Donnerstag, 10. Dezember 2020

Fantasie und Wissen

Es ist Dezember, zwei Wochen bis Weihnachten. Der Handel hat wieder geöffnet, ich stehe wieder im Auktionshaus, der erste Schnee ist wieder verschwunden. Die Schauräume im ersten Stock sind behangen wie in Petersburg, die frische Wandfarbe verschwindet hinter unzähligen, perfekt ausgeleuchteten Interieurs, starren Winter-, Wald- und Wiesenlandschaften, unbekannten Damen- und Herrenporträts, liebevoll gepinselten Hausdoggen, Rennpferden und Wildschweinen: die Kunst des 19. Jahrhunderts kommt demnächst unter den Hammer.

Ich stehe im hintersten Raum, wir nennen ihn Karl Saal, prüfe, ob jedes Bild am rechten Ort hängt, als ich selbst an einem Gemälde hängenbleibe. Die anderen Werke lassen mich kalt, sind alle gut, aber ohne Geheimnis, doch dieses eine Bild, vor dem ich jetzt stehe, es ist anders, mehr; ich lese den Wandsticker, es stammt von einem Schweizer, Benjamin Vautier, nie gehört. Freudige Erwartung in der Stube hat er es genannt, 1874 datiert. Im Grunde ein typisches Bauernpanorama, eine ländliche Familienaufstellung, hundertmal gesehen – doch nur auf den ersten Blick: In der Stube sammeln sich die Kinder, vier Mäderln, zwei Buben, stehen beim Tisch, neben dem Kamin, und freudig, erwartungsvoll blicken sie nach draußen, durch die geöffnete Tür, die einen hellen und breiten Lichtstrahl ins braunrote Zimmer wirft – doch was die Kinder sehen, worauf sie sich freuen, das sieht man nicht; das Ziel ihrer geheimnisvollen Erwartung hat uns der Künstler bewusst vorenthalten. Alle Augen sind auf ein unsichtbares Außerhalb gerichtet, nur die alte Großmutter sitzt abseits des Lichts, sitzt dunkel am Kamin, und blickt in die andere Richtung. Warum dreht sie den Kopf nicht? Und worauf warten, worauf freuen sich die lächelnden Kinder bloß?

Vielleicht sind es die Eltern, die im Bild fehlen, die endlich nach Hause kommen; naheliegend. Aber vielleicht erzählt Vautier auch noch viel mehr: Die Kinder blicken allesamt nach vorne, sie sehen gespannt in die Zukunft, in all das Leben, das noch auf sie wartet, und sie freuen sich, freuen sich unendlich auf die helle Verheißung des Wenn ich groß bin, während das Großmütterchen sich am Kaminfeuer wärmt und gelassen zurückblickt – ihr Blick ins Leben schaut nicht in die Zukunft, sondern in die Gegenrichtung; sie hat bereits alles gelebt, kann jetzt entspannt in die Erinnerung schauen, ohne sich den Hals zu verrenken. Welches Bild hätte die Dualität von Jugend und Alter jemals besser beleuchtet als dieses vergessene Auktionsschnäppchen? 

In der Mittagspause sitze ich mit einem Kollegen in unserer eigenen Stube, dem winzigen Pausenraum, in dem es zu dritt schon zu eng wird. Doch in diesem Moment ist niemand hier, außer uns beiden, eine eigenartige Ruhe erfüllt den Raum, in dem sonst immer Hektik und Bewegung und gute Laune herrscht, und mein Kollege erzählt mir aus seinem Leben. Erklärt mir, er habe heute viel mehr Fantasie als noch als Kind. Weil ihm als Kind das Wissen gefehlt hat. Und Fantasie, sagt er, kann sich erst richtig entfalten, wenn man viel weiß. Je mehr Wissen man besitzt, desto endloser werden erst die Möglichkeiten, es zu verwenden.

Nach der Pause blicke ich wieder auf die Freudige Erwartung. Vielleicht ist es genau das, denke ich, vielleicht freuen sich die Kinder unbewusst auf all das Wissen, das sie noch erlangen werden, um damit ihrer Fantasie keine Grenzen mehr zu setzen. Sie freuen sich nicht bloß auf die Zukunft, die entgegenstrahlt, sie freuen sich auf das, was die Alte am Kamin bereits innehat: die Jahre, das Älterwerden. Sie fliehen nicht vor dem Alter, sie blicken ihm mutig, freudig, angstfrei entgegen. Weil sie noch nicht wissen, was sie erwartet.

Nach vorne schauen, das heißt auch immer: dem Tod ins Auge schauen. Und diese Konfrontation, das wusste Benjamin Vautier, sie übersteigt den Rahmen; sie wartet außerhalb des Bildes – in der Fantasie.

Freitag, 4. Dezember 2020

Der Koala

Er geht als Erster zu Bett und steht als Letzter auf. Er schläft zwölf, achtzehn, bald zwanzig Stunden am Stück, er verbringt mehr Zeit im Bett als in der Welt. Seine Welt ist das Bett, sein Himmel die Decke, der Schlafpolster ein Wölkchen; kein Wecker, kein Alarm, kein Krach, kein Sonnenschein kann ihn wecken; er schläft in die Tage, seit er ein Kind ist, er schläft besser als du und ich, weil er es ein Leben lang geübt hat, weil er nicht aufhört, auszuschlafen. Er ist ein Meister seines Fachs, und sein Fach ist der süße Schlummer, der tiefe Traum, die Genügsamkeit des Liegenbleibens. 

„Schlaf“, schreibt Hebbel, „ist genossener Tod“, und niemand versteht diesen Satz besser als er – er kennt alle Arten von Schlaf, hat sie alle verinnerlicht, und wenn er stirbt, dann kann ihn selbst der Todesschlaf nicht überrumpeln. Zu viel, zu sehr hat er zuvor genossen, um Angst vor dem ewigen, großen Schlaf zu haben. Zwanzig Stunden im Bett, in der Traumlandschaft, jeden Tag – das ist, das kann nicht notwendig sein, auf keinen Fall; das ist eine Entscheidung. Seine Entscheidung. Was lässt sich da noch erledigen? Was lässt sich erreichen? Er muss nichts erreichen. Er hat seine Bedürfnisse in den Traum gelagert, er braucht nichts, vermisst nichts, er wacht nur noch auf, um sich auf den nächsten Schlaf zu freuen; und das genügt ihm. Er schläft, um zu schlafen, schläft, um zu träumen. Weil er weiß, dass man schlafen muss, um zu träumen. Träumer, Schläfer, Faulenzer, nennt man ihn. Du bist wie ein Koala, wird ihm gesagt. Du verschläfst dein Leben, wirft man ihm vor. – Ich lebe den Schlaf, erwidert er. Und legt sich wieder hin.