Mittwoch, 14. Dezember 2022

Suppenkaspar, neu erzählt

Er hat sie satt; die Lügen der Eltern, die Lügen der Lehrer, die starren Mauern, in die er geboren wurde, die Enge und Gewalt, die ihn umgeben, alles davon hat er satt. Die Vorschriften und Forderungen, wie er zu denken, wie er zu fühlen, wie er sich bei Tisch zu benehmen hat, er hat es satt, auf Regeln zu hören, die er nicht versteht. Er ist jung, im Grunde noch ein Kind, doch er weiß bereits Bescheid, er fühlt doch, dass etwas nicht stimmt, nicht stimmen kann, und Gefühle lügen nicht.

Seit Jahren schon fühlt er sich unwohl, in seiner Familie, in seiner Haut, jeden Tag erlebt er wie in Einzelhaft; seine Gefühlswelt ist ein Gefängnis und die Bedingungen sind schlecht: jeden Tag die gleiche, verwässerte Ursuppe, die ihm vorgesetzt und aufgezwungen wird, fade und fake, wieder nur das uralte, ewig falsche Familienrezept, das es blind zu schlucken gilt, nein, er kann nicht, nein, er will nicht mehr. Er weiß, wenn er die Lügen noch länger zu sich nimmt, erstickt er an ihnen, also beginnt er, sich zu verweigern. Er tritt in den Hungerstreik, von einem Tag auf den anderen, und niemand kapiert es, weil es niemand kapieren will; seine Eltern, seine Ärzte verzweifeln, weil sie ihn nicht mehr dazu zwingen können, ihre Lügen zu löffeln, sie sehen nicht ein, warum er sein will, was er ist, also sehen sie zu, wie er aufhört zu essen.

Erst wird er blasser und schwächer, bald schmäler, bald schwindet der Körper, das Fleisch, das ihm nie bekommen hat, bald hungert er sich bis zum Knochen; jeden Tag, jede Stunde schwächen sich die Sinne, nur sein Wille bleibt stark, ungebrochen, bis zum Ende. Die Ärzte versuchen es mit Zwangsernährung, doch selbst hier, selbst im letzten Stadium setzt er sich zur Wehr, entzieht sich der Nadel, um die Eltern weinen zu sehen, zumindest dieses eine Mal und ehrlich.

Die Suppe ist schon lange kalt geworden, der Teller entfernt sich (zumindest sieht er sie nicht mehr). Er weiß, dass er nicht mehr zu retten ist, er will nicht gerettet werden, er will nicht mehr, außer ein Zeichen zu setzen, wenn nicht für sich, dann für die anderen, für alle, die es genau so satt haben wie er. 

Sein Leben war Protest, sein Tod die Konsequenz. Seine Geschichte lebt weiter.

Sonntag, 11. Dezember 2022

Die Alten (II)

Vor drei Monaten starb die Queen; die Queen, und jeder wusste, wer damit gemeint war, völlig unnötig, ihren Namen zu notieren, weil sie den Titel jahrzehntelang verinnerlicht hatte, zu dem Titel wurde, die Queen, lange vor meiner Geburt, und ich erinnere mich, mit einem Paar im Lift des Fürstenpalais’ gestanden zu sein, ein greises, ausgewandertes Britenpaar, und die Frau erzählte mir, unverkennbar stolz, ihr Mann hätte einmal mit der Queen gespeist, vor Jahrzehnten, kurz vor meiner Geburt, als er noch ihr Sicherheitsmann war; heute erinnere ich mich wieder an diese kurze Begegnung im Aufsichtsdienst; heute ist er für mich der Alte, der mit der Queen gespeist hat.

Immer wieder kommen sie zu uns ins Palais, in die privaten Kunstkammern des Fürsten – die Alten, die Langjährigen, die ein Leben intus haben, Menschen von der Insel, aus den Staaten, die ein Leben lang geschuftet haben, um sich die eine Europareise leisten zu können, und der erste Impuls im Kopf ist Warum, warum tun sie sich das an, in ihrem Alter, bei den Strapazen, mit Schiffen, Bussen, Taxis in das Herz der Stadt, um sich ein elend langes Stündchen durch die engen Galerien zu quälen, ohne Pause, ohne Sitzgelegenheit, und du bangst und zitterst, ob sie es wohl durchhalten, und bist erleichtert, wenn sie die letzte Stufe wieder hinter sich haben und wieder in ihren sicheren Reisebussen verschwinden.

Heute ist wieder so ein Tag, wo so eine Gruppe kommt, eine geschlossene Reisegruppe aus dem Land der Freiheit, jeder hat mehr Jahre als Sterne auf ihrer Flagge, weitaus mehr, und während draußen am neunten Dezember ein deprimierender Regen einsetzt, schleppen sie sich durch die Tür, die ich ihnen öffne. Es ist, als wäre eine gesammelte Mannschaft aus Benjamin Buttons eingetroffen, als hätte Fitzgerald sie persönlich hierher geschrieben, kleine staunende Kinder in undankbaren Großelternkörpern, überfordert von der Umgebung und den endlosen Stufen in den zweiten Stock. Doch um den Lift zu nehmen, sind viele zu stolz, sie nehmen den Kampf an und überschätzen sich, wie Erstsemestler (schließlich sei sie erst zweiundsiebzig, sagt mir eine, die sich besonders plagt, wenn es sogar die Neunzigjährigen schaffen, und sofort eine Entschuldigung hinten dran, als wäre ihr Alter ein Malheur). Ich zähle Gehstöcke und Rollatoren, die Buttons verstreuen sich in der Garderobe, die labyrinthische Architektur des Hauses überfordert sie, natürlich, eine Dame hat ihre Halskette verloren, eine andere ihre Gruppe, sie streifen beide verwirrt durch die Empfangshalle, wie zwei touristische Schlossgespenster, die außerhalb der Zeit wandeln.

Und wieder kommt mir der Gedanke hoch, dieses würgende Warum, doch ich weiß, es ist der falsche Impuls, es ist überheblich und zum Kotzen, so zu denken – die richtigere Frage wäre: Warum nicht? Warum sollten sie nicht ihre mürben Körper durch ein fremdes Land schleppen, warum sich nicht in einem fremden Museum verirren, „noch einmal stürmt, noch einmal …“ in den Ohren? Etwas nur deshalb nicht zu tun, weil es zu anstrengend erscheint, ist der Tod jedes Traumes, und niemand, außer der Träumer selbst, kann entscheiden, wann es zu spät ist, sich einen Traum zu erfüllen. Und wer weiß, wie viele Beweggründe, wie viele Geschichten wirklich in diesen Gesichtern liegen; vielleicht waren sie vor Jahrzehnten schon einmal hier, lange vor meiner Geburt, vielleicht haben sie wirklich jahrzehntelang auf diese Strapazen hingearbeitet, um sich einmal noch mit aller Kraft und Entschlossenheit ein Ziel zu setzen, nämlich eine Führung durch das Fürstenpalais durchzustehen, und diesen einen gefühlten Sieg davonzutragen, der sich (und daran will ich glauben) umso schöner festsetzt, je mühevoller er errungen wurde.

Es sind die Alten, die mir an diesem Tag zeigen, mir immer wieder beweisen: Es ist nie zu spät, um eine Reise zu beginnen – bevor es zu spät für sie ist.

Sonntag, 23. Oktober 2022

Über Heldentum

Es ist ein jüngeres Phänomen (im wahrsten Sinne, viele der Beteiligten waren gerade noch Jugendliche), es kann überall auf der Welt passieren, die Firma hat uns kürzlich schon davor gewarnt, in einer alarmierenden Rundmail – Achtung vor den aktionistischen Aktivisten, die sich an Kunstwerken festkleben, um Aufmerksamkeit zu erregen, für – ja, wofür eigentlich? In ein paar Monaten wird man sich noch an die Bilder erinnern, aber die konkreten Anliegen, die Ziele, wer kann sie dann noch benennen?

Wenn die Aktion größer ist als die Botschaft dahinter, dann ist der Aktivismus irgendwo falsch abgebogen; wenn es nur noch darum geht, die absolute Aufmerksamkeit zu erringen, egal wie, dann ist die Gefahr wirklich real – nicht primär, dass ein unbezahlbares Kunstwerk beschädigt wird (das Panzerglas bewahrt sie heute vor den klebrigen Pranken), sondern die Gefahr, dass sich eine heroische Protestbewegung zur Rettung der Welt hoffnungslos verrannt hat, und letztlich nur das Gegenteil von dem erzielt, was sie erreichen will. Der heldenhafte Mut, sich mit dem eigenen Leib für die größere Sache einzusetzen, an den Museumstüren hört er auf; es ist heldenhaft, sich einem Panzer in den Weg zu stellen, heldenhaft, sich an einen Baum zu ketten, um einen Bulldozer zu stoppen – doch wer ein Gemälde betatscht und beschmiert, ist nie mehr als ein Vandale, egal, wo die Gründe liegen.

Kürzlich in der National Gallery, London. Zwei blutjunge Aktivistinnen schütten den Inhalt einer Dosensuppe über van Goghs Sonnenblumen, kleben sich daraufhin an der Wand fest und fragen in die laufenden Handykameras, was mehr wert sei zu schützen – Kunst oder Leben? Auf ihren T-Shirts lässt sich ein Boykott gegen Öl ablesen, doch der wird untergehen in der Berichterstattung, der Debatte, die in den nächsten Tagen folgt, ein sinnloses Für und Wider, ob solche Protestformen der Sache dienlich seien; wie könnten sie es, wenn sich die Öffentlichkeit gar nicht erst für die Sache interessiert, sondern nur für die Aktion (im Übrigen wurde der Rahmen beschädigt), genauso gut könnte man in den Zoo gehen und einen Eimer Lebensmittelfarbe ins Pinguinbecken schütten, um gegen die prekären Arbeitsbedingungen bei Apple zu protestieren.

Wirklich absurd, wirklich unbedacht, mich wirklich wütend machend, ist aber diese pathetisch eingeworfene, ans falsche Gewissen appellierende Frage: "Kunst oder Leben?" Kunst ist Leben, sie ist Ausdruck jeder Lebensgemeinde, sie bringt Menschen zusammen, ist das Zeugnis einer Kultur, die vom Menschen erschaffen wurde, und deshalb ist sie genauso schützenswert wie der Mensch selbst – Kunst oder Leben, das ist keine Tresenfrage, "Kuhmilch oder Soja?", nein, Kunst als solches ist ein Wert, der dem Menschen innewohnt, der zum Aufbau seiner Kultur führt: die Kunst nicht zu beschützen, bedeutet, den Menschen nicht zu beschützen. Und ich als Aufsicht, die neun Euro die Stunde verdient, würde mein letztes Diensthemd geben, um einen van Gogh zu schützen. Nur leider kommen wir Aufsichten doch immer zu spät, können immer nur melden, was wir nicht fassen können.

In jedem Krieg werden Kunst- und Kulturgüter bewusst zerstört, um die Identität und Geschichte des selbsternannten Feindes zu vernichten, sie auszulöschen. Wenn eine Protestbewegung mit durchaus heroischen Zielen ein Kunstwerk angreift (selbst wenn es hinter Glas ruht), dann erzeugt das einen fatalen Symbolismus – nach dazu bei der geschmacklosen und völlig unbedarften Wahl des attackierten Gemäldes in London: sind die Sonnenblumen doch ein Volkssymbol der Ukraine, die sich gerade heldenhaft gegen einen russländischen Terrorismus wehrt, der ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Menschen nicht akzeptiert, sie brutal und feige angreift, vernichtet, seit acht Monaten schon.

Es ist ein schmaler Grad von Heroismus zu Terrorismus, und Angst in einem öffentlichen Museum zu verbreiten (denn jede Attacke erzeugt Angst) bedient nur letzteres. Eine Attacke auf ein Kunstwerk ist eine Attacke auf alle, die das Kunstwerk lieben, ist eine Attacke auf Unschuldige, nur weil sie verzweifelt nach der größeren  Aufmerksamkeit schreit, egal wie.

Wirklich heroisch wäre es, den wirklich großen Tieren, den Ölbaronen, den Völkermördern, den Zerstörern dieser Welt eine Suppe mitten ins Gesicht zu schütten; den Inhalt einer Suppendose über ein Meisterwerk des Impressionismus und Zeugnis menschlicher Kultur zu schütten, ist nur ein Akt der Ignoranz, stupide, destruktiv und – letztendlich – ziemlich feige.

Freitag, 24. Juni 2022

Britische Sichtweisen

Krieg zerstört: Leben, Häuser, Gebiete, Gewissheiten, Natur und Wahrnehmung. Seit Wochen und Monaten ertappe ich mich dabei, wie ich die müden Beine über den heißen Kies im Ehrenhof schleppe (während die jungen Menschen ringsum ihr Leben genießen), den Kopf zum Palais hebe und mir unvermittelt vorstelle, wie es wäre, wenn jetzt, in diesem Moment, eine Rakete in das Haus einschlägt. Was hier, in meiner Stadt noch immer undenkbar scheint, ist zwei Länder weiter Realität; seit vier Monaten schon sind die Raketen, Bomben, Minen und Sirenen Realität, und nicht nur Menschen und Territorien werden zerstört, auch die Kultur steht unter Dauerbeschuss, Kirchen, Kinos, Theatersäle wurden rigoros zerstört, als wären es Unfälle, doch Krieg ist kein Unfall und ein Befehl kein Versehen (selbst wenn es so scheinen soll): Der Überfall auf einen Staat, auf ein Volk, ist auch der Überfall auf ein Museum. Auf alle ukrainischen Museen. 

Nicht nur Waschmaschinen, Laptops und Autos werden in diesem Krieg entwendet, auch viele Kunstspeicher eines Landes wurden wochenlang attackiert, eingeäschert oder ausgeräumt, Kulturschätze geplündert, gestohlen, verschwindend gemacht, während ich hier, in dieser lebenswerten Stadt, einen weiteren ruhigen Museumsdienst angehe und mich einzig und allein vor der brütenden Junihitze schützen muss.

Ich bin kein Soldat, ich wäre ein schlechter, doch ich trage eine Uniform und ich bewache ein Gebäude, ein Museum, weil ich an seinen Wert glaube; nicht an die Auktionssummen, die in den Ankäufen liegen, nicht an die Gewinnsteigerungen, die jährlich ersucht werden, nein, ich glaube an die Institution selbst, an die Notwendigkeit von Museen als Tempel der Kultur, als plastische, beständige Erinnerungen an all jene Genies, Außenseiter, Künstler und Künstlerinnen, deren Werke die Zeit überdauern, weil sie von einer Riege schlecht bezahlter Aufsichten vor fremden Händen geschützt werden. Nie scheint es absurder, nie scheint es wichtiger, ein Museum zu bewachen, als in Zeiten des Krieges.

Während eine nahe Nation um ihre Kultur, ihre Identität und Existenz kämpft, wirken hierzulande viele Menschen, auch meine Kollegen und Kolleginnen in den Museumsräumen überfordert und ratlos. Der Kollege beim Haupteingang, der sich ebenso ernsthaft mit den Weltnachrichten wie mit der Goldgräberei beschäftigt, hat in den ersten Kriegswochen erwägt, nach Neuseeland auszuwandern, um dem drohenden Atomschlag auszuweichen; eine andere junge Kollegin fragte mich kürzlich sehr offen und irritiert, warum hier in der Stadt nur teure BMWs und andere Protzkarren mit blaugelbem Kennzeichen zu sehen seien – und ja, genau das ist er, denke ich, das ist der erste Eindruck, der sich in den Köpfen der Leute einnistet, es ist diese vom Krieg zerstörte Wahrnehmung, die nur das eine Prozent sieht, das es sich leisten kann, Autos zu besitzen, die es über die Grenzen schaffen, während ausgebrannte Billigwägen im Kriegsgebiet verrotten; nicht selten mit den zerstörten, ausgebrannten Familien darin.

Das ist die Gefahr, die der Krieg (schon jetzt) über die Grenze trägt, über den heißen Kies, bis ins Palais des Fürsten: nicht zu sehen, was wirklich passiert, weil sich die verzerrten Angstbilder und Irritationen finster über die Augen stülpen und alle fernen Blickwinkel verschließen; denn auch (und vor allem) das Sehen wird vom Krieg zerstört, selbst wenn er nicht direkt erlebt wird. Es ist und war schon immer ein Märchen, dass die Liebe blind macht; das Gegenteil ist der Fall. Krieg macht blind, selbst die Pazifisten. 

Der britische Romancier Julian Barnes hat in einem wunderschönen halben Kapitel einmal treffend festgehalten, dass wir niemals klarer sehen, als wenn wir verliebt sind; die Farben, die Gerüche, unsere Ziele im Leben, alles tritt besonders deutlich hervor. Selbst im Kunstwerk sehe ich aberwitzige Details nur aus einem Grund: weil ich es liebe. Ein seltsamer Irrglaube, zu denken, die Liebe mache blind, im Gegenteil, sie zeigt deutlicher als alles, was mir wirklich wichtig ist und wofür ich morgens aufstehen will.

Zum Museum, zur Goldgräberei, der Barockkunst, zu britischer Belletristik, der Hauskatze oder zum ersparten BMW – zu welchen Wesen und Dingen wir eine Liebe entwickeln, bleibt individuell, unkontrollierbar; aber sie bleibt. Sie ist die letzte Sache, die kein Diktator, kein Krieg zerstören kann. Das klingt vielleicht banal, aber was kümmert das schon, es gibt mir ein wenig Hoffnung in diesen Tagen, Wochen, Monaten, und das muss genügen. Im Übrigen hat der Kollege am Haupteingang von seinen Auswanderungsplänen heute wieder Abstand genommen – vielleicht sieht er die Dinge heute wieder etwas klarer.

Vielleicht hat auch er Julian Barnes gelesen.

Donnerstag, 5. Mai 2022

Wie man Amerling bespricht

Kunstvermittler sind eine Spezies für sich. Obwohl in Physiognomie und Dynamik durchaus verschieden, wirken sie doch seltsam geschlossen und überzeugt in ihren Inhalten. Egal, wen von ihnen ich begleite, jedes Mal höre ich die gleichen Ausführungen, in- und auswendig gelernt, abgespult wie eine müde Kassette, die zu oft gespielt wurde. Jedes Mal erfahre ich die gleichen Geschichten, Anekdoten, und – verwundernswert – die gleichen Meinungen zu den fürstlichen Kunstschätzen; als gäbe es keine Möglichkeit, ein Werk unterschiedlich zu deuten; oder zumindest: zu kritisieren. 

Jedes Mal, wenn ich im blauen Salon vor dem riesigen, goldumrankten Amerling stehe, weiß ich schon so sicher wie der Uhrschlag im Nebenzimmer, dass die Kunstvermittler wieder erzählen werden, wie steif und unbeholfen Amerling das Auftragsgemälde ausgeführt hat, wie leblos und gezwungen der fürstliche Thronfolger im Mädchengewand (sprich: im Kleid) auf einem steifen und leblosen, viel zu großen Schimmel sitzt, und jedes Mal werden die Kunstvermittler zur gegenüberliegenden Seite verweisen, wo die erhaltene Skizze zu dem Werk hängt, und immer, immer werden sie betonen, wie viel lebendiger und somit besser und wahrhaftiger die Ölskizze ist: hier sitzt der Bub lockerer, entspannter, die Pose wirkt kindlicher, und worauf er sitzt, ist kein stolzer, großgewachsener Schimmel, sondern ein abgelenktes, kindgerechtes Pony, verspielt und dynamisch – moderner als das fertige Werk sei es, werde ich jedes Mal erfahren, dem Gemälde überlegen, das doch zu Amerlings schwächeren Werken zählt, daran besteht kein Zweifel. Aber warum eigentlich nicht?

Die Einigkeit der Kunstvermittler verstört mich bei jeder neuen Führung, vor allem aber scheint sie mir eine Sache zu vergessen oder außer Acht zu lassen, ein winzig kleiner Punkt, den ich nicht übersehen kann: die Situation des Kunstprozesses. Amerling wurde vom Fürstenhaus dazu erkoren oder verdonnert, den Fürstenjungen festhalten zu müssen – mit all seinen Attributen und Stärken, die ein Thronfolger zu repräsentieren hat, egal, was die Wahrheit dazu sagt. Ein haltloses, lebendiges Kind, das dafür stundenlang regungslos und ausdrucksstark auf einem Pferderücken posieren muss – was könnte unnatürlicher sein? Auf der beiläufigen Ölskizze kommt dieser Umstand nicht ansatzweise rüber, schnell hingepinselt wirkt sie deshalb zwar auf den ersten Blick dynamischer, moderner – aber nicht natürlich. Denn dass ein Kind locker und lebendig bei einem zermürbenden Porträtauftrag sein kann, dass ein Pony verspielt den Zottelkopf hebt, genau im rechten Moment, das wirkt mir letztendlich viel gestelzter als die steife Endpose des fertigen Prinzengemäldes. Und deshalb ist die riesige Repräsentation größer als seine Skizze: weil Amerling (bewusst oder unbewusst) den wahrhaftigen Prozess, diese abgequälte, selten steife Situation des aufgezwungenen Posierens festgehalten hat; weil er im steifen Goldrahmen die Wahrheit hinter solch lästigen Auftragswerken durchschimmern lässt und damit ein deutlicheres Zeitdokument schafft, als es seine Auftraggeber verlangt haben; weil Amerling schönt, zeigt er gleichzeitig etwas Echtes: wie unendlich mühsam der Job des Modells ist.

Das ist der Umstand, der von keinem Kunstvermittler aufgedeckt wird, der heimliche Verdienst, der Amerling nie zugesprochen wird, weil sie alle nicht sehen, was er uns doch offen zeigt: Dort, wo die Wahrheit mit allen Mitteln verschleiert werden möchte, da scheint sie oft besonders deutlich hindurch.

Sonntag, 13. März 2022

Angst und Wunsch

Ein Vater, ein Sohn, ein Revolver und ein Einkaufswagen. Graues, zerstörtes Land, Rauch und Dunkelheit und Tod, über allem der Hunger. Der Weg zur Küste, wer weiß, wohin, am Ende der Welt, wer weiß, warum. Die Straße von Cormac McCarthy ist eines der seltenen Bücher, die ich zweimal gelesen habe, vor Jahren schon, und ich erinnere mich, muss oft denken an die frühe Stelle, als der Vater aus unruhigen Träumen erwacht; McCarthy schreibt (sinngemäß), solange wir von Angst und Gefahr träumen, solange ist noch alles gut, es zeigt, dass wir noch kämpfen – gefährlich sind die guten, warmen, verheißenden Träume, sie sind die Vorboten von Trägheit und Tod. Was aber, wenn sich die Stimmungen im Schlaf vermengen, wenn aus dem Angsttraum ein Wunschtraum wird, die Gefahr mit der Sehnsucht ringt, am Ende verbannt wird? Welche Aussicht, welches Gefühl wird dann überwiegen?  

Im Traum erhalte ich eine Einladung von Putin, ich sträube mich erst dagegen, will natürlich ablehnen, doch letztlich nehme ich an, gehe zu ihm, in der vagen Hoffnung, meine Einblicke mit der Welt teilen zu können. Vor den Toren seines prunkvollen Anwesens trage ich demonstrativ ein Armband in Blau und Gelb, sofort wird mir befohlen, es abzunehmen. Putin selbst redet wenig, ich werde zu Tisch gebeten und sitze in einem hohen Prunksaal mit offener Galerie, an einer Tafel mit Putin, seiner Tochter, Kadyrow und drei heimischen Politikern, von denen ich schnell verstehe, dass sie auf Putins Gehaltsliste stehen. Das Essen verläuft lange Zeit ruhig, die Stimmung ist gedämpft, leise und zurückhaltend wird sich vom unendlichen Buffet im Nebenzimmer bedient, bis der Abend plötzlich und unerwartet eskaliert – auf der Galerie unter der hohen Decke steht ein Schütze, der auf Putins Zeichen hin Kadyrow ausschaltet; als sich die drei heimischen Politiker weiter einmischen und aus wirtschaftlichen Gründen Kritik am Krieg üben, wird das Feuer auch auf sie eröffnet, Chaos bricht aus, ich springe vom Stuhl und verschanze mich hinter einem umgeworfenen Tisch, jetzt wird von allen Seiten geschossen, die Politiker sind längst hinüber, und es ist Putins Tochter, die mich rettet, sie zeigt mir den Weg hinaus, in die Freiheit, ich entkomme knapp.

Schutzsuchend verstecke ich mich im Haus meiner Kindheit, doch es dauert nicht lange, bis mich Putin und sein Gefolge aufspüren, wissen wollen, mit wem ich bereits geredet habe. Und wieder ist es Putins Tochter, die mir aushilft, sie findet mich am Schwimmbeckenrand hinter dem Haus, erklärt mir, was ich sagen muss, damit ihr Vater mich verschont – doch sie spielt ein doppeltes Spiel, ihre warme, verheißende Freundlichkeit ist in Wahrheit eine Falle, sie nimmt meine Worte auf und spielt sie ihrem Vater vor, meine Stimme rauscht aus ihrem Handy, und plötzlich fühlt sich Putin ganz persönlich angegriffen, plötzlich will er die Sache selbst erledigen, will mich nicht einfach zum Schweigen bringen, er will mich vernichten; ich flüchte verzweifelt in die Werkstatt, sperre hinter mir zu, es gibt keinen Ausweg. Während ich mein Schicksal erwarte, sammle ich letzte Kräfte und Gedanken, und auf einmal verstehe ich, begreife, dass es nur eine Möglichkeit gibt, dass nur noch etwas hilft – ein Zauber.

Als Putin die Tür aufreißt, schleudere ich ihm den Staub ins Gesicht und spreche die Formel, und sofort verschwindet er; seine Gestalt verwandelt sich in eine flackernde, papierdünne Miniatur von ihm, dazu verdammt, durch die Ritzen des Hauses zu geistern, ohne sich jemals fangen zu lassen, ohne je entkommen zu können – je öfter sie erblickt wird, umso winziger wird sie. Putins Handlanger tauchen bei mir auf, fragen, wo er sei. Er ist weg, sage ich. Wir werden ihn suchen, erwidern sie, jahrelang, wenn es sein muss. Das können sie gerne tun, denke ich erschöpft, doch sie werden nichts finden.

Als ich verschwitzt aufwache, ist seit zwei Wochen Krieg in Europa, niemand versteht, warum, und ich sehe und denke nur eines, im kalten Dunkel der Ungewissheit: Es gibt zu wenig Magie in der Welt.

Freitag, 18. Februar 2022

Lob der Ambivalenz

Marlene Streeruwitz wurde einmal im Radio gefragt, was sie vom Strichpunkt halte, worauf sie anwortete, mit dieser angenehmen Stimme, für sie sei der Strichpunkt überhaupt kein Satzzeichen, eine Antwort, die mich bis heute schockiert; ohne dem Strichpunkt wäre die Literatur nicht nur um einige (viele) Möglichkeiten ärmer, nein, seine Abwesenheit hätte viele Werke, Stellen, Grauzonen gar nicht zugelassen. Unvorstellbar, wie ein Michael Koolhaas aussehen würde, hätte ein Satzzeichenberserker wie Kleist keine Strichpunkte zur Verfügung gehabt; hätten Kafka, Woolf, Borges sich immer nur für Punkt oder Strich entscheiden müssen, ihre Werke wären heute nicht die gleichen; weil der Strichpunkt eine ungeahnte Rettung in der Not ist, ein stiller Held, der triumphiert, wo alle anderen Satzzeichen versagen. Und dennoch wird er selten gefeiert, oft verschmäht, sogar verleugnet, von vielen geächtet. Doch warum?

Ein Missverständnis, vielleicht, in jedem Fall ein Irrglaube; wer meint, der Strichpunkt stehe für die anfängliche Unentschlossenheit des Autor, der Autorin, der will fehlende Konsequenz sehen, wo eine bewusste Entscheidung stehen mag; denn der Strichpunkt ist selten unentschlossen, und er ist schon gar nicht feige, im Gegenteil, er zeigt Mut zur Ambivalenz, er ist die klare Entscheidung für das Unklare, das Dazwischen, für alle Fälle, in denen weder ein Punkt noch ein Strich passend oder präzise genug erscheinen; weil es ihn nun mal gibt, ihn geben muss in der Literatur – selten, aber doch –, den ambivalenten Zwischen-Fall, die Schwebe zwischen Punkt und Komma, Ende und Fortsetzung; ohne den Strichpunkt wäre die Literatur einer Mitte beraubt, die sich nicht überzeugt und parteiisch auf eine der beiden bitter verfeindeten Seiten schlägt – er ist die Alternative, die sich nicht simpel und voreilig festlegen lässt, er zeugt nicht nur von Ambivalenz, er bedingt die Ambivalenz, und deshalb ist er nicht bloß irgendein Satzzeichen, sondern vielleicht das literarischste Satzzeichen überhaupt; weil Literatur von der Ambivalenz lebt.

Wo es keinen Platz für gedankliche Zwischenräume gibt, die sich in schriftlichen Zwischenzeichen ausdrücken, da wird es eng für die Literatur, diesen unendlichen Möglichkeitsraum, der vielleicht überhaupt nur besteht, weil er sich unterschiedlich lesen lässt. Der Strichpunkt ist ein Michael Koolhaas, ein strenger Hüter und Verfechter der Ambivalenz. Wo sie aufhört, da bleibt nicht mehr als ein Diktat, eine Vorgabe, die keine Grauzonen zulässt, sondern diktiert, wie ich zu lesen habe. Und wer liest schon gern Diktate?

Donnerstag, 6. Januar 2022

Die Welt als Museum

Nach kurzer Bauzeit eröffnete das Museum im Januar 2020 und ist seither frei zugänglich und täglich geöffnet, sogar an Feiertagen. Es zeigt das kontinuierliche Lebenswerk eines einzigen, ehrgeizigen Künstlers, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die gesamte Weltbevölkerung zu porträtieren, weshalb die Sammlung ständig am Wachsen ist.

Während der Ausgestellte seine Bilder mit einem prägnanten Künstlernamen signiert, bleibt seine wahre Identität bis heute ein Rätsel. Es gibt Gerüchte, er stamme aus China; tatsächlich weiß man weder seine genaue Herkunft, noch sein Geschlecht oder Alter. Niemand hat ihn jemals persönlich zu Gesicht bekommen, er versteckt sich so gezielt und bewusst hinter seinem Werk, dass viele an seinem Genie zweifeln, manche glauben sogar, der Künstler existiere gar nicht, sein gesamtes Schaffen sei nur gefälscht oder computergeneriert und somit keine echte, keine wahre Kunst. 

Nicht wenige Gäste üben sich deshalb in Kritik; obwohl die Ausstellung für alle gratis ist, sind sie wütend, sauer auf die Museumsleitung, verlangen eine radikale Neuausrichtung des Hauses, die alternative Positionen zulässt und diversere, kollektive Arbeiten abseits des kulturellen Mainstreams zeigen soll, anstatt jahrelang einem einzigen Künstler den gesamten Raum zu geben. Zudem zeigen sich viele irritiert von den kleinformatigen, aus der Ferne kaum erkennbaren Porträtdarstellungen des anonymen Künstlers und setzen sich konsequent über die Abstandsregeln im Museum hinweg. Die schlecht bezahlten Aufsichten wiederum fühlen sich von der Museumsleitung im Stich gelassen, sie wirken zunehmend entnervt und überfordert von den ständigen Bildalarmen, weil wieder einmal jemand (bewusst oder versehentlich) ein Kunstwerk berührt hat.

Ständig müssen die Porträts deshalb von Experten überprüft werden, immer häufiger kommt es zu Schäden an den Bildern durch Unbedachtheiten und vorsätzlicher Ignoranz; die meisten dieser Schäden können in der Restaurierung kaschiert werden, doch manche Werke sind selbst von den besten Restauratoren nicht mehr zu retten. Während die Ausstellung in ihrem Umfang weiter anwächst, verschwinden somit viele ältere Portraits aus der Sammlung und hinterlassen eine trostlose Lücke an den Museumswänden.

Umstritten bleibt die Frage, ob gegen mutwillige Vandalen ein striktes Hausverbot ausgesprochen werden soll, was sich wiederum gegen den inklusiven Museumsanspruch richten würde. Statt des generellen Kunstverbots überlegt die Museumsleitung deshalb, bei wiederholten Bildberührungen empfindliche Geldstrafen zu verhängen, um in den Köpfen der Gäste für mehr Respekt vor der Kunst zu sorgen.

Andere, allzu vorsichtige Personengruppen bleiben dem Museum von sich aus fern, weil sie fürchten, eines Tages ihr eigenes Porträt an der Wand zu entdecken. Wo sich von Anfang an reger Protest gebildet hat, weil der Künstler seine Bilder ohne Einverständnis der Porträtierten malt, spüren die Schüchternen, Abwesenden eine stille Angst, nicht mit ihrer Darstellung im Museum umgehen zu können, weshalb sie sich selbst isolieren und mit dem Künstler nichts zu tun haben wollen. Sie verschließen sich komplett und freiwillig vor der Kunst, doch es geht ihnen nicht gut damit; der stete Kulturmangel drückt auf ihre Seelen.

Aus Sorge um sie wurden neue Angebote geschaffen. Die Museumsleitung bietet heute mehr und mehr Führungen an, um die verunsicherten Gäste von speziell geschulten und erfahrenen Kunstvermittlern davor zu schützen, im Museum auf sich selbst zu treffen, zudem werden kostenlose Audioguides zur Verfügung gestellt, um sich Hintergründe anzueignen und der eigenen Skepsis vorzubeugen. Zögerlich, aber doch werden diese Angebote wahrgenommen, auch wenn die sturen Führungsinhalte von allen kritisch beäugt werden, die sich lieber frei durch das Museum bewegen und sich in der Art und Weise, wie sie Kunst interpretieren, von niemandem bevormunden lassen wollen. Auf der anderen Seite werden die Ausführungen der Guides oft als unverständlich, verwirrend und mitunter zu kurz gegriffen kritisiert.

Dabei ist heute die große Frage, was Kunst eigentlich ist und was Kunst überhaupt darf, wieder neu entbrannt. Viele Gäste können mit dem Konzept des Künstlers nicht viel anfangen, manche begreifen die zahllosen Bilder – und vor allem ihre Lücken – als verstörend, abschreckend, geschmacklos. Wieder andere empfinden das Werk an sich als größenwahnsinnig und absurd, sie sind der Meinung, die Museumsgelder wären woanders besser aufgehoben, sie können oder wollen den Erfolg des Künstlers nicht nachvollziehen, obwohl sie ihn mit ihren Besuchen (ihrer Empörung) noch unterstützen. Nicht wenige fordern wiederum die komplette Schließung des Museums, damit die leidigen, längst aus dem Ruder geratenen Kunstdebatten endlich ein Ende haben.

Doch egal, wie man zu den Bildern und der Museumspolitik schlussendlich steht, in einer Sache sind sich alle einig, auch wenn es manche nicht wahrhaben wollen: Das Werk des Künstlers lässt niemanden kalt. Es hängt, und es wird weiter ausgestellt, so lange, bis es nicht mehr erregt.