Samstag, 30. Dezember 2017

Der Meister der Nische

Nach langer, viel zu langer Zeit gehe ich wieder einmal ohne Dienstanzug ins Museum, sehe mir die Rubens-Schau in der kunsthistorischen Konkurrenz an. Es ist ein süßes Gefühl, die Aufseher des Hauses einmal im Licht der Freizeit zu betrachten, einmal zum Beobachter der Beobachtenden zu werden, und still mit ihnen mitzufühlen, wenn die Bildalarme losheulen und die Dienstanzüge durch die Räume hetzen. Fast verliere ich mich in ihren Gesten und Gesichtern und muss mich erst daran erinnern, für wen ich eigentlich hier bin.

Rubens, ein Name so klingend wie ein Popstar (der er auch war), ein „Tarantino der Malerei“, wie ihn das Staatsfernsehen wenig subtil bewarb, ein stilistisches Vorbild für alle Graphic-Novel-Pioniere und Superheldenzeichner, die ihre Ästhetik aus wild wuchernden Muskelbergen und übertrieben üppigen Schenkeln beziehen, aus dem Fleischlichen, Schwitzenden, Unverhüllten, Sinnlichen. Überall posieren die Überkörper in makelloser Anspannung, und doch fehlen hier, in dieser umfangreichen, ausgelasteten Ausstellung, ein paar wichtige Werke. Ich stelle es ohne Überraschung fest, weil ich weiß, wo sie wohnen: In meinem zweiten Wohnzimmer, dem Fürstenpalais. Dort, im ersten Stock, treffe ich sie alle paar Wochen, grüße Rubens’ intimste, spannendste Bilder bei privaten Führungen, freue mich jedes Mal auf ein Wiedersehen mit dem Porträt der beiden Söhne, dem Bildnis der Tochter, der Venus im Spiegel.
                                                                                        
Sie alle fehlen hier. Stattdessen wollen meterhohe Kirchenthemen und antike Mythenfiguren überwältigen (sie tun es), und dennoch hält mich erst ein spätes Bild in den letzten Räumen, ein Bild, das aus Rubens’ Ölmassen massiv heraus sticht. Es ist Der gefesselte Prometheus, eine lebensgroße Darstellung des göttlich Gestraften, dem ein Adlervogel die Leber zerfrisst, gewohnt dramatisch, kraftvoll und explizit. Doch etwas ist anders an diesem Werk, etwas hebt es ab, etwas stimmt nicht mit den Strichen.

Es steht darunter, winzig klein, wie eine Fußnote, eine marginale Ergänzung, fast schon ein Gefallen, es zu erwähnen: der Adler im Bild, der geflügelte Henker, der den Prometheus Tag für Tag verzehrt, stammt nicht von Rubens. Er stammt von einem anderen, flämischen Malergenie, nämlich von Frans Snyders. Er muss es tun, denn er ist zu gut, die Federn zu genial, um von irgendjemand anderem zu sein, außer ihm; wenn Rubens der Tarantino seiner Zeit war, dann war Snyders der Andy Serkis seiner Zeit – derjenige, der immer dann angefordert wird, wenn irgendwo eine Tierdarstellung vonnöten ist. Denn Snyders konnte Tiere zu Leben erwecken wie kein zweiter, er verstand es, Vogelwesen, liegende Löwen und erlesene Meeresgaben enzyklopädisch genau wiederzugeben, sie zu zeigen, als wäre er einer von ihnen. Als wäre er ein Adler in Mannsgestalt, allein, um seine Artsverwandten malen zu können.

Er war der vielleicht größte Tiermaler seiner Zeit, doch er war die Nummer eins in einer Nische; deswegen strömen die Generationen zu Rubens und nicht zu ihm, deswegen ist eine Erfolgsschau nach dem Popstar benannt und nicht nach dem Charakterdarsteller. Und ich stelle mir vor, Snyders wusste das. Er wusste, dass er mit dem, was er tat, nie so berühmt werden könnte wie ein Rubens, weil seine Perfektion nie aus der Nische treten würde. Und egal, wie brillant und dynamisch sein Adler im Prometheus auch ist, es bleibt ein Adler, der ein Rubensbild vollendet. Es ist ein gefühltes „nur“, das leise in Snyders’ Nische durchklingt: Er ist „nur“ für seine Tiere bekannt, er hat Rubens’ Meisterwerke „nur“ ergänzt, weshalb wir uns heute nur an Rubens erinnern.

Doch woher stammt es, dieses „nur“? Und wenn nur ich es ihm zuschriebe? Es ist eine dumme, eine unnötig angelernte Denkerei, gut und gut so zu vergleichen, als ob man sich zwischen ihnen entscheiden müsste – und es macht mich wütend, dieses Denken, ich mag es nicht, will es abschaben wie ein Stück Hautkruste, mag es zurücklassen und mich sofort dafür entschuldigen ... Vielleicht in Form eines kleinen, persönlichen Textes, dessen Titel nicht an den großen Popstar, sondern an den kleinen, meisterhaften Kollegen gerichtet ist, der so viel mehr war als nur eine freundliche Fußnote – denn ohne Nischen keine Ganzheit, ohne Details keine Größe, und ohne Adler kein Prometheus. Ich stelle mir vor, Snyders wusste das.

Sonntag, 24. Dezember 2017

Über das Lachen

Montaignes Schule ist einfach: genieße und denke und höre endlich auf, zu jammern. Doch weil alles Einfache unmenschlich schwer zu befolgen ist, sind die simpelsten Lehren auch oft die einsamsten, und nicht selten werden sie komplett vergessen und verdreht, wie die Gebote; so auch eine der kürzesten Schulstunden des Montaigne, seine simple, ernste Aufforderung, lachend die Wahrheit zu sagen. Denn „nie hat einer, der finster dreinblickt und abstoßend wirkt, etwas ausgerichtet.“

Die Probe der Zeit sieht das natürlich anders: Die finstere Gegenwart belächelt dieses Lachen, schmäht das lächelnde Gemüt, das nicht produktiv ist, das keine Kompetenz ausstrahlt und immer irgendwie als stumpfsinnig oder verdächtig empfunden wird, während der finstere, steinerne Blick für wahre Autorität in seinen Worten sorgt. Regelmäßig beobachte ich, wie mein (un)bewusstes Lächeln dagegen nur Verwirrung stiftet, wie eine lachende Antwort auf eine wahllose Frage im Gegenüber etwas Bedrückendes auslöst, eine Grundskepsis, als fühlte es sich belogen und betrogen – doch warum sollte ich, sollte irgendjemand im Lachen lügen? Die Lüge ist vorsichtig, verhalten, immer auf der Hut, enttarnt zu werden (sie muss es sein). Sie lebt in permanenter Gefahr, in Anspannung aller Muskeln, in Furcht um ihr baldiges, absehbares Ende – wie könnte sie dabei entspannt lächeln? Sie tut es eben nicht. Sie ist ernst, allzu ernst, und steinern lebt sie ein Leben, das alles haben kann; nur ein echtes, ein wahrhaftiges und befreites Lachen, das muss der Lüge verwehrt bleiben, denn dazu kann sie nicht fähig sein, ist es niemals gewesen.

Es ist aber jener beeindruckende Trick des Schauspielers (der in seiner Rolle verschwindet), gelassen zu lügen und grimmig die Wahrheit zu berichten, der die allgemeine Wahrnehmung scheinbar mühelos verschoben hat, und Montaignes Schule und sein lachendes Credo ins Gegenteil verzerrte; der es geschafft hat, sein Publikum (das breite) soweit zu bringen, eine lachende Wahrheit als unglaubwürdig wahrzunehmen. Es ist dieses finstere Selbstverständnis, das mich heute bedrückt: Spreche ich die Wahrheit mit einem breiten Lächeln, werde ich mit Skepsis beäugt. Lüge ich mit steinerner Mine, glaubt man mir jedes Wort.

Dienstag, 12. Dezember 2017

Masse und Meter

Regeln, die für das Individuum lächerlich erscheinen, finden zumeist in der Masse ihre Berechtigung. Das paradoxe daran ist, je größer die Masse, desto gröber, haltloser wird mitunter die Regelauslegung. Da, wo die Einhaltung der Regel ihren eigentlichen Sinn erfährt, da ist sie schon dem regellosen Diktum der Masse ausgeliefert, schnell zertrampelt von der animalisch-einheitlichen Herdenbewegung, in der das Individuum schnell verschwimmt und schließlich untergeht.

Heute ist Samstag, das Fest der Liebe naht, und das Museum platzt aus seinen Nähten. Es ist zu viel, denke ich, hier, im ersten Stock der Touristensammlung, einfach zu viel, von allem, von überall, zu viele Beine, zu viele Schultern, zu viele Ellbogen; nur Respekt, davon ist wie immer zu wenig in der Herde. Es ist ein seltsames Spiel der Verhältnisse: Ich beobachte, wie sich erwachsene Menschen völlig gedankenlos und ohne jeden Respektabstand gegen jahrhundertealte, unwiederholbare Kunstschätze lehnen, während sie an anderer Stelle ehrfurchtsvoll stehen bleiben, um einem Pärchen nicht in den Schnapsschuss zu laufen.

Ich stehe heute auf der Marathonposition im ersten Stock, wobei stehen hier keine Option ist, der raue Ton des Oberaufsehers verlangt nach Bewegung, bei diesen Massen gibt es keinen, darf es keinen Stillstand geben, ich muss in fünf Räumen zugleich sein, und dazwischen im Marmorsaal, der Besucher- und Himmelsrichtungen trennt. Ich hetze von Nordsüd nach Nordwest und wieder retour, vier Stunden bis zur ersten Pause, und mit jedem Schritt, mit jedem Meter wächst die Masse um mich herum, wie eine Armee stürmt sie das Schloss in überlegener Anzahl, schickt sogar ihre Kinder in das Getümmel, und nicht selten vorauseilend, rennend, ohne jede Furcht.

Die Jackenregel, obsolet, das Rucksackverbot, aufgehoben; die Garderobe funkt wiederholt ihre Überforderung durch, verlangt nach Unterstützung, sofortiger. Es ist Mittag, der erste Bildalarm tönt mir in den Ohren, Van Goghs Landschaft bei Auvers wurde angegriffen (es hat einen Grund, warum sie hinter Glas konserviert), ein schneller, prüfender Blick in Nordwest 2, ein Funkspruch an die Zentrale, mit dem Bild sei alles in Ordnung. Und wieder retour. Ich zähle meine Schritte nicht mehr, komme nicht dazu, Meter für Meter muss ich Wege durch die Masse finden und das Gröbste verhindern, den Mund in halboffener Krampfstarre ob der ständigen Gefahr, die in allen Räumen lauert, den vielen blinden Umdrehungen gegen den reitenden Napoleon, den ausgestreckten Händen zu Messerschmidts Büsten; Statuen und Goldrahmen befassend, als wären sie robuste Spielzeuge, oder zutrauliche Tierchen, die nur darauf warten, gestreichelt zu werden.

Es ist zu viel, denke ich wieder, zum ersten Mal, seit ich in diesem Objekt arbeite, zu viel Andrang, zu viel Masse, zu viel Handykameras für zu wenig Platz. Natürlich gab und gibt es immer wieder Herdenschübe, hier, wo das Gold zuhause ist, doch nie in dieser Dichte, in dieser umsatzstarken Enge, in der kein Platz für Platzangst ist. Dieser Samstag, diese Masse, das ist neu. Ein Rekordjahr, bestätigt mir die Direktion (in der Zeitung, kurz darauf), ein neuer Besucherrekord und veritabler Jubelumsatz, der sanft angehobene Eintrittspreis und die längeren Öffnungszeiten dabei sicher nicht nachteilig. Und auch schon neue, verkaufsfördernde Ideenkonzepte für das nächste Jahr, ein veritables Rezept, um die Masse noch weiter und noch gehaltvoller aufgehen zu lassen.

Manchmal, zwischen den Metern, da frage ich mich, wie viel Platz es eigentlich braucht, um ein Kunstwerk für sich zu erfahren. Ob es dafür nicht einer Regel bedarf, selbst wenn sie für den Einzelnen lächerlich erscheint. Natürlich, ich weiß, es sind die falschen Fragen. „Die einzig wichtige Frage ist“, sagt ein Kollege in der Mittagspause trocken, „wie bekommen wir noch mehr Menschen ins Museum?“

Freitag, 8. Dezember 2017

Der Dreisekundenmensch

Er wird auch scherzhaft Der Goldfisch genannt, frei nach der Mär vom sekundenkurzen Fischgedächtnis, das sich im engen Wasserglas mit jeder Schwimmrunde erneuert; und damit immer etwas zu entdecken hat, immer wie neu in der Glaskugel ankommend, immer das Wasser betrachtend, als sähe er es zum ersten Mal.

Bei ihm aber ist es keine entschuldigende Erfindung, ist es nicht behauptet oder gespielt. Er kennt gar kein Spiel, kennt kein „als“ oder „ob“, weil er nichts kennt, was die Dreisekundengrenze überschreitet. Er weiß nichts von Druck oder Enttäuschung, hat weder Hohn, noch Hass in sich, weil er sich nichts davon merken kann. Jedes abzielende, aggressive Gefühl muss durch Erfahrung und Schule angelernt werden, doch dafür hat er keine Zeit, denn niemand, nicht einmal der Genius, lernt in drei Sekunden zu hassen. Er aber, der Goldfisch, besitzt nichts Hässliches, besitzt gar keine Gefühle, außer die natürlichen, instinktiven, denn sie allein sind es, die kein Gedächtnis verlangen; sie setzen einfach ein. Wird er müde, schläft er ein, knurrt der Magen, sucht er nach Nahrung.

Er lebt im ständigen Werden, sein Alltag ist permanente Neuerung, sein Staunen ein Dauerzustand. Für drei Sekunden ist er Mensch, nicht länger, denn danach hat er sich selbst vergessen, und ohne Erinnerung existiert der Mensch nicht, ohne Erinnerung ist er nur ein Menschentier, ein Männchen oder Weibchen, ein Exemplar seiner Spezies, nicht mehr. Im Vergessen, da trifft dies auf ihn zu, da reduziert er sich auf den namenlosen Zweibeiner, doch dazwischen, in jenen drei Sekunden, bevor sein Gedächtnis zurück auf Anfang stellt, da sieht er so klar, so konturiert, so allumfassend naiv, wie ein Neugeborenes, das mit schärfsten Sinnen und vollem Bewusstsein zur Welt kommt.

In diesen drei Sekunden lebt er. In ihrem Vergessen stirbt er. Alle drei Sekunden erschafft er sich neu, erlebt er ein neues Leben; alle drei Sekunden ist er der allererste Mensch, ist er Adam, ist er Columbus, ist er Galilei – und alle zugleich und immer wieder. Was für mich ein Gähnen ist, bedeutet für ihn eine Lebenszeit, ein ganzheitliches Dasein: Drei Sekunden sind seine Ewigkeit. Und er lebt diese Ewigkeit, lebt sie wieder und wieder und wieder von neuem, er lebt die radikale, zwanghafte Unwiederholbarkeit der Dinge, weil sein Gedächtnis keine Routine zulässt. Wie es sich wohl anfühlen muss, aus nichts außer ersten Malen zu bestehen? Er wird es nie erfahren.

Montag, 4. Dezember 2017

Samstag, 2. Dezember 2017

Perspektiven

Es ist Abend, finster, ich gehe hinaus Richtung Supermarkt, um mir etwas zu kaufen, das ich nicht brauche. Ich hätte in der wohlig warmen Wohnung bleiben können, stattdessen trete ich auf den seimigen Asphalt, verschmutzt vom ersten Schnee, und sturer Wind weht mich an, verfolgt mich, als hätte er einen Grund. Die Marktstände am Eck schließen langsam, bauen ihre Regheit ab, ich stapfe vorbei an den zahllosen Verkäufern und Marktschreiern, die immer wirken, als steckten sie mitten in einer Plansequenz, die immer gerade irgendetwas tragen, schieben oder abstellen, und hier und da steht ein dunkelhäutiger Junge zwischen den Ständen, steht da und blickt mich stumm an, sonst nichts; ich gehe weiter und friere, wie immer, wenn es kalt ist.

Im Supermarkt ist wenig bis nichts los, bald stehe ich mit meinen wenigen Zufallsprodukten an der Kasse, vor mir nur ein gebückter Mann in schwarzer Jacke, er zahlt für eine einzelne, grelle Discounterdose, sonst nichts. Der Verkäufer nimmt das Geld entgegen, blickt dabei prüfend auf die ausgestellte, schwarze Jacke, fragt den Mann, was er da hat. Die schwarze Jacke versucht müde abzublocken, doch der Verkäufer hat die Hand bereits am Stoff, zerrt an der Seite, erkennt sofort den Inhalt und seufzt vor Enttäuschung. Dem Ertappten entfliehen beschämte, leise Sprachfetzen, ein gebrochenes „Hunger“, „Essen“, der Verkäufer hält ihn weiter fest, schiebt ihn dann genervt zur Seite und nimmt meine Ware auf; ich halte die Münzen schon bereit, zahle auf den Cent genau.

Im Abgehen drehe ich mich noch einmal zurück, noch einmal zu der schwarzen Jacke, dem traurigen, furchenreichen Gesicht, und ich komme nicht um einen mitleidsvollen Gedanken herum, male mir im Kopf die lange Kette an Konsequenzen aus. Mein Blick kreuzt den des Kassiers, er sieht mich aufmerksam an. Ich zögere, zittere, dann frage ich langsam, was er denn eingesteckt hat, ob es teuer sei. Der Kassier versteht sofort, er schüttelt sanft den Kopf, es gehe eben nicht darum, erklärt er mir mit feinem, südländischen Akzent, wenn der Kerl nur etwas zu essen wollte, würde er ihm selbst das Geld stellen, aus eigener Tasche; doch wenn jemand Woche für Woche für fünfzig Euro stielt, dann fühlt man sich irgendwann einfach verarscht. Sagt der junge Kassier in aller Ruhe, während er bereits die nächste Kundschaft bedient.

Ich stehe immer noch da, nicke ihm still zu, begreife etwas, und drehe mich langsam um. Die Schiebetür öffnet und ich trete wieder hinaus in die Kälte, gehe den feuchten, schmutzigen Weg zurück, den ich gekommen bin.