Sonntag, 22. Januar 2023

Der Postphobiker

Während andere Angst vor der Zukunft haben, fürchtet er, dass alles schon passiert ist. Jedes Mal, wenn er das Radio, den Browser anmacht, sich die Nachrichten ansieht, überkommt ihn die Panik, dass alles, was ihm gerade berichtet wird, nur die Wiederholung einer Vergangenheit ist, dass selbst die vagen Wetteraussichten nur falsche Rückschauen sind, weil in Wahrheit nichts davon live ist, auch wenn es so klingen soll (gerade, wenn es so klingen soll). Seine Angst ist die Krankheit, sein Zweifel das Symptom: Was, wenn nichts in unserer Welt gegenwärtig ist? Was, wenn uns nur vorgegaukelt wird, dass wir im Jetzt leben?

Er glaubt oder fürchtet, dass uns die Vergangenheit nur als Gegenwart verkauft wird, weil die Katastrophen der Zukunft schon längst eingetroffen sind. London könnte längst zerfallen sein, die Arktis geschmolzen, Australien versunken, der nukleare Erstschlag erst ein paar Jährchen her. Er sucht Hinweise in der Sprache, Signale im Radio, verdächtige Störgeräusche, Rückkopplungen, jede knisternde Frequenz heizt seine Paranoia an; natürlich, denkt er, nur die wenigsten wären eingeweiht, die meisten würden wirklich glauben, im vorgegebenen Jahr zu leben, sie glaubten, dass die Nachrichten von dem berichten, was gerade passiert, während er spürt, dass gerade vertuscht wird, was nicht mehr zu ändern ist.

Dummkopf, wird ihm gesagt, warum prüfst du es nicht einfach – reise nach London, flieg nach Australien, überzeug dich davon, dass die Welt noch steht, schau es dir an, mit eigenen Augen; doch für ihn ist das nicht Beweis genug, nein, es reicht nicht, um ihm seine Angst zu nehmen: Wenn er sieht, dass London in Ordnung ist, wer garantiert ihm dann, dass nicht Amsterdam im Argen liegt, der Eiffelturm einstürzt, das letzte Nutztier verreckt, in diesem Moment? Und woher weiß er, dass er nicht bloß durch die Fassade einer Stadt läuft, die im Inneren bereits verfallen und verseucht ist? Um seine Angst wirklich zu überwinden, um wahre Gewissheit zu haben, müsste er hinter jede verschlossene Tür blicken, er müsste an allen Orten der Welt zugleich sein, um sicher zu wissen, dass sie alle noch existierten. Und deshalb macht er sich auf die Suche nach dem Aleph.

Im Zuge seiner Angst ist er auf die Reportagen von Borges gestoßen; in einer berichtet er von einem winzigen Gegenstand, der das gesamte Universum in sich trägt. Fragwürdige Quellen wollen ihm zwar einreden, Jorge Louis Borges hätte phantastische Literatur verfasst, doch er glaubt nicht daran; er denkt, dieser Mann hätte schlicht und einfach zu viel gewusst, denn als einer der wenigen hat er sich getraut, über die Zukunft (also die eigentliche Gegenwart) zu berichten, er hat über das Internet geschrieben, noch lange, bevor es uns zugänglich wurde, und deshalb hat er auch nie den Nobelpreis erhalten, weil sie ihm natürlich keine Bühne bieten, ihn zum Schweigen bringen wollten – zwar könne niemand klar benennen, wer „sie“ sind, doch genau das ist ihre Absicht, weil „sie“ nicht auffliegen wollen, wandeln sie unsichtbar und unsterblich unter uns, wie Homer. Er denkt, dass Borges das wusste; und vermutlich musste er deshalb schleichend erblinden, offensichtlich haben sie ihm die Sehkraft entzogen, damit er nicht mit eigenen Augen die Wahrheit überschauen konnte; doch der Postphobiker will genau das.

Im Bericht von Borges wird das Aleph im Keller eines alten Hauses in der argentinischen Calle Garay entdeckt; zwar wurde das Haus mittlerweile abgerissen, der Gegenstand zerstört – doch wie uns Borges in seiner Schlussbemerkung mitteilt, hegt er die Vermutung, dass ein weiteres Aleph existiert, dass er womöglich das falsche beschaut hatte – es könnte sich im Inneren einer Steinsäule in Kairo befinden (sofern Kairo existiert), es könnte ein Spiegel sein, uns womöglich in menschlicher Form erscheinen. Der Postphobiker geht sämtlichen Hinweisen nach, die der Argentinier ihm hinterlassen hat, denn es ist die einzige, die letzte Möglichkeit, sich von seiner Furcht zu lösen, am Ende über sie zu triumphieren: indem er jenen Gegenstand findet, der ihm alle Ereignisse zu allen Zeiten zeigt, ihm Sicherheit gibt, dass es nie so kommen wird, wie es in seiner Panik bereits ist, ihm endlich all seine Ängste nimmt.

Er sucht ihn bis heute.

Dienstag, 3. Januar 2023

Der Boris-Effekt

Neujahr. Im dichten Nebel dieser imaginären Zäsur, die einen Neustart verkündet, ohne irgendetwas anzuhalten, zurückzusetzen (außer die Kalenderwoche), sitze ich in der kühlen Altbauhöhle und schaue mir den Distelfink an, die Verfilmung von Donna Tartts großem Roman um ein kleines Gemälde, The Goldfinch im Original, ein mit übermäßigen Vorschusslorbeeren bedachter Film, der sofort und tief im Nebel der Enttäuschungen verschwunden ist, an den Kinokassen ignoriert, von der Kritik in seltener Einigkeit vernichtet. Zu Unrecht, wie ich finde: denn der Film ist nicht schlecht, im Gegenteil, Besetzung und Ausstattung sind tadellos, das Drehbuch verknappt an den richtigen Stellen, die Kameraarbeit ist ein einziges Gemälde. Es ist paradox: Normalerweise leiden Romanverfilmungen gerade an den unendlichen Erwartungen durch jene, die ihre Vorlage verehren, doch beim Distelfink beschleicht dich das Gefühl, alle Kritiker, die den Film mit dem Buchvergleich abstrafen, haben Donna Wartts Wälzer niemals gelesen.

Denn im Grunde muss dir der Film leid tun, wenn du das Buch kennst, macht er doch schrecklich offensichtlich, woran bereits der Roman krankte: die seltsame Blässe seines Helden. Denn auch nach über tausend Seiten weiß ich von diesem Theo nicht mehr als seinen Namen; seine jugendlichen Drogenexzesse mit seinem abgeranzten Außenseiterkumpel Boris, sein unüberwindbares Trauma durch den gewaltsamen Verlust der Mutter, sein zwanghaftes Festhalten am titelgebenden Kunstwerk, seine Entwicklung zum kalkulierten Dandy, kalten Ehemann, berechnenden Lügenbaron, all das bleibt bereits im Buch die reinste Behauptung, nichts davon glaube ich ihm – bei all seinen Abenteuern bleibt Theo (wie durch ein Wunder) die langweiligste Figur seiner eigenen Geschichte.

Im Roman wiegt dieser Umstand erstaunlicherweise nicht sehr schwer, weil die Autorin es meisterhaft versteht, mich durch akribische, fast schon obsessive Beschreibungen in ihre Welt zu versetzen, und mehr Wert legt auf die Belebung eines Antiquariats als auf die Lebendigkeit des Antihelden; und weil sie Nebenfiguren schafft, die neben seiner Blässe umso stärker strahlen, allen voran der bleiche (niemals blasse) Boris, der bunteste Vogel und eigentliche Star neben dem Distelfink – über hunderte von Seiten verbannt ihn Tartt gnadenlos aus ihrem Buch, und dann, wenn er nach vielen, vielen Jahren endlich wieder in Theos Leben auftaucht, freue ich mich darüber so ehrlich, so euphorisch, als würde ich einen alten, bereits totgeglaubten Freund nach Ewigkeiten wiedertreffen. Im Film gelingt dieser Effekt nicht; er kann nicht gelingen – wenn Boris auf dem Bildschirm wieder auftaucht, ist nur ein halbes Stündchen vergangen und ein anderer Schauspieler in seiner Haut, einer, der mir meinen Boris wieder aus dem Kopf reißt, ihn mir ersetzen will; aber natürlich kann es nur einen Boris geben.

Über seine filmische Rückkehr freu ich mich nur, weil sie mich daran erinnert, welche unbändige Freude sie während der Buchlektüre in mir ausgelöst hat. Es ist ein magischer, universaler Effekt, den alle Büchermenschen kennen. Der manische Allesleser Alberto Manguel („Ich verstehe mein Leben als ein unablässiges Lesen in den Seiten vieler Bücher“) hat ein ganzes Werk darüber geschrieben, wie uns fiktive Figuren durchs Leben begleiten, uns zu wahren Freunden werden, uns manchmal sogar echter und greifbarer erscheinen als ihre leibhaftigen Schöpfer, die uns nicht weiter interessieren. Der Boris aus dem Buch ist mir ein solcher Freund geworden; seine filmischen Inkarnationen bleiben ferne Bekannte.

Donna Tartts Roman habe ich vor vielen Jahren gelesen, ich war damals noch keine Aufsicht, trug noch nie einen Dienstanzug, doch ich denke heute noch an Boris, wenn ich gute Kollegen nach Ewigkeiten wieder auf Position treffe; und ich frage mich, was dieses blonde Schlitzohr, dieser sympathische Solitär, Gift- und Gurkengenießer, dieses prinzipientreue Phantom wohl heute treibt, ob er für sich Erlösung gefunden hat, ob er noch manchmal seinen berauschten Jugendtagen in der Wüste von Nevada nachtrauert und was er in diesen Tagen wohl fühlt, jetzt, wo in seiner alten Heimat der Krieg herrscht. Boris ist Ukrainer.