Freitag, 4. Dezember 2020

Der Koala

Er geht als Erster zu Bett und steht als Letzter auf. Er schläft zwölf, achtzehn, bald zwanzig Stunden am Stück, er verbringt mehr Zeit im Bett als in der Welt. Seine Welt ist das Bett, sein Himmel die Decke, der Schlafpolster ein Wölkchen; kein Wecker, kein Alarm, kein Krach, kein Sonnenschein kann ihn wecken; er schläft in die Tage, seit er ein Kind ist, er schläft besser als du und ich, weil er es ein Leben lang geübt hat, weil er nicht aufhört, auszuschlafen. Er ist ein Meister seines Fachs, und sein Fach ist der süße Schlummer, der tiefe Traum, die Genügsamkeit des Liegenbleibens. 

„Schlaf“, schreibt Hebbel, „ist genossener Tod“, und niemand versteht diesen Satz besser als er – er kennt alle Arten von Schlaf, hat sie alle verinnerlicht, und wenn er stirbt, dann kann ihn selbst der Todesschlaf nicht überrumpeln. Zu viel, zu sehr hat er zuvor genossen, um Angst vor dem ewigen, großen Schlaf zu haben. Zwanzig Stunden im Bett, in der Traumlandschaft, jeden Tag – das ist, das kann nicht notwendig sein, auf keinen Fall; das ist eine Entscheidung. Seine Entscheidung. Was lässt sich da noch erledigen? Was lässt sich erreichen? Er muss nichts erreichen. Er hat seine Bedürfnisse in den Traum gelagert, er braucht nichts, vermisst nichts, er wacht nur noch auf, um sich auf den nächsten Schlaf zu freuen; und das genügt ihm. Er schläft, um zu schlafen, schläft, um zu träumen. Weil er weiß, dass man schlafen muss, um zu träumen. Träumer, Schläfer, Faulenzer, nennt man ihn. Du bist wie ein Koala, wird ihm gesagt. Du verschläfst dein Leben, wirft man ihm vor. – Ich lebe den Schlaf, erwidert er. Und legt sich wieder hin.