Mittwoch, 4. November 2020

Wegen Renoir

Ich bin wieder hier; weil sonst alles schließt, weil selbst im Fürstenschloss keine Arbeit auf mich wartet, stehe ich wieder hier, wo ich schon im Winter vor zwei Jahren stand: im führenden Auktionshaus der Stadt. Es ist, wie jede Ausstellung, eine geschützte, zweite Welt, parallel zum Draußen, und doch ist vieles anders, vieles lockerer als im Museum, muss ich mich als Aufsicht wieder umstellen und die Reflexe unterdrücken: Rucksäcke, Schirme, Telefone? Alles unerheblich. Abstände? Völlig nebensächlich. Sämtliche Gemälde, Teppiche, Möbel und Skulpturen sind hier nicht schüchtern, verschämt, sie verstecken sich nicht hinter Abgrenzungen, sie hören keinen Alarm, sie wollen beschaut und berührt werden, geprüft, gewogen, liebgewonnen, bevor sie im Auktionssaal den Besitzer wechseln. Die Kundenfreiheit in der Vorbesichtigung ist die Grundvoraussetzung des Auktionshauses. Und seine Schwachstelle.

Es geschah wenige Tage, bevor ich das erste Mal hier stand, im November vor zwei Jahren; drei Männer gingen zielgerichtet in den ersten Stock des Hauses und betraten die Schaustellung. Neunzig Sekunden später waren sie verschwunden – und ein Renoir mit ihnen. Ich erinnere mich, erinnere mich deutlich an meine junge Kollegin (geflochtenes Haar, unfassbar freundlich), die an jenem Tag die Aufsicht hatte. Sie stand am anderen Ende des Raums, konnte die Aktion nicht sehen, nur hören, wie einer der Männer das Bild von der Wand nahm, es aus dem Rahmen drückte, in die Einkaufstasche, die der zweite aufhielt (wie die Kameras später zeigten), ehe sich alle drei im Treppenhaus verstreuten. Die junge Kollegin hat es mir erzählt, in jedem Detail, sie hat alles richtig gemacht, sofort den Alarmknopf gedrückt, die Täter waren dennoch schneller. Sie kannten alle Ausgänge, waren schon verschwunden, als die Sirenen eintrafen.

Zwei Wochen später wurde einer der Männer in Amsterdam gefasst, von dem Bild fehlt bis heute jede Spur. Finanziell hielt sich der Verlust wohl in Grenzen – die blasse Küstenlandschaft war kein Hauptwerk Renoirs, und wofür hat man auch Versicherungen – schlimmer war der Imageschaden für das Haus: Kein Tag in den folgenden Wochen, an dem nicht jemand über den Verlust scherzte, hohnlachend nachfragte. Die Berichterstattung tat ihr übriges; am schlimmsten aber war das Wissen um meine junge, freundliche Kollegin: Sie wurde noch am Tag des Diebstahls von der Polizei verhört, musste alles noch einmal durchleben, und obwohl sie keine Schuld traf, sie gar keine Schuld haben konnte, wusste ich, dass sie sich Vorwürfe machte; nicht, weil ich mich anmaßte, es zu erraten – ich wusste es, weil sie es mir sagte: In diesem furchtbar traurigen, gnadenlos neutralen Erzählton, der so viel stärker, ehrlicher ist als jedes ausgestellte Wort, mit dieser zurückgenommenen Stimme hat sie mir alles mitgeteilt, so selbstverständlich, als kannten wir einander schon seit Jahren. Sehr schwierig war das alles, sehr viel auf einmal, sagt sie, denn erst am Tag davor hat ihr Freund Schluss gemacht. Und sie fügt an, freundlich wie immer: „Das ist einfach nicht meine Woche.“

Als ich heute wieder hier stehe, in den Schaustellungen des ersten Stockes, sehe ich nur bekannte Gesichter, alle Aufsichten von damals erkenne ich wieder – nur eine fehlt. Später frage ich nach der jungen Kollegin mit den geflochtenen Haaren. Ja, heißt es, die sei noch hier, arbeite jetzt aber in einer anderen Abteilung. Ich hoffe, nicht wegen Renoir.