Mittwoch, 13. Dezember 2023

Keine Weihnachtsgeschichte

Es gibt Geschichten, die musst du sofort, ohne zu zögern niederschreiben, sie brennen dir unter den Fingernägeln (wie man so sagt), sie jucken und reizen dich, lassen dich nicht mehr los, bis sie endlich weggeschrieben sind: andere Geschichten dagegen verlangen nach Abstand und Zeit, sie brauchen ihre Dauer, bevor du dich an sie setzen kannst, weil die Empfindung, deine Erinnerung an sie zu intensiv, womöglich schmerzhaft ist, du überhaupt erst eine Erinnerung zu ihr aufbauen musst, und es keine Erinnerung ohne Abstand gibt. Die Geschichte meiner kurzhaarigen Kollegin ist so eine.

Vor einem Jahr, in den letzten Tagen vor Weihnachten, hatten wir gemeinsam Dienst im Fürstenpalais, es musste kurz vor Schluss gewesen sein (ich erinnere mich, es war bereits dunkel draußen, stockfinster, wie man so sagt), sie stand am Haupteingang und ich daneben, und weil keine Gäste in der Nähe waren, taten wir wieder einmal das Verbotene und unterhielten uns miteinander, suchten das Gespräch, um die Zeit zu füllen. Ich kannte die Kollegin bereits, wusste ein paar Dinge über sie (bis heute kann ich nicht sagen, wie man es anstellt, jemanden kennenzulernen, zehre immer noch von dem Umstand, dass sich die Leute mir wahllos anvertrauen); sie ist alleinerziehend, hat zwei Töchter von zwei Männern – warum die Männer heute nicht mehr da sind, ist nicht wichtig, wichtig ist nur, dass sie nicht da sind – und ich weiß, dass sie bei ihrem sogenannten Objektmanager darum kämpfen musste, an Weihnachten frei zu bekommen, um den Tag mit ihren Töchtern zu verbringen. Weil ich das wusste, und weil ich weiß, wie verdammt schwer es ist, als Museumsaufsicht an Weihnachten frei zu bekommen, frage ich, ob sie sich schon darauf freut.

Es ist eine unverfängliche, völlig uninspirierte Frage, banal bis zum Nordpol, doch oft genügt ein Wort, ein Echo, um die Lawine auszulösen. Eigentlich nicht, sagt sie. An Weihnachten muss sie immer an ihre Mutter denken. Im Winter vor zwölf Jahren lag sie mit Metastasen im Bett, ohne Aussicht oder Hoffnung. Es waren diese Tage, um Weihnachten herum, als sie langsam starb, und jedes Jahr, sagt meine Kollegin mit ihrer angenehmen Stimme, wenn Heiligabend wieder ansteht, kommen die Empfindungen, die Erinnerungen wieder hoch, die sich überhaupt erst mit der Zeit geformt haben, nachdem die Geräte schon lange abgeschaltet wurden; denn es gibt keine Erinnerung ohne Abstand.

Sie war damals nicht allein, erzählt sie mir, sie hat eine Schwester, und sie waren beide da, jeden Tag waren sie da, jeden möglichen letzten Tag ihrer Mutter, bis es tatsächlich der allerletzte war, an einem Fest, dass sich der Liebe verschreibt, weil es gut fürs Geschäft ist, doch in diesem Jahr ist nichts gut, rein gar nichts, es ist Tod und Teufel und Trauer, weil es nichts gibt neben dem Krebs, weil die Krankheit ein einziges Loch ist, ein gigantisches, lichtloses Arschloch, das dein Leben in Scheiße begräbt, bis nichts mehr übrigbleibt.

Allein, es stimmte nicht ganz; und genau das macht es heute so schwer, so verwirrend, sagt meine Kollegin mit den frei gewählten kurzen Haaren (vielleicht nicht mit diesen Worten, es macht keinen Unterschied), kurz bevor wir uns in die Feiertage verabschieden. Die Erinnerung ist so furchtbar, weil sie nicht nur mit Schmerz verbunden ist. An den Weihnachten, als ihre Mutter starb, sagt sie, da waren sie und ihre Schwester beide schwanger.

Ich habe ein Jahr gebraucht, um diese Geschichte niederzuschreiben, mit all den unvermeidlichen Ungenauigkeiten meiner eigenen Erinnerung, und fast genauso lange habe ich die kurzhaarige Kollegin nicht mehr wiedergesehen. Ich weiß, dass sie heute bei einer anderen Dienststelle arbeitet; ich kann nur hoffen, dass sie auch diese Weihnachten frei bekommt.