Donnerstag, 15. Februar 2024

Der Brunnen in der Wüste

Wenig ist mysteriöser und inspirierender als das Verworfene; die schriftstellerische Karriere eines Arno Geiger fußt mitunter auf seiner geheimen Leidenschaft, die Altpapiercontainer der Stadt in nächtlichen Missionen nach privaten, aussortierten Dokumenten zu durchstöbern (ein Geheimnis, das er in seinem letzten Buch leider preisgab). Überall in der Stadt lauert das Geheimnis, es ist völlig dystopisch, sich eine Stadt ohne zu denken – ich erinnere mich, einmal im Mülleimer an einer U-Bahnstation einen weggeworfenen Liebesbrief entdeckt zu haben, genauer: das erklärte Ende einer Liebe; ich hatte dieses unendlich intime und tragische Papier damals aus dem offenen Behälter gefischt, verblüfft durchgelesen und wieder zurückgelegt. Obwohl ich in Versuchung kam, wusste ich (empfand ich), dass dieser Schatz nicht für mich, nicht für irgendjemanden bestimmt war. Manches will nicht gefunden werden. Anderes schon.

Es ist ein stürmischer Montagabend, als ich auf dem Weg nach Hause in die Straßenbahn steige und am Boden ein Papier entdecke. Unter einem leeren Sitzpaar liegt eine ausgerissene Buchseite; ich zögere kurz, dann hebe ich sie auf, wende und betrachte sie. Stil und Dialoge weisen auf einen Roman hin, es geht um einen Militärpiloten und Ich-Erzähler, der in der Sahara notlandet und dort zufällig auf einen vereinsamten alten Unteroffizier trifft, welcher wiederum auf die Ankunft eines ominösen Hauptmannes wartet und das Auftauchen des Bruchpiloten wie ein Wunder, wie die Entdeckung eines Wüstenbrunnens befeiert.

Es wäre nicht besonders schwer, herauszufinden, aus welchem Buch die Seite stammt und wer sie verfasst hat; der erste, spontane Gedanke tippt auf Antoine de Saint-Exupéry – ich habe zwar (wie alle) nur seinen kleinen Prinzen gelesen, doch ich weiß, dass er selbst Kampfpilot und von der Wüste so besessen war, dass er ständig und überall über sie schreiben musste, vielleicht schrieb er überhaupt nur eine einzige lange Wüstenmetapher – doch ich entscheide mich dagegen: Ich will das Geheimnis der Buchseite nicht aufgeben, das Rätsel um seinen Schöpfer nicht in Gewissheit auflösen; vielmehr interessiert mich, was neben dem Inhalt steht.

Irgendjemand hat diesen Textabschnitt mit Bleistift markiert und um ihn herum eine Notiz verfasst, ganze vier Mal steht sie da, in dringlichen, hektischen Großbuchstaben: LANGSAM LESEN. Dieser Hinweis, die mehrfache Graphitnotiz scheint mir spannender als die Suche nach dem Autor, sie ist der eigentliche Schatz, die Entdeckung dieser Straßenbahnfahrt: Sie sagt mir, dass sich diese Seite womöglich nicht zufällig aus einem alten Taschenbuch gelöst hat und unter die Sitze gerutscht ist, nein, die Botschaft „langsam lesen“ deutet ganz im Gegenteil darauf hin, dass jemand diese Seite ganz bewusst ausgerissen und in den Öffis platziert hat, in der Hoffnung oder dem Glauben, dass jemand sie entdecken und aufheben, den Text schließlich lesen und seiner hingerotzten Aufforderung nachkommen würde.

Und ich stelle mir vor, dass diese Person, wer auch immer sie ist, sich darüber freuen würde, wenn jemand diesem Fund einen eigenen, kurzen Text widmete, einen Text, der keine Antworten und keine Offenbarungen bereithält, sondern nur die schiere, sich selbst genügende Freude an der Entdeckung. Und in meiner eigenen (größeren) Hoffnung wird diese Person irgendwann auf meinen ausgelegten Text stoßen und im Lesen das gleiche rätselhafte Glück empfinden wie der einsame Unteroffizier nach der Notlandung des Erzählers.

Unwahrscheinlich, naiv, natürlich, doch darum geht es nicht. Auf einer einzigen, langsam gelesenen Doppelseite habe ich gelernt, dass es in der Wüste nicht bloß auf das Finden der Oase ankommt – sondern vielmehr, an die Existenz des Brunnens zu glauben.

Montag, 5. Februar 2024

Brief an Flaubert

Es gibt eine Stelle (eine einzige Stelle) in Salambo, an der so etwas wie Zärtlichkeit durchscheint. Sie findet sich erst im vorletzten Kapitel, nach einer schier endlosen Aneinanderreihung von unpackbaren Grausamkeiten und Bestialitäten, massenhaft zersplitterten Knochen, zerfetzten Körpern und geopferten Kindern, als bereits der Moloch in Karthago herrscht und das Volk dem Untergang geweiht scheint; durch drei Jahre Krieg muss man bis zu der Stelle hindurch, drei Jahre Kampf und Tod und Elend, weil uns Gustave Flaubert kein Detail erspart in seinen ultrabrutalen Schlachtenschilderungen, als hätte er selbst das Schwert geführt, das Kamel geritten und den Elefanten erlegt – es fällt tatsächlich schwer zu akzeptieren, dass es immer noch keine Zeitreisen gibt, denn Flaubert hat es gesehen, er war dort, während ihn die Familie einen Idioten schimpfte, wanderte er durch die Ruinen Karthagos, um sie zwischen zwei Buchdeckeln wieder aufleben zu lassen, zweitausend Jahre vor seiner Existenz, als dieses längst vergangene Reich noch eine pulsierende und prunkvolle Hafenmetropole, die Stadt der Städte war.

Ebenso schwer zu glauben, dass Flaubert sein blutverschmiertes Schlachtenepos direkt auf die Madame Bovary folgen ließ, zwei Werke, die so gar nichts gemeinsam haben außer einen Frauennamen im Titel, und selbst dieser täuscht noch: denn Salambo ist nicht einfach nur die Königstochter Karthagos, sie ist das umkämpfte Reich selbst – so wie der amerikanische Dichter William Carlos Williams in seinem Endlosgedicht Paterson den Gedanken poetisiert, jemand könne gleichzeitig eine Person und eine Stadt sein, so ist Salambo gleichzeitig die Tochter des Hamilkar und die antike Stadt, in deren Herzen sie lebt – sie steht nicht für Karthago, sie ist Karthago. Nur wegen ihr will der irre Söldnerführer Matho die Stadt um jeden Preis: Karthago zu erobern bedeutet, Salambo zu erobern. Indem er einen Krieg auf die nackten Schultern seiner Titelheldin setzt, treibt Flaubert das sture männliche Besitzdenken auf die Spitze: wenn Matho diese außerweltlich schöne Frau nicht für sich haben kann, so will er sie mitsamt der Stadt vernichten, und mehr aus persönlicher Kränkung, als aus militärischer Logik wird er Karthago mit seiner Armee von Barbaren belagern: „Wenn er ihren Leichnam gesehen hätte, wäre er vielleicht abgezogen.“ Und genau dieser letzte Halbsatz, dieses „vielleicht“, dass der Autor ihm in die Gedanken schreibt, es genügt, um zu verstehen, dass der gesamte Krieg, seine ungeheuren Konsequenzen und Verluste letztendlich nur ein Vorwand sind, um einer infantilen Emotion nachzukommen, dem ewigen Herrschaftsanspruch aus der Sandkiste: Das gehört mir – oder keinem!

Unendlich viel Leid, Blut und Terror bildet sich um dieses „vielleicht“, von dem der Feldherr der Barbaren nicht zurückkann, weil er sonst offenbaren müsste, aus welch absurdem Grund er den Krieg überhaupt begonnen hatte, er müsste sich (vor allem) Schwäche eingestehen – und das ist unmöglich, das ist unmännlich, das kann ein kompromissloser Weltliterat wie Flaubert nicht zulassen. Und doch schenkt er uns eine Stelle, in der genau das anklingt, sehr leise und kurz nur, aber doch: eine Liebe ohne Besitzdenken. Ein unmännlicher Umgang unter Männern.

Als sich eine kleine Gruppe von vierhundert blutdurstigen Söldnern – Etrusker, Libyer, Spartiaten – anschickt, gegen die gepanzerte Übermacht der Karthager in den sicheren Tod zu rennen, macht ihnen Hamilkar ein überraschendes Angebot: da er tapfere Soldaten wie sie brauche, „sollten sie auf Leben und Tod miteinander kämpfen, dann würde er die Sieger in seine Leibwache aufnehmen.“ Andernfalls würden sie alle von seinen Elefanten zermalmt werden. Beim Anblick der klingenbesetzten Herde scheint die Entscheidung klar, und doch zögern die Söldner plötzlich; diese vierhundert Männer, die nie ein Problem damit hatten, für ein wenig Sold zu schlachten, zu morden und bis in den Tod mit ihren Feinden zu ringen, sie waren über die Jahre zu unwahrscheinlichen und loyalen Liebenden geworden, Kameraden, deren gemeinsame Bände ihnen „ebenso ernst waren wie eine Ehe“ – und bei dem Gedanken, aufeinander losgehen zu müssen, da begannen sie unvermittelt zu weinen und zu trösten, sich schüchtern vom Nächsten zu verabschieden, bevor sie in trotzige Raserei verfallen und den anderen zu erlösen suchen: „Bisweilen“, schreibt Flaubert, „hielten zwei Männer blutüberströmt inne, sanken einander in die Arme und starben unter Küssen.“

Es sind die einzigen Zärtlichkeiten, die in Salambo ausgetauscht werden, und sie werden nicht seiner geisterhaften Titelheldin zugestanden, sondern einer Gruppe von mordenden Männern, die sich gegenseitig zur Familie, zu einer Heimat geworden sind, die sie niemals hatten. Und nicht in den seitenlangen Angriffen und Gegenangriffen, der grenzenlosen Gewalt und Vernichtung der Völker, sondern in genau diesen zärtlichen Küssen zeigt sich die Absurdität des Krieges am eindringlichsten: weil es diese ehrliche Hingabe, diese „unsittliche Bindung“ und offene Liebe unter Männern ohne den Krieg gar nicht geben würde, niemals geben könnte.

Dass es erst einen Krieg braucht, um eine solche Verbundenheit zu ermöglichen, ist die vielleicht grausamste Pointe in einem Werk voller Grausamkeiten. Nur folgerichtig, dass Flaubert der Szene ein unerbittliches Ende setzt: Anstatt sie in seine Leibwache aufzunehmen, lässt Hamilkar die überlebenden Söldner nach dem qualvollen Todeskampf mit ihren Kameraden an eine Wasserquelle führen – und sie dort hinterrücks erdolchen.