche.“

Als ich heute wieder hier stehe, in den Schaustellungen des ersten Stockes, sehe ich nur bekannte Gesichter, alle Aufsichten von damals erkenne ich wieder – nur eine fehlt. Später frage ich nach der jungen Kollegin mit den geflochtenen Haaren. Ja, heißt es, die sei noch hier, arbeite jetzt aber in einer anderen Abteilung. Ich hoffe, nicht wegen Renoir.