Ich stehe am Haupteingang des Fürstenpalais und begrüße und
zähle die Gäste. Dieses Wochenende findet die jährliche Kunstmesse im Palais
statt, verwandeln sich Sala Terrena und Herkulessaal in enge Labyrinthe
zeitgenössischer Kunst, schweben Gemälde in Petersburger Hängung dicht an
dicht, wetteifern Galeristen um die großzügige Gunst der Geladenen. Ich
kontrolliere die Karten und den Andrang, in jeder Hand halte ich, wie
unsichtbar, einen kleinen, metallenen Personenzähler; mit dem einen zähle ich die
Gäste, die reinkommen, mit dem anderen all jene, die das Gebäude verlassen. Ich
bin kein Türsteher; ich bin die freundliche, manuelle Echtzeitstatistik.
Nach Scharen von Gästen, die kunstsinniger und
ausgestellter wirken, als die Ausstellungen selbst, erkenne ich von weitem
einen Mann mit Stock, der sich mit seltsamen Schritten über den Innenhof
bewegt. Ich beobachte ihn und verstehe schnell: der Mann hat ein lahmes Bein.
Mit jedem Schritt muss er es mühevoll nachziehen, jede Bewegung scheint ihm unendliche
Überwindung, unfassbare Kraft zu kosten. Zum Haupteingang sind es zwei Stufen –
andere gehen sie, er muss sie bewältigen. Für eine Fußstrecke von wenigen
Sekunden benötigt er mehrere Minuten (ich zähle sie). Sein Tempo ist endlos
langsam, qualvoll langsam, wie man so
sagt, weil das reine Zusehen bereits schmerzt. Zumindest rede ich mir das ein,
als wüsste ich irgendetwas über Schmerzen.
Wie aufwendig muss wohl jede noch so kurze Strecke für
diesen Menschen sein? – Wenn ich nicht gehen kann, ist es unmöglich, es zu
versuchen; kann ich aber schlecht gehen, wird jeder Schritt zur
Erprobung. Der Gang über den bekiesten Vorplatz, über die zwei knappen Stufen
zum Haupteingang – war dieser Weg für den Mann mit dem lahmen Bein ein Triumph
oder eine Tortur? Was überwiegt bei ihm – Schmerz oder Ziel? Und wie muss dieser Mensch
die Zeit in jeder Bewegung wahrnehmen? Empfindet er wieder wie ein Kind, für das
jede Strecke unendlich lang ist, weil es noch so kurze Beinchen und so wenig
Gewohnheit und Übersicht hat? Wird jeder Tag für ihn ein Marathon, ein
Großereignis, auf das er sich intensiv vorbereiten muss?
Ich hoffe es, irgendwo. Ich hoffe, er spürt jeden Tag den
Triumph der kleinen Schritte, den Erfolg, einen Eingang oder eine Kunstmesse
erreicht zu haben, einen stolzen, alltäglichen, extremen Erfolg, der ihm ganz
alleine gehört, weil er allein weiß, wie viel Mühe, wie viel Überwindung in
diesem Erfolg steckt. Ein Erfolg, den weder ich, noch irgendein anderer Gast hier begreifen kann, weil wir alle gesund sind, weil wir nicht lahmen, weil
unsere Schritte und unser Tempo selbstverständlich sind. Und was selbstverständlich ist, darüber redet man nicht. Es ist kein Thema.
Für mich ist Marathon die Luxusoption meiner
Freizeitgestaltung. Für den Mann mit dem lahmen Bein ist Marathon der unumgängliche Alltag.
Und er bewältigt ihn nicht nur; er gewinnt ihn, jeden Tag.