Ich bin verspätet; der Wecker schreit, ich höre es nicht,
die Sonne scheint, ich spüre sie nicht. Der Körper, die Tage davor noch
angeschlagen, schwach, er nimmt sich, was er braucht, und erst der Anruf aus
der Zentrale holt mich aus dem Winterschlaf – ich schrecke hoch, mein Blick auf
die Uhr im Regal, fünf Minuten vor Dienstbeginn. Ich fluche, komme hoch, greife
nach dem Dienstanzug. Renne.
Ich bin oft pünktlich, aber nie zu spät. Heute, das ist das
erste Mal, dafür richtig. Durchgeschwitzt und aufgelöst empfange ich das
Funkgerät in der Zentrale, schreibe mich in die Liste, fünfundvierzig Minuten
nach Dienstbeginn. Ich bin wütend, ehrlich wütend auf mich und meinen Körper,
und melde mich beschämt und klein bei der Oberaufsicht. Heute ist sie es, die Gute, die Freundliche, die Beste. Ich versuche, mich bei ihr zu entschuldigen, die Oberaufseherin wehrt noch im Satz ab – „Nein, nein, ist gar kein Problem, alles gut.
Würdest du heute bitte das Ticket machen? Danke, danke dir!“
Er ist nicht gespielt, dieser Ton, sie ist wirklich so. Wie
Kinder witzig sind, ohne es zu wissen, ist sie natürlich höflich, weil es für
sie selbstverständlich ist, weil sie gar nicht anders kann, und jede
Dienstanweisung noch wie eine Bitte klingt, jedes Lächeln auch so gemeint ist.
Nur dank ihr habe ich die nächsten sieben Stunden und fünfzehn Minuten ein
fürchterlich schlechtes Gewissen. Wäre heute jemand anderes hier, wäre ein
verschwitzter Gorilla heute die Oberaufsicht, würde er mich anschnauzen, den Kopf
schütteln, blöde Sprüche machen über meine Verspätung, es wäre mir gleich.
Ein Mensch, vor dem ich keinen Achtung habe, kann mir nichts anhaben; Wut
und Gebrüll machen jede Person lächerlich winzig, und für ein schlechtes Klima muss ich nicht pünktlich sein (schon gar nicht bei dem Gehalt). Was interessiert mich, was
ein Gorilla von mir denkt? Es tut mir nichts; wäre die heutige Oberaufsicht ein Oberarschloch, mein Gewissen
wäre vollkommen unbelastet.
Doch diese Güte, diese unendlich nachsichtige Reaktion auf
mein Verschlafen, sie zwingt mein Gewissen erst dazu, sich zu regen und zu schämen und zu
versprechen, es das nächste Mal (alle nächsten Male) besser zu machen,
es besser machen zu wollen, weil sie
es verdient hat, diese herzensgute, unendlich angenehme Person, die ich nicht, nie wieder
enttäuschen möchte. Nicht trotz, sondern weil sie es verzeiht, es mir immer verzeihen wird.
Nur dort kann das Gewissen schlecht werden: wo der Umgang gut ist.