Während andere Angst vor der Zukunft haben, fürchtet er, dass alles schon passiert ist. Jedes Mal, wenn er das Radio, den Browser anmacht, sich die Nachrichten ansieht, überkommt ihn die Panik, dass alles, was ihm gerade berichtet wird, nur die Wiederholung einer Vergangenheit ist, dass selbst die vagen Wetteraussichten nur falsche Rückschauen sind, weil in Wahrheit nichts davon live ist, auch wenn es so klingen soll (gerade, wenn es so klingen soll). Seine Angst ist die Krankheit, sein Zweifel das Symptom: Was, wenn nichts in unserer Welt gegenwärtig ist? Was, wenn uns nur vorgegaukelt wird, dass wir im Jetzt leben?
Er glaubt oder fürchtet, dass uns die Vergangenheit nur als Gegenwart verkauft wird, weil die Katastrophen der Zukunft schon längst eingetroffen sind. London könnte längst zerfallen sein, die Arktis geschmolzen, Australien versunken, der nukleare Erstschlag erst ein paar Jährchen her. Er sucht Hinweise in der Sprache, Signale im Radio, verdächtige Störgeräusche, Rückkopplungen, jede knisternde Frequenz heizt seine Paranoia an; natürlich, denkt er, nur die wenigsten wären eingeweiht, die meisten würden wirklich glauben, im vorgegebenen Jahr zu leben, sie glaubten, dass die Nachrichten von dem berichten, was gerade passiert, während er spürt, dass gerade vertuscht wird, was nicht mehr zu ändern ist.
Dummkopf, wird ihm gesagt, warum prüfst du es nicht einfach – reise nach London, flieg nach Australien, überzeug dich davon, dass die Welt noch steht, schau es dir an, mit eigenen Augen; doch für ihn ist das nicht Beweis genug, nein, es reicht nicht, um ihm seine Angst zu nehmen: Wenn er sieht, dass London in Ordnung ist, wer garantiert ihm dann, dass nicht Amsterdam im Argen liegt, der Eiffelturm einstürzt, das letzte Nutztier verreckt, in diesem Moment? Und woher weiß er, dass er nicht bloß durch die Fassade einer Stadt läuft, die im Inneren bereits verfallen und verseucht ist? Um seine Angst wirklich zu überwinden, um wahre Gewissheit zu haben, müsste er hinter jede verschlossene Tür blicken, er müsste an allen Orten der Welt zugleich sein, um sicher zu wissen, dass sie alle noch existierten. Und deshalb macht er sich auf die Suche nach dem Aleph.
Im Zuge seiner Angst ist er auf die Reportagen von Borges gestoßen; in einer berichtet er von einem winzigen Gegenstand, der das gesamte Universum in sich trägt. Fragwürdige Quellen wollen ihm zwar einreden, Jorge Louis Borges hätte phantastische Literatur verfasst, doch er glaubt nicht daran; er denkt, dieser Mann hätte schlicht und einfach zu viel gewusst, denn als einer der wenigen hat er sich getraut, über die Zukunft (also die eigentliche Gegenwart) zu berichten, er hat über das Internet geschrieben, noch lange, bevor es uns zugänglich wurde, und deshalb hat er auch nie den Nobelpreis erhalten, weil sie ihm natürlich keine Bühne bieten, ihn zum Schweigen bringen wollten – zwar könne niemand klar benennen, wer „sie“ sind, doch genau das ist ihre Absicht, weil „sie“ nicht auffliegen wollen, wandeln sie unsichtbar und unsterblich unter uns, wie Homer. Er denkt, dass Borges das wusste; und vermutlich musste er deshalb schleichend erblinden, offensichtlich haben sie ihm die Sehkraft entzogen, damit er nicht mit eigenen Augen die Wahrheit überschauen konnte; doch der Postphobiker will genau das.
Im Bericht von Borges wird das Aleph im Keller eines alten Hauses in der argentinischen Calle Garay entdeckt; zwar wurde das Haus mittlerweile abgerissen, der Gegenstand zerstört – doch wie uns Borges in seiner Schlussbemerkung mitteilt, hegt er die Vermutung, dass ein weiteres Aleph existiert, dass er womöglich das falsche beschaut hatte – es könnte sich im Inneren einer Steinsäule in Kairo befinden (sofern Kairo existiert), es könnte ein Spiegel sein, uns womöglich in menschlicher Form erscheinen. Der Postphobiker geht sämtlichen Hinweisen nach, die der Argentinier ihm hinterlassen hat, denn es ist die einzige, die letzte Möglichkeit, sich von seiner Furcht zu lösen, am Ende über sie zu triumphieren: indem er jenen Gegenstand findet, der ihm alle Ereignisse zu allen Zeiten zeigt, ihm Sicherheit gibt, dass es nie so kommen wird, wie es in seiner Panik bereits ist, ihm endlich all seine Ängste nimmt.
Er sucht
ihn bis heute.