Dienstag, 22. November 2016

Montaignes Traum

Die neue Woche beginnt mit Sehnsucht. Seltsam beseelt von einem mitreißenden Traum, der an den letzten Luc-Besson-Streifen erinnerte, scheint mir das Aufwachen selbst wie eine Niederlage. Trägheit überkommt meinen Körper und jeder Versuch, zurück in den Traum zu finden, scheitert an der Zerstreuung des Erwachens, dem steinernen Zustand zwischen Nacht und Tat. Je länger ich liegen bleibe, desto mehr sehne ich mich nach der Fortsetzung des Films, zurück an die Seite jener hollywoodschönen Fremden, der ich durch die wilde, vorwärts peitschende Handlung folge, die an allen Ecken mit überbordenden Ideen aufwartet, und in jeder Wendung schon die nächste steckt, "–– gerade noch deutlich genug, um mich zur quälenden und aufreibenden Suche nach dem Entschwundenen anzutreiben. Vergebens." Montaigne nahm die Worte vorweg, die mich regelmäßig überkommen, stupsend und piksend, als wollten sie mir vorführen, wie übermächtig der Traum ist, der meine schwache Erinnerung an ihn verlacht.

Der Traum kennt keine Leerstelle, er überschwemmt mich mit Ereignis und Überraschung, erlaubt mir, über müden Zweifeln und faulem Zaudern zu stehen. Im Traum bin ich stets munter und involviert, agiere mit dem Selbstvertrauen des Hauptdarstellers, während ich im Wachen wieder zurückfalle in die gefühlte Statistenrolle, wartend und uneingeweiht, fern von dem spannenden Geschehen, träge und voll Sehnsucht, aus der Rolle auszubrechen; stets sehne ich mich danach, etwas möge passieren, aber nicht an mir vorbei, sondern in mir und mit meinem Tag. Im Traum geht immer etwas weiter, weil immer etwas in Bewegung ist, während ich im Alltag stets neue Varianten des Stillstands erlebe.

Die Trägheit des Tages weicht nur langsam von mir, das Frühstück, die Dusche, alles Dinge, die mir wie ein Aufschub erscheinen; ein ängstliches Hinauszögern des Beginns einer neuen Woche, die ein neues Kapitel sein könnte. Wenn ich mich nur getrauen wollte, wenn ich wohl die Kraft hätte, weiterzublättern, anstatt das gleiche Kapitel immer wieder neu zu lesen.

Ich unterdrücke ein Gähnen, weil ich gewöhnt bin, es zu tun, doch es ändert nichts an der Sehnsucht. "Wir wachen schlafend, und schlafend wachen wir" – wie sehr fühle ich die Worte Montaignes, wie sehr möchte ich ihm etwas entgegnen, diesem gelassenen Franzosen, der sich mit seinen Gedanken über die Pest erhob und noch klar und offen ins Heute spricht.

Ich wollte endlich aufhören, jeden Morgen müde zu sein und mich nur einmal wach fühlen, so wach, wie ich es jede Nacht im Traum bin – diese unstillbare Sehnsucht, eines Morgens aufzuwachen und den Traum nahtlos weiterzugehen, munter und involviert.

Freitag, 18. November 2016

Erinnerung eines grauen Tages

„Wenn man nackt mit Lichtgeschwindigkeit um einen Baum rennt, kann es durchaus sein, dass man sich selbst fickt.“

Diese Worte lese ich auf einem folierten A4-Blatt, das in der Fensterscheibe eines fragwürdigen Cafés aushängt. Weiße Schrift auf grobflächiger Druckerschwärze, daneben das bekannte Porträtfoto Albert Einsteins, und unter diesem Satz noch ein Kommentar, der nahelegt, die Wahl einer bestimmten politischen Partei führe zu selbigem Ergebnis. Es ist ein kalter, unwirtlicher, durch und durch schlaffer Tag, die Stadt probiert unentschlossen Grautöne durch, ich flaniere die breite, dreckige, laute Straße hinunter und nichts scheint es wert, meine Aufmerksamkeit zu erhalten, außer diese dämliche, infantile Anti-Erkenntnis, die aus der austauschbaren Umgebung heraussticht und ein seltsam bedeutsames Detail bildet, das sich in mir widerhakt.

Es ist idiotisch, es ist sinnlos, es ist tief in meinem Kopf, wie eine unvergessliche Gedichtzeile, die nichts aussagt und doch alles bedeuten kann. Ich habe nichts vorzuweisen an diesem grauen Tag, außer der festhaltenden Erinnerung an dieses Bild, an die infantil dämliche, relativ poetische Verknüpfung der Selbstkopulierung mit den Lehren Einsteins.

Dienstag, 15. November 2016

Rollenspiele

Während einer der vielen Stunden meiner letzten, von der Zeit befreiten Museumsschicht, gleite ich langsam hinüber in das zittrige, ferne Land der Imagination und erdenke mir folgende Geschichte.

Ein junger Mann, der in der Museumsaufsicht arbeitet, kommt zu spät zum Dienst. Sein Vorgesetzter, ein verschwitzter Gorilla mit Zuhältergestus, beschimpft ihn wüst und macht mit groben Worten klar, er solle diesmal besser auf das Fotografieverbot achten. Der junge Aufseher, nervös und verunsichert vom rauen Ton seines Chefs, verspricht Besserung und arbeitet besonders motiviert an diesem Tag. Er schickt Touristen mit Rucksack in die Garderobe, er unterbindet Fingerzeige auf die Kunst, er macht sämtliche Fotoversuche zunichte. Er sieht alles.

Plötzlich steht eine zierliche Asiatin vor einem besonders wertvollen, wandfüllenden Gemälde und hebt ihre Hände. Der junge Aufseher, der seine Kontrollrunde macht, sieht die Dame von Weitem und glaubt, eine blitzende Kamera in ihrer Hand zu erkennen. Laut brüllend stürzt er zu ihr, um das Foto zu verhindern; doch es kommt nicht mehr dazu. Die Asiatin hat das Handy fallen lassen und liegt reglos daneben. Ihr ist vor Schreck das Herz stehen geblieben.

Jahre später ist der junge Aufseher kaum noch jung und hat schon lange die Stadt gewechselt. Zerfressen von seiner Schuld am Tod der Touristin, lebt der Mann allein und zurückgezogen, verfolgt einen Beruf ohne Menschenkontakt, und hat seit dem Zwischenfall nie wieder ein Museum betreten. Ohne aktives Zuwirken lernt er eines Tages eine Frau kennen, die es schafft, ihn aus der Lethargie zu reißen. Sie weiß nichts von seiner Vorgeschichte, sie interessiert sich nicht dafür, sie will und liebt ihn, wie er heute ist. Sie werden ein Paar. Er ist glücklich.

Eines Tages gehen sie gemeinsam ins Kino. Sie schauen einen Film über einen jungen Museumsaufseher, der zu spät zu seiner Schicht kommt. Sein Vorgesetzter, ein verschwitzter Gorilla mit Zuhältergestus, beschimpft ihn grob und befiehlt, diesmal besser auf das Fotografieverbot zu achten. Der junge Aufseher wirkt verunsichert und will seinen Job besonders gut machen, da sieht er plötzlich eine zierliche Asiatin vor dem wertvollsten Gemälde, die dabei ist, ihre Kamera zu zücken. Er stürzt brüllend zu ihr hin, um sie am Foto zu hindern; doch es kommt nicht mehr dazu. Vor Schreck hat die Frau einen Herzinfarkt erlitten und liegt reglos am Museumsboden. Jahre später ist der junge Aufseher kaum noch jung und lebt in einer neuen Stadt, allein und zurückgezogen, meidet Menschenkontakte und Museumsräume. Ohne aktives Zuwirken lernt er eine Frau kennen, die es schafft, ihn aus der Lethargie zu reißen. Er ist glücklich. Eines Tages gehen sie gemeinsam ins Kino, setzen sich in einen dunklen Saal und starren gebannt auf die Leinwand.

Plötzlich geht das Licht an, Applaus hallt durch den Kinosaal, das Publikum steht auf und alle Köpfe drehen zu dem ehemaligen Museumsaufseher, der in ihrer Mitte sitzt. Und er begreift, dass er der Hauptdarsteller ist, der gerade die Premiere seines eigenen Filmes gesehen hat. Er war so sehr in seiner tragischen Rolle versunken, dass sie im Kopf zu seiner Wirklichkeit geworden ist. Er wird vor die Leinwand geholt, und die Frau, die ihn glücklich gemacht hat, steht plötzlich neben ihm, sie reicht ihm einen Blumenstrauß und haucht ihm anerkennend ins Ohr, während der Applaus anhält: "Die Rolle deines Lebens ..."

In dem Moment reißt mich ein Funkspruch aus den Gedanken, und ich bin schlagartig zurückversetzt in die reale Ausstellungswelt, ich bin sofort wieder der mannshohe Sicherheitshinweis im dunklen Anzug, bin die Aufsicht, die in der Ecke steht, die vielen Gäste überblickt und nicht sitzen darf, niemals sitzen darf.

Samstag, 5. November 2016

Borges hatte recht

Wenn es einen Schriftsteller gab, der die widersprüchlichen Wirren der Netzkultur und ihres labyrinthischen Spielplatzes schon am Papier vorwegnahm, dann war es der Argentinier Jorge Louis Borges. Das Internet (das andere auch das Universum nennen) ist im Grunde nichts weiter als ein praktisches Update seiner babylonischen Bibliothek, die alle Bücher in sich vereint und jeden Text enthält, der je geschrieben wurde und je geschrieben wird.

Borges’ Gedankenspiele der Unendlichkeit, der anfangslosen Traumsphären und gebrochenen Spiegelwelten, sie finden ihre Praxis im geschäftigen Treiben des globalen Hyperspace, der weder Anfang noch Ende, weder Zentrum noch Randzone kennt. Jeder und jede darf den digitalen Spielplatz betreten, ihn benützen und seine Parolen hinterlassen – jeder Gedanke, der vorstellbar ist, kann seinen Weg ins Netz finden.

Das Erstaunliche daran ist, dass mir die Netzinhalte dennoch auf so tragische Weise limitiert erscheinen. Im Lesen stolpere ich immer wieder über die ewig gleichen Textmuster, die dem Labyrinth seinen ewig gleichen Anstrich verpassen und die Unendlichkeit mit Austauschbarkeit überziehen. Vielleicht haben wir, die User, noch nicht gelernt, besser und individueller mit dem Internet umzugehen. Vielleicht sind wir einfach nicht dazu fähig.

Borges hatte recht, als er meinte, die eigentliche Freiheit liege nicht im Schreiben, sondern im Lesen – denn lesen kann ich, was immer ich möchte, aber schreiben kann ich nur, wozu ich fähig bin. Ich schreibe, weil ich nicht anders kann, in der Abhängigkeit meines endlichen Wissens, meiner beschränkten Weltsicht und unbewussten Vorurteile, die jedes Resultat im persönlichen, kleingeistigen Zaun halten. Zu lesen aber bedeutet, aus dem Repertoire aller beschränkten Schreibenden schöpfen zu können und mir auszusuchen, was ich mir davon aneignen möchte. Sieg oder Niederlage liegt allein in der Auswahl; sie zu treffen belastet oft schwerer als jede körperliche Mühe. Es ist seltsam, seltsam und mühselig, heraus zu finden, was mich ohne Vorbehalte interessiert und zum Auslesen zwingt. Jede Wahl ist eine Suche und jede Entdeckung eine Leistung. Inmitten der grenzenlosen Bibliothek, der immergleichen Parolen in Print oder PDF, Buch oder Blog, einen Text zu finden, ihn zu lesen, zu begreifen und – über allem – zu genießen, das ist, in der Tat, ein unendlich gewichtiger Erfolg. Einer, der ganz allein mir gehört.

Ich habe einen Buch- oder Hypertext gelesen, der mich für zwei Sekunden erfüllt: Ich habe es geschafft, einen Text unter allen Texten zu finden, ich habe im genussvollen Lesen etwas geleistet, weil ich ganz allein auf diesen Text gestoßen bin und mir das Gefühl nach der Lektüre selbständig erarbeitet habe, dieses genussreiche Gefühl der Klarheit, für einen kurzen Moment außerhalb des Labyrinths zu stehen. Das ist Arbeit, und vielleicht eine der schwersten: bedingungslos zu genießen. Jedes gute Gefühl ist eine Leistung, die nur selten zu erbringen ist.

Ich stelle mir vor, der schüchterne, geniale Argentinier hätte ähnlich gedacht. Borges hielt das Genießen für noch wichtiger als das Schreiben – und auch hierin hatte er recht.

Freitag, 4. November 2016

Relationen (VI)

Ein guter Autor kann einen Feldhasen über eine ganze Seite beschreiben. Ein sehr guter Autor kann einen Feldhasen mit einem Satz beschreiben.