Sonntag, 6. Oktober 2024

Die Kubanerin

Auf die Frage nach dem wichtigsten Tag, dem wichtigsten Abend des Jahres gibt es für Museumsaufsichten nur eine richtige Antwort: die Lange Nacht der Museen. Einmal im Jahr herrscht Ausnahmezustand und Urlaubssperre, jede Kraft wird gebraucht, um die anstürmenden Massen im Zaum zu halten – es ist der Black Friday der hiesigen Kulturlandschaft (an einem Samstag), es ist Anfang Oktober, und es ist mit allem zu rechnen: erwachsene Damen, die sich Klopapierrollen in die Handtaschen stopfen, erwachsene Herren, die ihre Kaugummis auf den Museumsteppich spucken – alles schon passiert. Das goldene Ticket, das für einen Abend Einlass gewährt in alle Kunstkammern des Landes, es lockt die Leute magnetisch an, es holt ihr bestes und ihr schlechtestes hervor. Wer etwas über die Natur des Menschen lernen will, ist hier nicht falsch.

Ich erinnere mich an die große Nacht vor einem Jahr, eingeteilt in einem Palais in der Innenstadt, stand ich zitternd und frierend (meine Jacke zu dünn) im überdachten Eingangsbereich, durch den der Wind blies, während sich die Besuchermassen bis um die Straßenecke reihten, und meine Aufgabe darin bestand, den unnachgiebigen Andrang zu ordnen, die ewigen Fragen zu klären, die Ausgänge frei zu halten und (besonders) Unfälle zu vermeiden.

Die längste Zeit läuft alles gut in diesem Jahr, es ist schon kurz vor Mitternacht, als es passiert: Hinter mir ertönt ein Knall, der durch das Vestibül hallt, ich drehe den Körper – nur ein paar Meter entfernt, inmitten der Menge, liegt eine Frau am Boden. Eine Mitarbeiterin der Museumskasse kommt ihr zur Hilfe, ich hinzu, die anstehenden Gäste treten zur Seite, der Portier schafft Platz, die Oberaufsicht wird verständigt. Wir versuchen, der Frau hoch zu helfen, es gelingt nicht; sie schreit auf, bleibt am kalten Stein sitzen. Neben ihr eine jüngere Frau, ihre Tochter, wie ich später erfahre, und beide haben Tränen in den Augen; nicht wegen des Schmerzes, nicht wegen der Verletzung, sondern weil sie beide sofort verstehen, was es bedeutet – die Mutter wird in ein Krankenhaus müssen. Die Oberaufsicht kommt hinzu, die Frau immer noch am Boden, die Rettung soll verständigt werden. Bitte nicht, sagt die Tochter flehend, mit spanischem Akzent, sie seien nicht versichert.

Es ist faszinierend, denke ich, wie im Chaos eines Notfalls die Fragmente nach und nach ineinander fallen und sich zu Bausteinen einer Geschichte fügen. Später, mit allen Informationen, könnte man diese Geschichte so erzählen: Eine Kubanerin, längst im Pensionsalter, zieht mit ihrer erwachsenen Tochter in die schöne Stadt an der Donau, weil ihnen hier ein schönes Leben versprochen wurde. Beide arbeiten als Reinigungskräfte für die kubanische Botschaft, bekommen eine Wohnung, doch keine Anstellung. Sie leben für den Botschafter, leben auf der Hut, weil sie wissen, dass ihnen hier nichts passieren darf. Weil sie nicht versichert sind. An einem Samstagabend möchte sich die Tochter einmal etwas gönnen, es ist Lange Nacht, und sie überredet die Mutter, mit ihr hinzugehen. Sie haben noch wenig von der Stadt erlebt, wollen nur einmal in ein Palais schnuppern; es ist schon spät, fast zu spät, als sie in der Schlange für die letzte Führung stehen – da stolpert die Mutter in der Menge über die einzige Stufe im Eingangsbereich, stolpert und stürzt auf die linke Schulter, bleibt liegen. Sofort wissen beide, dass der Albtraum eingetreten ist – die Angst, die Panik, ihre Arbeit, die Wohnung, ihre Existenz zu verlieren. Trotz alles Flehens wird die Rettung verständigt. Die Tochter ruft den Botschafter an. Die Mutter steht unter Schock. Sie ist neunundsechzig Jahre alt. Während sie auf die Rettung wartet, wird sie der jungen Aufsicht neben ihr erzählen, dass sie in ihrer kubanischen Heimat noch nie im Krankenhaus war. Sie wird von ihrer Jugend erzählen, sie wird über die deutsche Sprache schimpfen, sie wird die Aufsicht nach ihrem Namen fragen, sie wird ihr anvertrauen, dass sie nichts mehr fürchtet, als die Nadel einer Spritze. Als der Krankenwagen endlich kommt und zwei kräftige Sanitäter sie auf eine Trage bugsieren, steht der kubanische Botschafter schweigend daneben. Die Aufsicht informiert sich bei den Sanitätern, in welches Krankenhaus die Frau gebracht wird. Der Wagen fährt ab, die Reihen lichten sich, das Museum schließt. Am nächsten Tag wird die Aufsicht das Unfallkrankenhaus besuchen, um nach der Kubanerin zu sehen, doch die Frau ist nicht dort. Die Geschichte endet damit, dass die Aufsicht ohne Antworten nach Hause spaziert und auf halbem Weg den Schirm aufspannt, weil es wieder zu regnen beginnt.

Als ich den Dienstplan für die erste Oktoberwoche erhalte, bin ich wieder im gleichen Objekt eingeteilt wie letztes Jahr; wieder muss ich an die Kubanerin denken, die es nicht ins Palais geschafft hat. In einem schlechten Film würde ich sie heuer an den Eingangsstufen wiedersehen; und ich würde sie sofort erkennen, und sie würde es diesmal ins Museum schaffen, mitsamt der Tochter. Und im Abspann würde fröhliche kubanische Musik erklingen.

Aber wer wollte so einen Film schon sehen?

Freitag, 16. August 2024

Fette Autos

Während einer meiner letzten, unmotivierten Reisen durch das Internet stieß ich auf ein erstaunliches Video: auf einem Parkplatz in Peking wurden Autos gefilmt, deren Karosserie riesige Beulen aufwies, als wären sie unter der prallen Sommerhitze aufgebläht wie ein Germteig im Rohr. Tatsächlich handelte es sich um chinesische Neuwägen, bei denen eine spezielle Lackfolierung aufgetragen wurde; die drückenden Temperaturen sorgten dafür, dass sich die Folie dehnte und die Wagen aussahen, als hätten sie die Beulenpest, oder wie es im Video hieß: als gingen sie schwanger.

Unvermittelt muss ich bei dem skurrilen, irrwitzigen Anblick an Erwin Wurm und sein FAT CAR denken, der aufgeblähte rote Passivsportwagen, der dem konsumgeilen Markt seinen Spiegel vorhält - ein adipöses Auto, ein großer Spaß, Wurms Durchbruch in der Kunstwelt. Doch heute, nach Sicht der fetten Pekinghauben, da scheint es mir mehr als das, glänzt das aufgedunsene Chrom in neuem Licht - die Realität, sie hat die Kunst eingeholt.

In einem vieldiskutierten Essay schrieb Oscar Wilde einmal, es sei nicht die Kunst, die das Leben imitiere (wie Sokrates festhielt), sondern das Leben, das die Kunst nachahme. Wilde sprach sich vehement für eine Anti-Mimesis aus, glaubte fest daran, dass wir im Londoner Nebelloch nur deshalb eine mysteriöse, traumartige Schönheit ausmachen, weil sie zuvor von Dichtern und Malern beschworen wurde - "Life imitating art" war das Fazit seiner Überzeugung, und genau diese Worte kommen mir in den Sinn, wenn ich die dickbäuchigen Asia-Autos sehe: sie imitieren eine ironische Kunstikone, doch sie tun es nicht freiwillig; sie beugen sich dem Klima, werden von einem neuen Rekordsommer verformt, zeigen auf besonders abwegige Weise die Konsequenz der Erderwärmung - ein PKW, der Blasen bildet wie ein kochender Geysir - was wäre ein stärkeres Bild für die menschgemachte Heißzeit?

Durch dieses Bild, diese Gegenwart, erhält Erwin Wurms überfettete Kunstkarre eine neue, nachträgliche Bedeutung, die erst jetzt deutlich wird: es ist nicht einfach eine lachende Kritik am Kapitalismus, es ist die prophetische Warnung vor der globalen Überhitzung, der Erd- und Hirnschmelze, die zu bizarren Transformationen führt, zu feuerroten, wild wuchernden Brandblasen, die wir all die Zeit nicht gesehen haben, nicht sehen wollten, bevor das Leben anfing, die Kunst nachzuahmen ...

Doch wer weiß, vielleicht klingen meine Gedanken auch völlig abwegig, lauwarm, wirr – es fällt einfach verdammt schwer, einen klaren Kopf zu bewahren, bei der unnachgiebigen, erdrückenden Hitze in diesen Tagen.

Freitag, 19. Juli 2024

Nur ein Albtraum?

Borges hatte wieder mal recht – kaum etwas bereitet mehr Vergnügen, als Chesterton zu lesen. Egal, ob ich den dicken Father Brown begleite, wie er in genuiner Gemütlichkeit Verbrechen löst, oder ob ich The Man Who Was Thursday (was für ein Titel) verfolge – immer erzeugt der Autor eine bübische Begeisterung in mir, weil ich in jeder Zeile seine endlose Schreibfreude spüre, die sich sofort überträgt, sich im Gesicht ausbreitet und lange anhält, sogar an schlechten Tagen. Vor allem an schlechten Tagen.

Wie groß Chestertons Freude am Spiel mit seinen Lesern war, zeigt sich am besten in einem Detail – einem Untertitel. Gilbert Keith Chesterton war ein Mann des Glaubens, doch was das Schreiben betraf, glaubte er an keinerlei Grenzen; Kategorien waren ihm zuwider, in allen Genres war er zuhause, er verteidigte den Unsinn in seinen Essays und das Triviale in seinen Kriminalgeschichten; und dann gibt es da noch dieses eigenartige Werk, das Donnerstag war, eine bizarre Agentenfabel um Identität und Paranoia, die so maßlos unterhaltsam und temporeich geschrieben ist, dass man beinah übersehen könnte, wie viel gewitzte Weltanschauung hinter all dem Dynamit steckt. Doch was ist dieser Text eigentlich? Im Listenfetisch meiner Zeit wird The Man Who Was Thursday ganz selbstverständlich als Roman gereiht, doch in der englischen Originalausgabe fehlt der Begriff. Stattdessen steht da ein simpler Untertitel, ein Hinweis, eine Warnung: A Nightmare.

Ein Albtraum, doch ein verdammt vergnüglicher. Allein, auch dieser Wink überzeugt mich nicht, denn dafür ist er zu eindeutig, zu absolut. Ich stelle mir vor, dass Chesterton das wusste; und deshalb ist auch der Untertitel bloß Teil des Plans, des größeren Spiels.

The Man Who Was Thursday ist 1908 auf der Insel erschienen, im gleichen Jahr, als ein Kärntner Künstler am Kontinent seinen einzigen Roman schrieb – aus der größten Krise heraus schuf Alfred Kubin sein Buch Die andere Seite, ein phantastischer Roman, Kultbuch, Hirngewichse (würde man heute sagen), und beide Werke weisen faszinierende Parallelen auf, erzählen gleichermaßen eine surreale Geschichte, die in einem absurden Finale gipfelt, schließlich in sich stürzt, unter Lawinen an Handlungen begraben, bis sich alles als Traum auflöst – doch während Kubins narrischer Erzähler am Ende in die Heilanstalt muss, führt Chestertons Albtraum bei seinem Helden letztlich zu einem erhebenden Gefühl, einer unerklärlichen Leichtigkeit, ähnlich wie ich sie empfinde, wenn ich Chesterton lese.

Und doch ist da noch mehr; denn warum bloß steht der Untertitel diesem Text voran, warum sollte Chesterton schon auf der ersten Seite den Paukenschlag vorwegnehmen, ja, noch betonen, dass es sich bei der Geschichte um doppelte Agenten und drollige Anarchisten „nur“ um einen Traum handle (als wäre ein guter Traum wenig)? Jemand, der so wirksam mit Wendungen und Spannung arbeitete wie er, hätte diese Pointe wohl ungern vorweggenommen – es sei denn, der Hinweis erzählt mehr, als er anzeigt, erzeugt Erwartungen, die er nicht hält; nicht halten will: War das alles wirklich erträumt? Ist der Held am Ende tatsächlich wach oder ist gar der Schlusspunkt die Traumflucht? Und liegt der eigentliche Albtraum nicht ohnehin ganz woanders als in der vordergründigen Handlung?

Betonung macht verdächtig, und der vorangestellte Verweis sorgt unvermeidlich für detektivische Zwangsgedanken; denn natürlich sollte man den Autor nicht immer beim Wort nehmen, und womöglich lockt der Untertitel ganz bewusst auf falsche Fährten, bringt mich überhaupt erst zum hintersinnigen Nachdenken, räumt die Möglichkeit ein, dass hinter der rasanten Traumlogik von Täuschung und Verfolgung noch eine weitere Erzählebene steckt, die sich nicht so einfach und eindeutig zu erkennen gibt, wie es ein unheilschwangerer Untertitel vorzugeben scheint. Der wirkliche Albtraum wäre, wenn sich Bücher in Zukunft nur noch auf eine einzige Art lesen lassen und kein Platz mehr für verspielte Doppeldeutigkeiten bliebe.

Gegen diesen Albtraum hat Chesterton angeschrieben – und zum Glück für die Nachwelt hatte er unendlichen Spaß dabei. 

Freitag, 12. Juli 2024

Mittwoch, 19. Juni 2024

Die falschen Schlüsse

Die Sonne scheint, immer noch, auf nichts Neues. Es ist Juni, ich sitze mit Beckett auf einer Holzbank im Park hinter dem Museum und warte, bis mein Dienst beginnt. Ich habe mich in den Park hingesetzt, in der naiven Freude und Hoffnung, hier in Ruhe lesen zu können, ungestört, bei guter Luft; ich habe kein Kapitel geschafft, da passiert es schon.

Ein älterer Mann kommt vorbei, fragt, ob er sich neben mich setzen darf, was ich nicht ablehnen kann. Um zu verdeutlichen, dass ich weiter lesen möchte, drehe ich den Körper ein paar Grad zur Seite, hebe unbewusst das Buch an, doch es ist zu spät. Der Mann fragt, was ich da lese, ich nenne Titel, Autor, und fühle mich aus irgendeinem Grund verpflichtet, ein paar erklärende Worte zum Inhalt auszuführen, obwohl ich weiß, dass es den Mann nicht interessiert, er gar nicht zuhört, denn es ist der klassische Einstieg, um auf sich selbst überzuleiten, er könne auch ein ganzes Buch schreiben, sagt er und macht diese Handbewegung, er hätte Geschichten zu erzählen, und natürlich erzählt er sie mir, ungefragt und ausführlich; obwohl, eigentlich, da erzählt er sie sich selbst. 

Der Mann ist heute (so sagt er es) stolzer und zufriedener Pensionist, blickt heute zurück auf ein reiches Leben: über dreißig Jahre war er Frachtpilot, hat nebenbei ein halbes Vermögen mit Immobilien gemacht, rechtzeitig verkauft und seinen zwei Söhnen aus zwei Ehen jeweils ein Haus auf einer spanischen Insel geschenkt, ihre Zukunft gesichert in diesen unsicheren Zeiten, sie machen gute Ausbildungen, aus beiden wird was werden. Der Mann wirkt mit sich im Reinen, als er davon erzählt, er hat abgeschlossen mit der Arbeit, mit den Frauen, genießt ohne Geldsorgen die Rente, den Lebensabend, genießt seine eigene Geschichte. Doch dann geschieht das Seltsame: unvermittelt entgleitet seine Erzählung in eine nostalgische Verbitterung, die sich zunehmend aggressiv gegen das Heute richtet: heute wäre es ja völlig unmöglich, so zu fliegen, wie er früher geflogen sei, die unzähligen Vorschriften, Regelwerke und Sicherheitsstandards dieser EU machen heute jeden Spaß am Fliegen zunichte, und überhaupt, die Frauen heute! – was er in seiner Pilotenzeit für Abenteuer mit den Frauen hatte, das sei heute vollkommen unmöglich, heute denken die Frauen nur an sich selbst, ausnehmen wollen sie dich und dein Geld verprassen, und überhaupt findest du heute keine mehr, mit der du einfach Spaß haben kannst, so wie früher, denn früher, da wollten sie noch … Aus dem ursprünglichen Bedürfnis, sich mitzuteilen, die Einsamkeit des Alters wegzureden, entblößt sich plötzlich eine absurde Wut gegen die Welt, die der Mann neben mir offensichtlich nicht mehr versteht – nicht verstehen will – und deshalb tut, was man in meinem Land am besten kann: ziel- und folgenlos zu schimpfen.

Als er dann ebenso abrupt noch gegen die NATO wettert und Putins Propaganda wiederkäut, da verabschiede ich mich zur Arbeit, war selten so froh, den Dienst vor mir zu haben, doch wenn ich noch mehr Zeit, mehr Mut gehabt hätte, wollte ich dem Mann auf der Parkbank etwas erwidern, das ihn – vielleicht – für einen Moment zum Schweigen gebracht hätte; denn das absolut bizarre an seiner bitteren Suada, denke ich später, war, dass dieser Mann auf der Parkbank sein eigenes, unfassbares Glück nicht sehen konnte – er hat finanziell aus- und vorgesorgt, hat zwei Kinder in Sicherheit, ist ohne Schaden durch Pandemie und Krise gekommen, muss nicht vor dem Krieg flüchten; und dennoch glaubt er (spürt er), heute in der schlechtesten aller Welten zu leben, dabei scheint die Sonne noch immer auf den gleichen Spielball, und die einzige Sache, die der Mann nicht akzeptiert, ist die verdammte Dauer des Spiels: in der verzerrten Wahrnehmung, dass früher alles besser war, liegt in Wahrheit nur der Schmerz, dass alles früher war; ein erstes Mal lässt sich nicht wiederholen, ein junger Körper nicht zurückbringen; Alter heißt Abschied, und wer ist schon gut im Verabschieden?

Es ist bitter und schwer, zu akzeptieren, dass sich die Spielzüge des Lebens nicht wiederholen lassen – doch es sind die völlig falschen Schlüsse, die der Mann aus seiner Spielzeit gezogen hat, die unumstößlich dazu führt, dass der Typ heute am Rand sitzt, und zwar allein, weil er sich dafür entschieden hat; frei nach dem Schutzpatron des schlechten Geschmacks, John Waters: ein junger wütender Mann ist attraktiv, ein alter wütender Mann ist ein Arschloch.

Wäre bei dem Mann auf der Parkbank die Dankbarkeit über das Gewesene größer als die Bitternis über das Fortschreiten der Zeit, dann müsste er vielleicht keine Selbstgespräche mit Aufsichten führen; dann würde sich vielleicht noch mal jemand zu ihm auf die Bank setzen. 

Donnerstag, 23. Mai 2024

Der Rattenfänger, neu erzählt

Eines Tages kam ein Fremder in eine kleine, unauffällige, für nichts besonders bekannte Stadt und bot den Bewohnern seine Hilfe an. Er hatte gehört, dass die Stadt schon seit geraumer Zeit unter einer Plage litt – Ratten hatten sich in rauen Mengen breit gemacht, und die Bewohner (die den Aberglauben nicht scheuten), sahen darin ein dunkles Vorzeichen, vielleicht einen Fluch, sie beteten dagegen an, doch es half nichts.

Der Fremde, ein Nagetierexperte, sah dagegen die Gefahr einer Seuche und bat um Erlaubnis, sich um die Ratten zu kümmern. Die Bewohner waren skeptisch (sie waren gegenüber allem Fremden skeptisch), doch in ihrer Not willigten sie ein und versprachen dem Mann eine reiche Belohnung, sollte er die Nager tatsächlich aus der Stadt bekommen.

Ohne Zeit zu verlieren, machte sich der Fremde an die Arbeit, er holte sein Instrument aus dem Koffer und bediente die Tasten. In jahrelanger, akribischer Forschung hatte er herausgefunden, dass die Nagetiere auf eine bestimmte Tonfolge hypnotisch ansprachen und ihrer Quelle folgten; das Lockinstrument war mit Lautsprechern an seinem Wagen verbunden, und so gelang es, sämtliche Ratten auf die Ladefläche zu treiben und aus der Stadt zu führen, in ein weit entferntes Forschungszentrum, wo ihr Verhalten weiter untersucht wurde.

Als der Fremde zurück in die Stadt kehrte, um sich seine Belohnung abzuholen, schlug ihm jedoch nur Ignoranz und Ablehnung entgegen. Dass er die Bewohner und ihre Kinder vor einer Epidemie bewahrt hatte, schien kein Mensch mehr zu glauben. Auch an eine versprochene Belohnung wollte sich niemand mehr erinnern, und diese technischen Spielereien des Fremden wolle man hier nicht noch mal sehen. Nach Meinung der Bewohner wäre die Plage von ganz allein weggegangen, da sie lange und fest genug dafür gebetet hatten.

Der Fremde war entsetzt; die Leugnung aller Tatsachen, die kollektive Lüge, der fehlende Dank, das alles erschauderte ihn. Und in dem Moment verstand er, dass die Stadt verloren war. Wer in so einem Klima aufwuchs, hatte keine Aussicht, keine Chance auf ein gesundes, aufgeklärtes Leben. Er dachte an die armen Kinder, ihre Zukunft, er war besorgt. Und er beschloss, zumindest sie zu retten, vor den eigenen Eltern, denen nicht mehr zu helfen war.

Wochen später, als die Bewohner in der Vorbereitung für das alljährliche Fest steckten und sich niemand um die Kinder kümmerte, kam der Fremder wieder und versprach den Kleinen, sie von hier fortzuschaffen. Heimlich brachte er so viele von ihnen wie möglich auf die Ladefläche seines Wagens und fuhr sie aus der Stadt, brachte sie in eine sichere, weit entfernte Einrichtung, wo man sich liebevoll um sie kümmerte, und nach und nach ans Licht kam, was in der Stadt zu lange verborgen blieb.

Der Fremde war danach nicht mehr gesehen. Es heißt, er litt unter dem Wissen, dass er nicht alle retten konnte; denn ein paar Kinder blieben in der Stadt zurück; sie waren bereits blind und taub für jede Hilfe, und unvermeidlich würden sie das Verhalten ihrer Eltern übernehmen, würden es den eigenen Kindern weitergeben, und auf ewig würde die Stadt kaputt und verlogen und skeptisch gegenüber allem Fremden bleiben.

Samstag, 23. März 2024

Über die Beschwerde

Eine der größten Errungenschaften der Demokratie ist die Möglichkeit der Beschwerde; persönlichen Unmut öffentlich kundtun zu dürfen, darauf hinzuweisen, dass etwas ganz gewaltig stinkt, dass dieses Land, dieser Laden in die falsche Richtung rennt, ohne deshalb mit Knast und  Knochenbrüchen rechnen zu müssen, das ist keine gegebene Selbstverständlichkeit, im Gegenteil: es ist noch eine relativ junge Idee der Menschheit, die persönliche Beschwerde zuzulassen, sie zu begrüßen. Ich hatte immer die Vermutung, wo sich die Leute besonders laut beschweren, da geht es ihnen im Grunde ziemlich gut; denn wem es wirklich schlecht geht, dem fehlt die Kraft (und die Stimme) zur Beschwerde. 

Heute ist Donnerstag, der Frühling hat begonnen und die neuen Ausstellungen sprießen in der Stadt. Im Fürstenschloss bewache ich seit einigen Wochen eine barocke Sonderschau, die einem Fürsten, Mäzen und Bauherrn gewidmet ist, einem Herkules der Künste, wie ihn das Plakat bescheiden nennt, ein feinsinniger Sammler und mithin das schönste Doppelkinn des ausgehenden 17. Jahrhunderts (so prachtvoll, er ließ es auf einer Goldmünze verewigen). In sieben Räumen hängen unzählige Gemäldeschätze in allen Größen, dazwischen Herrschaftsbronzen und Sagenskulpturen, gewaltige Büchervitrinen und fernöstliche Porzellanmotive, und über allem wacht der Geist des Halbgottes, der eine ganze Raumdecke schmückt.

Das unerhört Besondere daran ist, diese Kunstschau darf bei freiem Eintritt bestaunt werden; ein Novum, fast ein Sakrileg in der heimischen, aktuellen Museumslandschaft, die seit dem erklärten Ende der Pandemie wieder Rekordzahlen mit Rekordpreisen schreibt. Doch hier, in dieser sechswöchigen Sonderausstellung gibt es Rubens und van Dyck für lau, für alle und jeden; es gilt bloß das übliche Jacken- und Rucksackgebot, die Abgabepflicht, die niemanden überraschen kann, und es dennoch immer wieder tut. Was unvermeidlich dazu führt, dass irgendwann irgendjemand den ersten Stein nach uns wirft: in einem Monat gab es zwei schriftliche Beschwerden über uns Aufsichten, weil wir getan haben, was mit Nachdruck von uns verlangt wurde – die Hausordnung durchzusetzen. Keine Überraschung, kein schlechter Wert, und doch ist etwas verblüffend an der Sache.

Als Museumsaufsicht bist du sehr nah dran an der Gereiztheit der Gesellschaft, du lernst, mit Ignoranz und Respektlosigkeit umzugehen, du bist die erste Anlaufstelle für aufgestaute schlechte Laune, du reagierst gelassen auf den Dampf, der dir entgegenkommt, weil es dein Job ist. Und du erkennst: Manche Menschen haben ein Talent dafür, sich ungerecht behandelt zu fühlen, sie finden einen Weg, ein generelles Verbot auf sich persönlich zu beziehen, und sie haben genug Kraft, sich darüber lautstark zu beschweren. Doch es gibt einen Punkt, an dem sich selbst die Beschwerde erschöpft; wie ich später erfuhr, handelte es sich bei einer dieser schriftlichen „Beschwerden“ bloß um einen Kommentar auf den verhetzten Sozialwerken, der nicht nur meine Museumskolleginnen, sondern das gesamte Ausstellungsteam beleidigte, es persönlich angriff, überempört und unter der Gürtellinie, wie im Netz gewöhnlich, doch verblüffend, ja, unbegreifbar für mich war die Reaktion des Hauses darauf: anstatt die Suada zu ignorieren, die eigenen Leute eventuell zu verteidigen, den gewählten Ton anzuprangern, wurde die hemmungslose Palaisbeschimpfung mit einer kleinlauten Entschuldigung belohnt: Tut uns Leid, wenn Sie eine schlechte Erfahrung bei uns gemacht haben. Beleidigen Sie uns bitte bald wieder.

Der letzte Satz wurde so nicht geschrieben, klar. Aber es läuft genau darauf hinaus: wenn der derbe, raue, unumwunden übertriebene Ton, der sich speziell im Internet entlädt, aufgrund von offensichtlichen Imageängsten als vollkommen normal gehandhabt wird, ermutigt das nur mehr und mehr Überreizte zur verbalen Entgleisung – weil auf sie eingegangen, weil ihnen recht gegeben wird. Weil kein Museum, kein Restaurant, keine Ordination sich durchringt zu sagen: So nicht.

Dieses unterschwellige Gefühl, dass sich der Ton an jeder Ecke verschärft, es zeigt mir wieder nur den wachsenden Schatten der Errungenschaft, die so simple und gefährliche Erkenntnis: Wenn die Grenze zwischen Beschwerde und Beschimpfung nicht klar gezogen wird, verschwindet sie.

Donnerstag, 15. Februar 2024

Der Brunnen in der Wüste

Wenig ist mysteriöser und inspirierender als das Verworfene; die schriftstellerische Karriere eines Arno Geiger fußt mitunter auf seiner geheimen Leidenschaft, die Altpapiercontainer der Stadt in nächtlichen Missionen nach privaten, aussortierten Dokumenten zu durchstöbern (ein Geheimnis, das er in seinem letzten Buch leider preisgab). Überall in der Stadt lauert das Geheimnis, es ist völlig dystopisch, sich eine Stadt ohne zu denken – ich erinnere mich, einmal im Mülleimer an einer U-Bahnstation einen weggeworfenen Liebesbrief entdeckt zu haben, genauer: das erklärte Ende einer Liebe; ich hatte dieses unendlich intime und tragische Papier damals aus dem offenen Behälter gefischt, verblüfft durchgelesen und wieder zurückgelegt. Obwohl ich in Versuchung kam, wusste ich (empfand ich), dass dieser Schatz nicht für mich, nicht für irgendjemanden bestimmt war. Manches will nicht gefunden werden. Anderes schon.

Es ist ein stürmischer Montagabend, als ich auf dem Weg nach Hause in die Straßenbahn steige und am Boden ein Papier entdecke. Unter einem leeren Sitzpaar liegt eine ausgerissene Buchseite; ich zögere kurz, dann hebe ich sie auf, wende und betrachte sie. Stil und Dialoge weisen auf einen Roman hin, es geht um einen Militärpiloten und Ich-Erzähler, der in der Sahara notlandet und dort zufällig auf einen vereinsamten alten Unteroffizier trifft; dieser Unteroffizier wiederum wartet auf die Ankunft eines ominösen Hauptmannes, und er feiert das Auftauchen des Bruchpiloten wie ein Wunder, wie die Entdeckung eines Wüstenbrunnens.

Es wäre nicht besonders schwer, herauszufinden, aus welchem Buch die Seite stammt und wer sie verfasst hat; der erste, spontane Gedanke tippt auf Antoine de Saint-Exupéry – ich habe zwar (wie alle) nur seinen kleinen Prinzen gelesen, doch ich weiß, dass er selbst Kampfpilot und von der Wüste so besessen war, dass er ständig und überall über sie schreiben musste, vielleicht schrieb er überhaupt nur eine einzige lange Wüstenmetapher – doch ich entscheide mich dagegen: Ich will das Geheimnis der Buchseite nicht aufgeben, das Rätsel um seinen Schöpfer nicht in Gewissheit auflösen; vielmehr interessiert mich, was neben dem Inhalt steht.

Irgendjemand hat diesen Textabschnitt mit Bleistift markiert und um ihn herum eine Notiz verfasst, ganze vier Mal steht sie da, in dringlichen, hektischen Großbuchstaben: LANGSAM LESEN. Dieser Hinweis, die mehrfache Graphitnotiz scheint mir spannender als die Suche nach dem Autor, sie ist der eigentliche Schatz, die Entdeckung dieser Straßenbahnfahrt: Sie sagt mir, dass sich diese Seite womöglich nicht zufällig aus einem alten Taschenbuch gelöst hat und unter die Sitze gerutscht ist, nein, die Botschaft „langsam lesen“ deutet ganz im Gegenteil darauf hin, dass jemand diese Seite ganz bewusst ausgerissen und in den Öffis platziert hat, in der Hoffnung oder dem Glauben, dass jemand sie entdecken und aufheben, den Text schließlich lesen und seiner hingerotzten Aufforderung nachkommen würde.

Und ich stelle mir vor, dass diese Person, wer auch immer sie ist, sich darüber freuen würde, wenn jemand diesem Fund einen eigenen, kurzen Text widmete, einen Text, der keine Antworten und keine Offenbarungen bereithält, sondern nur die schiere, sich selbst genügende Freude an der Entdeckung. Und in meiner eigenen (größeren) Hoffnung wird diese Person irgendwann auf meinen ausgelegten Text stoßen und im Lesen das gleiche rätselhafte Glück empfinden wie der einsame Unteroffizier nach der Notlandung des Erzählers.

Unwahrscheinlich, naiv, natürlich, doch darum geht es nicht. Auf einer einzigen, langsam gelesenen Doppelseite habe ich gelernt, dass es in der Wüste nicht bloß auf das Finden der Oase ankommt – sondern vielmehr, an die Existenz des Brunnens zu glauben.

Montag, 5. Februar 2024

Brief an Flaubert

Es gibt eine Stelle (eine einzige Stelle) in Salambo, an der so etwas wie Zärtlichkeit durchscheint. Sie findet sich erst im vorletzten Kapitel, nach einer schier endlosen Aneinanderreihung von unpackbaren Grausamkeiten und Bestialitäten, massenhaft zersplitterten Knochen, zerfetzten Körpern und geopferten Kindern, als bereits der Moloch in Karthago herrscht und das Volk dem Untergang geweiht scheint; durch drei Jahre Krieg muss man bis zu der Stelle hindurch, drei Jahre Kampf und Tod und Elend, weil uns Gustave Flaubert kein Detail erspart in seinen ultrabrutalen Schlachtenschilderungen, als hätte er selbst das Schwert geführt, das Kamel geritten und den Elefanten erlegt – es fällt tatsächlich schwer zu akzeptieren, dass es immer noch keine Zeitreisen gibt, denn Flaubert hat es gesehen, er war dort, während ihn die Familie einen Idioten schimpfte, wanderte er durch die Ruinen Karthagos, um sie zwischen zwei Buchdeckeln wieder aufleben zu lassen, zweitausend Jahre vor seiner Existenz, als dieses längst vergangene Reich noch eine pulsierende und prunkvolle Hafenmetropole, die Stadt der Städte war.

Ebenso schwer zu glauben, dass Flaubert sein blutverschmiertes Schlachtenepos direkt auf die Madame Bovary folgen ließ, zwei Werke, die so gar nichts gemeinsam haben außer einen Frauennamen im Titel, und selbst dieser täuscht noch: denn Salambo ist nicht einfach nur die Königstochter Karthagos, sie ist das umkämpfte Reich selbst – so wie der amerikanische Dichter William Carlos Williams in seinem Endlosgedicht Paterson den Gedanken poetisiert, jemand könne gleichzeitig eine Person und eine Stadt sein, so ist Salambo gleichzeitig die Tochter des Hamilkar und die antike Stadt, in deren Herzen sie lebt – sie steht nicht für Karthago, sie ist Karthago. Nur wegen ihr will der irre Söldnerführer Matho die Stadt um jeden Preis: Karthago zu erobern bedeutet, Salambo zu erobern. Indem er einen Krieg auf die nackten Schultern seiner Titelheldin setzt, treibt Flaubert das sture männliche Besitzdenken auf die Spitze: wenn Matho diese außerweltlich schöne Frau nicht für sich haben kann, so will er sie mitsamt der Stadt vernichten, und mehr aus persönlicher Kränkung, als aus militärischer Logik wird er Karthago mit seiner Armee von Barbaren belagern: „Wenn er ihren Leichnam gesehen hätte, wäre er vielleicht abgezogen.“ Und genau dieser letzte Halbsatz, dieses „vielleicht“, dass der Autor ihm in die Gedanken schreibt, es genügt, um zu verstehen, dass der gesamte Krieg, seine ungeheuren Konsequenzen und Verluste letztendlich nur ein Vorwand sind, um einer infantilen Emotion nachzukommen, dem ewigen Herrschaftsanspruch aus der Sandkiste: Das gehört mir – oder keinem!

Unendlich viel Leid, Blut und Terror bildet sich um dieses „vielleicht“, von dem der Feldherr der Barbaren nicht zurückkann, weil er sonst offenbaren müsste, aus welch absurdem Grund er den Krieg überhaupt begonnen hatte, er müsste sich (vor allem) Schwäche eingestehen – und das ist unmöglich, das ist unmännlich, das kann ein kompromissloser Weltliterat wie Flaubert nicht zulassen. Und doch schenkt er uns eine Stelle, in der genau das anklingt, sehr leise und kurz nur, aber doch: eine Liebe ohne Besitzdenken. Ein unmännlicher Umgang unter Männern.

Als sich eine kleine Gruppe von vierhundert blutdurstigen Söldnern – Etrusker, Libyer, Spartiaten – anschickt, gegen die gepanzerte Übermacht der Karthager in den sicheren Tod zu rennen, macht ihnen Hamilkar ein überraschendes Angebot: da er tapfere Soldaten wie sie brauche, „sollten sie auf Leben und Tod miteinander kämpfen, dann würde er die Sieger in seine Leibwache aufnehmen.“ Andernfalls würden sie alle von seinen Elefanten zermalmt werden. Beim Anblick der klingenbesetzten Herde scheint die Entscheidung klar, und doch zögern die Söldner plötzlich; diese vierhundert Männer, die nie ein Problem damit hatten, für ein wenig Sold zu schlachten, zu morden und bis in den Tod mit ihren Feinden zu ringen, sie waren über die Jahre zu unwahrscheinlichen und loyalen Liebenden geworden, Kameraden, deren gemeinsame Bände ihnen „ebenso ernst waren wie eine Ehe“ – und bei dem Gedanken, aufeinander losgehen zu müssen, da begannen sie unvermittelt zu weinen und zu trösten, sich schüchtern vom Nächsten zu verabschieden, bevor sie in trotzige Raserei verfallen und den anderen zu erlösen suchen: „Bisweilen“, schreibt Flaubert, „hielten zwei Männer blutüberströmt inne, sanken einander in die Arme und starben unter Küssen.“

Es sind die einzigen Zärtlichkeiten, die in Salambo ausgetauscht werden, und sie werden nicht seiner geisterhaften Titelheldin zugestanden, sondern einer Gruppe von mordenden Männern, die sich gegenseitig zur Familie, zu einer Heimat geworden sind, die sie niemals hatten. Und nicht in den seitenlangen Angriffen und Gegenangriffen, der grenzenlosen Gewalt und Vernichtung der Völker, sondern in genau diesen zärtlichen Küssen zeigt sich die Absurdität des Krieges am eindringlichsten: weil es diese ehrliche Hingabe, diese „unsittliche Bindung“ und offene Liebe unter Männern ohne den Krieg gar nicht geben würde, niemals geben könnte.

Dass es erst einen Krieg braucht, um eine solche Verbundenheit zu ermöglichen, ist die vielleicht grausamste Pointe in einem Werk voller Grausamkeiten. Nur folgerichtig, dass Flaubert der Szene ein unerbittliches Ende setzt: Anstatt sie in seine Leibwache aufzunehmen, lässt Hamilkar die überlebenden Söldner nach dem qualvollen Todeskampf mit ihren Kameraden an eine Wasserquelle führen – und sie dort hinterrücks erdolchen.

Sonntag, 28. Januar 2024

Das alte Fräulein

Es gibt Momente, Privilegien in der Museumsaufsicht, die für all die schweren Beine und leichten Lohnzettel entschädigen; etwa zu dem ersten und winzigen Personenkreis zu gehören, der eine echte Sensation bestaunen darf – so zumindest wird die Presse sie nennen, die schöne Verschollene, die an einem Donnerstagvormittag Ende Jänner im barocken Ballsaal präsentiert wird.

Über hundert Jahre galt das Gemälde der jungen Dame als verschwunden, und hier, heute darf ich es exklusiv bewachen und bewundern, bevor es unter den Hammer und in das nächste Wohnzimmer eines anonymen Millionärs gelangt: völlig überraschend kam die Ankündigung eines hiesigen Auktionshauses, in einer Villa am Rande meiner Stadt sei es wieder aufgetaucht, das Fräulein Lieser, eines der letzten Werke Gustav Klimts, von dessen Existenz bisher nur ein einziges, hundert Jahre altes Schwarzweißfoto zeugte. Der Zustand des Gemäldes: hervorragend. Seine Hintergründe: verworren. Weder ist eindeutig geklärt, wer dem Malerfürsten den Auftrag gab, noch wen dieses Fräulein tatsächlich darstellt. Es könnte die Tochter eines jüdischen Industriellen sein (ein gewisser Adolf Lieser), es könnte genauso gut eine Tochter seiner kunstaffinen Schwägerin (Henriette Lieser) sein, die im Zweiten Weltkrieg deportiert und ermordet wurde. Was mit dem Bild in dieser Zeit geschah, ob es (wie so viele) von den Nazis geraubt wurde, ist nicht bekannt – weil nichts aus der Zeit bekannt ist. Schon sehr bald nach Klimts Tod haben sich die Spuren verlaufen, die Aufzeichnungen erschöpft, bis der Name „Fräulein Lieser“ erst Jahrzehnte später in einem Werkkatalog von 1967 wieder auftaucht. Doch das Bild selbst blieb im Dunkeln. Bis jetzt.

Zwanzig Monate, wird der Geschäftsführer des Auktionshauses später bei der Pressekonferenz erzählen, so lange hätte man nach Lichtquellen in den dunkelsten Kapiteln gesucht, doch bei aller Recherche sei man auf keine Anzeichen eines Verbrechens, einer möglichen Enteignung gestoßen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein brauner Elefant neben einem Klimtgemälde im Raum steht; die prominente Lücke in der Provenienz verdeutlicht wieder nur einen Umstand, der im Rekordsummenspiel des Kunstmarktes oft verdrängt wird: die Kunstgeschichte ist auch eine Kriminalgeschichte – nach Menschen- und Drogenhandel rangiert Kunstraub auf Platz 3 der lukrativsten Weltverbrechen, habe ich in der Einschulung gelernt – und kein Werk verschwindet einfach so; es wird heimlich entwendet oder gewaltvoll gestohlen, wird verschleppt, verhökert oder verbrannt, beizeiten zerschnitten, übermalt, verworfen und vergessen, oder, nicht selten, da verstaubt es einfach nur am Dachboden eines zufälligen und achtlosen Erben. Wenn es dann wieder auftaucht, wird es gefeiert wie ein gelöster Fall, ein Überlebender, der allzu lange als verschollen galt. Eine Sensation.

Heute blicke ich auf diese wiederentdeckte Sensation, auf das weiße, schneewittchenhafte Gesicht unter kohlschwarzem Haar, die geäpfelten Bäckchen, ihre müden Augen, ermattet von zu langem Schlaf, doch je näher ich ihr komme, desto klarer und wacher scheint ihr Blick auf einmal, jugendlich herausfordernd, direkt, aber gelassen, ja, beinah mühelos wirft sie die Jahrzehnte ab, diese selbstbewusste Unbekannte, das unvollendete Fräulein im farbenfrohen Blumenmantel (die anskizzierten Hände bleiben für immer ein Graus), das sich plötzlich in einem vergoldeten Raum voller Lärm und Leute wiederfindet, ein Anblick, der aus Sicht der Verschollenen ein Rätsel bleiben muss: an einem lieblos gedeckten, langen Tisch sitzen fünf Personen, die sie nicht kennt, noch nie gesehen hat, und die fachsinnig und akustisch kaum verständlich über ihr so famoses Schicksal fabulieren, während Mikrofone gereicht und geschoben werden und zu spät gekommene Journalistinnen und Medienvertreter über den knarrenden Parkettboden steigen und später die Fragen bemühen, die nicht klar beantwortet werden können, um sich schließlich nach belegten Salzstangen und Kaffee umzudrehen, anstatt in ihre jugendlichen Augen zu blicken, die ewig jugendlichen Augen eines hundertsiebenjährigen Fräuleins.

Wie kann ich ihr nur erklären, dass sie heute dreißig bis fünfzig Millionen wert ist?

Freitag, 19. Januar 2024

Museum der verworfenen Ideen

Es hat zweiundvierzig Räume; in jedem einzelnen ist ein Fragment ausgestellt, ein Werk, das niemals fertiggestellt, ein Gedanke, der nie zu Ende geführt wurde. Es versammelt Ideen aus mehreren Ländern und Epochen, seltsame, skurrile, mitunter lauwarme Ideen, die aus unterschiedlichen Gründen niemals umgesetzt oder vertieft, zuletzt verworfen wurden. Was von ihnen übrig blieb, kann bei freiem Eintritt betrachtet und belächelt werden; nur der letzte Raum des Museums ist versperrt, hinter einer dunkelgrünen, massiven Eisentür bleibt sein Inhalt den Besuchern vorenthalten.

Jeden Abend geht der Nachtwächter seine Abschlussrunde durch das Museum und überprüft, ob alle Gäste draußen sind, alle Ideen unbeschädigt und der letzte Raum wie immer versperrt. Dann schließt er die Eingangstore und schaltet das Licht in der Ausstellung ab, setzt sich in seine kleine und warme Loge und vertreibt sich die Nacht zwischen den Kontrollgängen, indem er alte Taschenbücher durchliest, die er in Stiegenhäusern oder öffentlichen Bücherschränken findet. Er liest Schauergeschichten, Kriminalfälle, Reiseliteratur und die zahllosen, unvermeidlichen Heimatromane eines Johannes Mario Simmel, bis er über den vergilbten Seiten einzunicken droht und sich mit dünnem Kaffee und ein paar Tabakpausen an der kalten Nachtluft bis zum nächsten Morgen rettet.

Wochen, Monate und Jahre zieht der Nachtwächter seine immergleichen Runden durch die dunklen Museumsräume, prüft und schützt die verworfenen Ideen in den einzelnen Räumen; manchmal scheint ihm, dass die Exponate mit der Zeit wachsen und sich wandeln, doch in Wahrheit ist es nur sein Blick, der sich verändert, der ihrem Scheitern etwas hinzufügen will, was nicht da ist. Mit zunehmender Unruhe rüttelt er jede Nacht an der dunklen und massiven Eisentüre des letzten Raumes, um sich zu vergewissern, dass er auch verschlossen ist; und jedes Mal wird die Frage zwingender, was hinter der Tür steckt und warum der Raum nicht ein einziges Mal geöffnet wurde, seitdem er hier ist. 

Eines Abends, als er wieder seine Runde macht, kann er die Neugier nicht mehr halten; er stellt sich vor die Tür des letzten Raumes, fasst nach dem schweren Schlüsselbund, der an seiner Uniform hängt, und probiert dutzende Schlüssel durch, bis tatsächlich einer passt und sich das Schloss bewegt. Er drückt die Metallklinke langsam zu sich, er muss seine ganze Kraft aufwenden, um die massive Tür zu öffnen; dann betritt er den letzten Ausstellungsraum, wischt sich den Schweiß aus der Stirn und schaltet das Licht ein. Der Raum ist leer. Er macht ein paar Schritte hinein, blickt von einer arktisweißen Mauer zur anderen, da glaubt er, auf der Wand gegenüber etwas zu erkennen. Er kommt näher, ganz nah an die Wand und starrt den hellen, frischen Verputz an: auf Bauchhöhe hängt ein winzig kleines Hinweisschild, wie das Titelblättchen eines Exponats; der Nachtwächter bückt sich und betrachtet die schnörkellosen schwarzen Letter, die ihn schaudern lassen: auf dem Schild steht sein eigener Name.

Erschrocken, verwirrt, überfordert wankt der Nachtwächter zurück in die Mitte des Raumes, direkt unter das Licht; die Beine werden ihm plötzlich ganz steif, aus seinen blassen Händen fährt das Blut; und er begreift, dass auch er nur ein Exponat, dass auch seine Existenz nur eine verworfene Idee ist.