Nach langer, langer, erstaunlich langer Zeit werde ich
wieder einmal im Touristenschloss eingesetzt, kehre an einem ersten, sonnigen
Frühlingstag zurück in die fensterlose Dunkelheit der Position Erdgeschoss Ost.
Eine neue, temporäre Schau ist hier aufgestellt, sie ist weniger Ausstellung
als Vermächtnis: das in Marmor gemeißelte Lebenswerk des Oberösterreichers
Leopold Kiesling ist hier zu betrachten, wunderbar, ja, episch inszeniert im
schwarz verputzten Zwischenraum, die Türen mit schwerem Mollton abgedeckt – da
erstrahlen Mars und Venus mit Amor.
In nur zwei Jahren hat Kiesling diese Figurengruppe aus dem
Stein geschlagen, hat den Marmorblock zu Kriegshelm und Satinkleid verarbeitet,
die Körper der Götter zu milchiger Perfektion geglättet. 1807 vom
österreichischen Kaiser großzügig vorfinanziert, hatte es Kiesling tatsächlich
geschafft, hatte sein Versprechen eingehalten, in nur zwei Jahren zu liefern –
und wie er lieferte. 1809 erstmals ausgestellt, wurde Kieslings Hauptwerk zum
Monument der Liebe, gedeutet als Symbol des Friedens, nach Jahren der Front:
Venus zuliebe legt Mars sein Schwert ab und reicht es dem kleinen Amorpummel.
Ein Omen der Utopie.
Doch auch Kritik am Werk soll nicht lange gefehlt haben,
erzählt die Kunstvermittlerin und umrundet die Skulptur zum dritten Mal. Die
Kleiderfalten auf der Rückseite fallen nicht halb so gut wie vorne, die
Proportionen der Venus wären ohnehin fragwürdig, fehlerhaft. Sie deutet auf den
rechten Venusarm, der Mars lieblich umschlingt, ich betrachte ihn, sehe genau hin, kann
aber beim besten Willen kein falsches Maß erkennen (ohnehin wirkt es seltsam,
bei einer eingebildeten Gottheit von falschem Maß zu sprechen – wie würde ein Fantasiewesen denn richtig aussehen?). Was mich
viel eher beschäftigt, was mich seit Stunden schon nicht loslässt, ist eine
ganz andere, sehr viel deutlichere Störstelle an der Skulptur: es ist der
kleine Amorpummel, der mich nicht loslässt. In seiner Pose, zur rechten Wade
des Kriegsgottes, wirkt er dynamisch, ein Beinchen hebt an, die Engelsflügel
halb offen; doch sie ist geschummelt, die Pose, sie trägt nicht. Kiesling
wusste das; und deshalb ist der kleine Liebesengel mit drei Stützbalken an Mars
befestigt. Drei unmotivierte, hässlich neutrale, irritierende Stützbalken, die
von jeder Meisterschaft des Restwerkes ablenken. Die einfach stören.
Und erst in der letzten Dienststunde, als sich der schwarze
Raum langsam leert, glaube ich zu begreifen, warum mich dieses Detail so sehr
stört. Ich weiß, dass dieser Künstler zwei Jahre seines Lebens in dieses Werk
gesteckt hat, ich weiß, dass die Komposition und ihr Detailgrad geniale,
unmenschlich perfekte Züge aufweisen, ich weiß, dass es eine der größten,
schönsten Marmorskulpturen seiner Zeit darstellt – und doch sehe ich zuerst
immer diese verfluchten Stützbalken, wenn ich die Figurengruppe betrachte.
Egal, wo ich stehe, egal, wie sehr ich versuche, sie auszublenden, den Blick zu
retuschieren, allein das Motiv und nicht seine Hilfslinien zu sehen – ich
schaffe es nicht; ich kann diese Störbalken nicht nicht sehen. Sie sind einfach da, in unerbittlicher Sichtbarkeit,
und zerstören zwei Jahre harter Arbeit, weil sie mich davon abhalten, den
Anblick ungestört zu bewundern. Ich sehe nicht die Meisterschaft, ich sehe nur
den einen Fehler darin. Und es macht mich an diesem Tag verrückt, weil ich
nicht glauben kann, dass Kiesling dieser Umstand nicht auffiel, dass er keine
andere, balkenfreie Lösung für die Darstellung des Amors finden konnte. Eine,
die nicht stört.
Im Übrigen ist Leopold Kiesling unsichtbar. Er ist einer
jener Künstler, von denen es kein einziges Porträt gibt – niemand kann heute
sagen, wie Kiesling tatsächlich einmal aussah. Keine Dokumente, keine
Beschreibungen gibt es über sein Aussehen, kein Bild, nicht mal eine Ahnung.
Mit seinem Tod verschwand der Bildhauer voll und ganz hinter seinem Werk, er wurde
ein gesichtsloses, flüchtiges Phantom, das ein überdauerndes Werk hinterließ.
Und je länger ich über ihn nachdenke, während ich schreibe, umso deutlicher sehe
ich plötzlich die Menschlichkeit in Kieslings sichtbarem Vermächtnis: Mars,
Venus, Amor, sie alle sind perfekt, weil sie keine Menschen sind. Wenn aber das
Wesen des Menschen (mein Wesen, unser Wesen) gerade im Unperfekten steckt, im
Fehlerbehafteten, Lernfähigen, Hilfsbedürftigen, dann hat sich Kiesling mit
diesen drei unperfekten, helfenden Stützbalken vielleicht selbst im Werk
verewigt. Und was ich zuerst sehe, wenn ich Mars
und Venus mit Amor betrachte, ist nicht mehr ein störendes Detail, sondern
der Beweis, dass ihr Macher ein Mensch war.