Krieg
zerstört: Leben, Häuser, Gebiete, Gewissheiten, Natur und Wahrnehmung. Seit
Wochen und Monaten ertappe ich mich dabei, wie ich die müden Beine über den
heißen Kies im Ehrenhof schleppe (während die jungen Menschen ringsum ihr Leben
genießen), den Kopf zum Palais hebe und mir unvermittelt vorstelle, wie es
wäre, wenn jetzt, in diesem Moment, eine Rakete in das Haus einschlägt. Was
hier, in meiner Stadt noch immer undenkbar scheint, ist zwei Länder weiter Realität;
seit vier Monaten schon sind die Raketen, Bomben, Minen und Sirenen Realität,
und nicht nur Menschen und Territorien werden zerstört, auch die Kultur steht
unter Dauerbeschuss, Kirchen, Kinos, Theatersäle wurden rigoros zerstört, als wären
es Unfälle, doch Krieg ist kein Unfall und ein Befehl kein Versehen (selbst wenn
es so scheinen soll): Der Überfall auf einen Staat, auf ein Volk, ist auch der
Überfall auf ein Museum. Auf alle ukrainischen Museen.
Nicht nur
Waschmaschinen, Laptops und Autos werden in diesem Krieg entwendet, auch viele Kunstspeicher eines Landes wurden wochenlang attackiert, eingeäschert oder ausgeräumt, Kulturschätze geplündert, gestohlen, verschwindend
gemacht, während ich hier, in dieser lebenswerten Stadt, einen weiteren ruhigen
Museumsdienst angehe und mich einzig und allein vor der brütenden Junihitze
schützen muss.
Ich bin
kein Soldat, ich wäre ein schlechter, doch ich trage eine Uniform und ich
bewache ein Gebäude, ein Museum, weil ich an seinen Wert glaube; nicht an die
Auktionssummen, die in den Ankäufen liegen, nicht an die Gewinnsteigerungen,
die jährlich ersucht werden, nein, ich glaube an die Institution selbst, an die
Notwendigkeit von Museen als Tempel der Kultur, als plastische, beständige
Erinnerungen an all jene Genies, Außenseiter, Künstler und Künstlerinnen, deren
Werke die Zeit überdauern, weil sie von einer Riege schlecht bezahlter
Aufsichten vor fremden Händen geschützt werden. Nie scheint es absurder, nie
scheint es wichtiger, ein Museum zu bewachen, als in Zeiten des Krieges.
Während
eine nahe Nation um ihre Kultur, ihre Identität und Existenz kämpft, wirken hierzulande viele Menschen, auch meine Kollegen und Kolleginnen in den Museumsräumen überfordert und ratlos. Der Kollege beim
Haupteingang, der sich ebenso ernsthaft mit den Weltnachrichten wie mit der
Goldgräberei beschäftigt, hat in den ersten Kriegswochen erwägt, nach
Neuseeland auszuwandern, um dem drohenden Atomschlag auszuweichen; eine andere
junge Kollegin fragte mich kürzlich sehr offen und irritiert, warum hier in der
Stadt nur teure BMWs und andere Protzkarren mit blaugelbem Kennzeichen zu sehen
seien – und ja, genau das ist er, denke ich, das ist der erste Eindruck, der sich
in den Köpfen der Leute einnistet, es ist diese vom Krieg zerstörte Wahrnehmung,
die nur das eine Prozent sieht, das es sich leisten kann, Autos zu besitzen,
die es über die Grenzen schaffen, während ausgebrannte Billigwägen im
Kriegsgebiet verrotten; nicht selten mit den zerstörten, ausgebrannten Familien darin.
Das ist die
Gefahr, die der Krieg (schon jetzt) über die Grenze trägt, über den heißen Kies, bis ins
Palais des Fürsten: nicht zu sehen, was wirklich passiert, weil sich die verzerrten
Angstbilder und Irritationen finster über die Augen stülpen und alle fernen Blickwinkel verschließen; denn auch (und vor allem) das Sehen wird vom Krieg
zerstört, selbst wenn er nicht direkt erlebt wird. Es ist und war schon immer ein Märchen, dass die Liebe blind macht; das Gegenteil ist der Fall. Krieg macht blind, selbst die Pazifisten.
Der britische Romancier Julian Barnes hat in einem wunderschönen halben Kapitel einmal treffend festgehalten, dass wir niemals klarer sehen, als wenn wir verliebt
sind; die Farben, die Gerüche, unsere Ziele im Leben, alles tritt besonders
deutlich hervor. Selbst im Kunstwerk sehe ich aberwitzige Details nur aus einem Grund: weil ich es liebe. Ein seltsamer Irrglaube, zu denken, die
Liebe mache blind, im Gegenteil, sie zeigt deutlicher als alles, was mir wirklich
wichtig ist und wofür ich morgens aufstehen will.
Zum Museum,
zur Goldgräberei, der Barockkunst, zu britischer Belletristik, der Hauskatze oder zum ersparten BMW – zu welchen Wesen und
Dingen wir eine Liebe entwickeln, bleibt individuell, unkontrollierbar; aber
sie bleibt. Sie ist die letzte Sache, die kein Diktator, kein Krieg zerstören
kann. Das klingt vielleicht banal, aber was kümmert das schon, es gibt mir ein
wenig Hoffnung in diesen Tagen, Wochen, Monaten, und das muss genügen. Im
Übrigen hat der Kollege am Haupteingang von seinen Auswanderungsplänen heute
wieder Abstand genommen – vielleicht sieht er die Dinge heute wieder etwas klarer.
Vielleicht
hat auch er Julian Barnes gelesen.