Ich sehe ihn selten, aber ich denke oft an den Kollegen,
zuletzt träumte ich sogar von ihm: Wir arbeiten bei einer faden
Gartenveranstaltung, ich drehe meine Runden um die Gäste, sehe ihn
plötzlich am Boden liegen. Ich hetze zu ihm hin, beuge mich hinab – der Kollege ist zur Kindergröße geschrumpft, das Gesicht rot und verquollen, die
hellen Bundesheerborsten zu fettigen, teerschwarzen Strähnen verwachsen; er
muss etwas vom Catering genascht haben, kombiniere ich umgehend, eine allergische
Reaktion, er bekommt keine Luft. Ich wiege ihn in meinen Armen, beruhige ihn,
rede gut zu, bis er wieder größer und schwerer wird und die roten Wunden langsam
verschwinden, der Atem zurückkommt. Er tut mir Leid, in diesem und in allen
Momenten, denke ich noch im Traum, denke ich weiter, als ich aufwache.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich dabei ertappe,
Mitleid mit ihm zu haben. Ich sehe ihn allein und glaube ihn einsam, ohne
Familie, ohne Freunde, ohne reflektierten Geist. Und es stört mich, dieses vage,
falsche Mitleid. Ich schreibe ihm Traurigkeit zu, obwohl ich kein Recht darauf
habe, denn letztlich denke ich dabei wieder nur an mich selbst; ich fühle kein Mitleid,
weil ich weiß, dass es ihm schlecht geht, ich fühle Mitleid, weil ich mir
vorstelle, dass ich mich an seiner Stelle schlecht fühlen würde. Doch woher weiß ich, dass er nicht völlig
anders empfindet, als ich es in seiner Situation täte? Wer sagt, dass er nicht
glücklich und zufrieden sein kann mit seinem Leben, nur weil ich glaube, es nicht selbst führen zu wollen, mit mir?
Ich muss wieder daran denken, was André Breton in seinen surrealen Manifesten über die Tiere schreibt, diese Lebewesen, die wir ständig mit
menschlichen Gefühlen ausstatten, und den Hund „treu“ nennen, nur weil wir
unsere Eigenschaften auf ihn übertragen – was in Folge dazu
führen kann, „Mücken für absichtlich grausam und den Krebs für vorsätzlich
rückschrittlich zu halten.“ Breton nennt diese vermenschlichte Beurteilung der
Tiere eine „bedauerliche Nachlässigkeit des Denkens“, und ich muss ihm
zustimmen, diesem strengen Träumer, muss nicken und will noch ergänzen: Nicht
nur unsere Beurteilung der Tiere ist vermessen und vereinfachend, auch die
Einschätzung der Mitmenschen ist es; wenn sie wieder nur von sich selbst
ausgeht und den Mitmenschen kein eigenes Erleben zugesteht – eines, das völlig
konträr und unverständlich zu meinem eigenen steht; zu dem einzigen, das ich wirklich
kennen kann, wenn überhaupt.
Wie kann ich mich anmaßen, das Empfinden meines
Kollegen zu beurteilen, wenn ich ihn selbst nur flüchtig und oberflächlich
kenne? Es ist völlig unnütz, es ist beschämend und beschränkt, dieses wertende, sture Denken, so
wie Breton es bei einem (zutiefst intellektuellen) Hundeliebhaber feststellte, der
felsenfest davon überzeugt war, was sein Hund für ihn empfindet – um sich damit selbst
besser und geliebter zu fühlen. Und letztlich ist mein schnelles Mitleid auch bloß das: ein Weg, mich selbst besser zu fühlen. So als wäre ich es auch, als wäre
irgendjemand besser als der Kollege, besser als der borstenblonde, junge Mann, der
sich über frische Semmeln freut und ohne Hilfe in einer Stadt zurechtkommt, die
ihm nichts geschenkt hat – und der im Übrigen niemals traurig aussieht, wenn
ich ihn treffe.