Mittwoch, 28. Juni 2017

Zwei Frauen

Unten, im Kämmerchen, da sitzen sie, neben der Garderobe im Untergeschoss des Fürstenpalais. Sie sitzen im Kämmerchen und warten, bis sie gerufen werden, bis der unheilvolle Funkspruch kommt, der sie blechern „Reinigung“ nennt, es klingt, als würde man den Kellner mit „Gasthaus“ rufen. Sie warten tags, sie warten nachts, sie arbeiten lange und oft noch etwas länger. Wann immer ich an ihnen vorbeigehe, bieten sie mir Kaffee an, ich setze mich in der Pause zu ihnen und staune wieder und wieder über diese Güte, das herzliche Temperament, das immerzu auf Teilen aus ist. Fast werden sie beleidigt, wenn ich mal nach einer Zigarette frage, anstatt mir einfach eine zu nehmen.

Ihr kleines Kämmerchen ist ein Refugium, ein quadratisches Betonzelt, das vor der sozialen Kälte über ihnen schützt, eine isolierte Oase der Ruhe, die nach Kaffeeweißer und Scheuermilch riecht. Wann immer ich an ihnen vorbeigehe, steht ihre Tür weit offen, denn wer nichts hat, hat auch nichts zu verstecken. Ihr Besitz liegt nicht in Taschen oder auf Banken, er liegt in ihren Gesichtern, in ihrem Akzent, in ihren Grimassen. Sie grinsen innerlich über Longdrinks und Lachskanapees der hohen Gäste im Prunksaal über ihnen. Sie grinsen, weil Humor ihre Waffe ist, die sich selbst auflädt, und sind sie einmal ernsthaft verstimmt, verstecken sie ihre schlechte Laune hinter einer inszenierten, noch viel schlechteren, die ihre eigentliche Laune gleich viel erträglicher erscheinen lässt.

Sie waschen, wischen, schrubben, bücken sich, sie atmen künstlichen Citrus und trockene Luft, sie erledigen eine Arbeit, die beißend ungesund ist, die ein langes Leben wissentlich gefährdet; doch sie erhalten keine Gefahrenzulage. Sie gehören zu jener zulagenlosen, unerhört schwachen Sozialklasse, über die gern und oft gesagt wird, sie hätte keine Stimme, damit ihr andere eine verleihen können. Dabei haben sie sehr schöne Stimmen; und sogar verschiedene. Und beim nächsten Mal, sagen sie, fast beleidigt, da solle ich nicht mehr warten, bis sie mir einen Kaffee anbieten, sondern einfach welchen nehmen.

Samstag, 24. Juni 2017

Die Herkulesschule

Sie hängt an der Decke im ersten Stock, dort, über dem großen Saal im Palais des Fürsten. Gegründet wurde sie vor dreihundert Jahren von Andrea Pozzo, dem italienischen Maler und Perspektivgenie, in einer Zeit, in der Künstler verkauft und weitergereicht wurden wie heute die Fußballspieler. In dem, was er tat, war Pozzo der Beste, also zitierte ihn der Fürst hierher, in jene Stadt, in der ich heute lebe, und bedrängte ihn freundlichst, sich der Deckengestaltung im Palais anzunehmen. Der Fürst wollte nicht weniger als ein monumentales Werk, ein Fresko, das mehr als tausend Worte erzählte, eine Kunstlandschaft auf sechshundert Quadratmetern, an der sich nie jemand satt sehen könnte. Er wollte Meisterschaft. Und Pozzo lieferte.

Woche für Woche blicke ich hinauf zu ihr und kann nicht begreifen, wie jemand imstande war, seine Gehirnwindungen zur Vorstellung einer illusorischen Malerei zu verwenden, die Verkürzungen jenseits jedes Verstandes ausführt und im Bild eine falsche Kuppel entstehen lässt, wo doch in Wahrheit ein nahezu flacher Deckenmörtel über mir ruht, eine sanfte Wölbung von nur wenigen Metern. Quadratura nennt sich diese absurd brillante Technik, das habe ich in einer der zahlreichen Kunstführungen erfahren, Führungen, die ich wie ein Babysitter befolgte und hier und da eine Tür aufhalten durfte, und dazwischen immer wieder der Blick zur künstlichen Kuppel, die ich nicht begreife.

Dort oben, zwischen künstlichen Säulen und Emporen, da pinselte Pozzo Leben und Tod des Herkules nach, von der Wiege bis zum barfüßigen Aufstieg in den Olymp, mitsamt den klassischen zwölf Aufgaben, die im Uhrzeigersinn den mythischen Halbgott illustrieren, der Kraft und Klugheit so vorbildlich verband. Und tatsächlich erzählen mir die Episoden in diesem göttlichen Fresko mehr, als ich in jedem gut verkauften Ratgeberschmöker, Wochenendseminar oder Selbstanleitungsvideo im Netz erlernen könnte: Ich blicke zehn Meter in die Höhe und sehe dort, inmitten von Engeln, Bestien und Göttern, ein Neugeborenes im Korb, das zwei erwürgte Schlangen in Händchen hält. Das ist sie, denke ich, das ist große Erzählkunst – wenn ein nacktes Baby direkt nach der Geburt zwei Schlangen erwürgt, die es töten sollten, weiß ich mit einem einzigen Bild, dass es sich hierbei um kein gewöhnliches Kind handeln wird. Ein Baby, das zwei Schlangen würgt – kann es eine höhere Form der Charakterzeichnung geben?

In der von Pozzo gegründeten, dreihundert Jahre alten Privatanstalt des Herkules ist mir dieses Bild die vielleicht einfachste und damit genialste Charakterlehre; und mit jeder arbeitsarmen Stunde im Saal und jedem Blick hinauf wird mir umso klarer, wie viel ich noch zu lernen habe – und wie relevant die richtige Schule ist.

Montag, 12. Juni 2017

Die Milde im Nachhinein

Ein Jahr. Solange hält meine museale Teilzeitliaison nun bereits. Nicht, dass die Zeit schnell vergangen wäre – im Gegenteil: Ich kenne und empfinde sie nicht, die angebliche Beschleunigung des Alltags, die rasende Eigenschaft der Digitalisierung. Hier, in meinen zweiten Wohnzimmern, in den gekühlten Museumsräumen und haushohen Prunksälen meiner Arbeitsziele, da gilt das postmoderne Eiltempo nicht, da entschleunigt jeder Dienst mein hektisches Zeitempfinden und relativiert das Verfliegen der Stunden.

Da gibt es Tage, an denen ist ständig etwas los, und dann wieder andere, an denen ist alles ereignislos, doch immer, ja immer bleibt Platz für Leerstellen, immer ist die Schicht irgendwo zu lange und immer fließt die Zeit tief in die Beine, die mit jeder Kontrollrunde und mit jedem Funkspruch schwerer werden und sich auf die Füße stemmen, die naiv versuchen, durch die Sohlen zu flüchten und sich dabei unbeholfen verbrennen. Und all das Mühsal für ein paar Euro mehr, für ein versichertes Stück Ruhe und für das Bewahren der Erinnerung; dem Erhalt der jahrhundertealten Mauerwerke und Malereischätze, deren zeitloser Wert gegen die chaotische Flüchtigkeit meiner Zeit ankämpft. Da stehe ich, mal fünf, mal acht, mal zwölf Stunden auf einer fixen Position, die ich nicht zu verlassen habe, die ich besetze, kontrolliere und schütze, solange, bis die Ablöse kommt oder die Tore geschlossen werden. Ich arbeite nicht für ein Individuum, ich arbeite für ein Objekt. Ich schütze keine Personen, ich schütze Exponate. Ich stehe nicht zu einer Firma, ich stehe zu einem Kunstwerk.

Das Erstaunliche daran ist, egal wie lange ich stehe, egal wie unendlich und mühsam meine Ausstellungsdienste mir in dem unmittelbaren Moment erscheinen, am Ende sind sie doch niemals wirklich schlimm. Denn kaum ist die Arbeit vorüber, stellt sich ein befremdlicher, kurzer Glückszustand ein, eine Erleichterung, die ohne all die Qualen und Längen der Schicht undenkbar wäre. Es ist eine Art sentimentaler Milde, die sich immer im Nachhinein einstellt und jede Anstrengung relativiert und verlässlich abschwächt; egal, wie schlimm, wie körperlich verzehrend und ermüdend die Arbeit auch ist, in dem Moment, in dem sie endet, ist sie bereits weniger schlimm gewesen.

Diese Arbeit, das, was ich vordergründig leiste, ist vielleicht überhaupt weniger ein „arbeiten“, als ein „ausharren“ – eine Probe, ein Experiment, dessen Belohnung darin besteht, die Freude über sein Ende erlebt zu haben. Und so ist es mit allen Anstrengungen, die endlich sind, auch wenn sie sich im Moment nie so anfühlen – am Ende sind acht Stunden im Museum vergangen und die Füße heben sich wieder aus den Sohlen, das Brennen erlischt im windigen Gefühl, es geschafft zu haben, und dem glücklichen Grinsen über die Absurdität dieses ewigen, anstrengenden Kreislaufs, der sich so seltsam erwachsen anfühlt.

Ein Jahr. Es hätte ein schlimmes, ein furchtbar schweres Jahr sein können. Vielleicht war es das auch. Wer kann das schon sagen, jetzt, wo es vorüber ist?

Montag, 5. Juni 2017

Alles erreicht

Diese Nacht erscheint mir ein Buch; mein Buch. Ein kanariengelber Schutzumschlag, darauf mein Name, am unteren Eck das Logo eines renommierten Verlages. Doch ich weiß nichts davon – es wurde veröffentlicht, ohne mich zu informieren, rein zufällig stoße ich im Internet darauf, starre auf die Produktvorschau und wundere mich. Ich gehe in die Buchhandlung, mein Name ist schon da; und wieder diese Ungläubigkeit, diese Verwirrung. Sollte ich mich nicht einfach freuen? Sollte ich mich nicht erleichtert fühlen, frei, entspannt? Sollte ich nicht am Ziel sein?

„In Träumen habe ich alles erreicht“, schreibt Fernando Pessoa, dieses sonderbare Dichterphantom aus Lissabon, das die Einsamkeit seiner vielen Alter Egos mit ideologiebefreiter Tagträumerei belohnte. Und warum sollte der Triumph im Träumen weniger wert sein, als der Triumph im Leben? Es ist pure Konvention, dass dem Realen mehr Gewicht verliehen wird als dem Traum. Verschiebe ich allein die Gewichtung, habe ich tatsächlich schon alles und mehr erreicht.


Doch, seltsam, ich weiß nicht, worum es in meinem erträumten Buch geht. Nicht einmal einen Titel kann ich klar erkennen, ich sehe nur die einzelnen Letter meines Namens auf dem grellen Einband, nichts weiter. Nun, endlich, ist das erste Buch erschienen, veröffentlicht und vermarktet, und ich habe keinen Schimmer, was darin steht; ich habe alles erreicht, ohne etwas beizutragen, ohne zu wissen, wie der Sieg erfolgte und was er bedeutet. Es ist, als hätte sich im Zieleinlauf plötzlich der Staub aufgewirbelt, der alle Spuren des Weges verwischte, als träte im Ziel eine automatische Amnesie ein, eine akute Vergessenheit über alle Anläufe, Notizen, Rückfälle und Gedanken. Im Traum habe ich alles publiziert, doch jetzt, wo sich der Traum im Traum erfüllt hat, da scheint der kanariengelbe Schutzumschlag traurig fremd, da wirkt es gar, als interessierte sich das abgeschlossene Werk überhaupt nicht mehr für seinen phantomhaften Schöpfer. Und – im Grunde – da tut es das auch nicht.

Donnerstag, 1. Juni 2017