Freitag, 18. Februar 2022

Lob der Ambivalenz

Marlene Streeruwitz wurde einmal im Radio gefragt, was sie vom Strichpunkt halte, worauf sie anwortete, mit dieser angenehmen Stimme, für sie sei der Strichpunkt überhaupt kein Satzzeichen, eine Antwort, die mich bis heute schockiert; ohne dem Strichpunkt wäre die Literatur nicht nur um einige (viele) Möglichkeiten ärmer, nein, seine Abwesenheit hätte viele Werke, Stellen, Grauzonen gar nicht zugelassen. Unvorstellbar, wie ein Michael Koolhaas aussehen würde, hätte ein Satzzeichenberserker wie Kleist keine Strichpunkte zur Verfügung gehabt; hätten Kafka, Woolf, Borges sich immer nur für Punkt oder Strich entscheiden müssen, ihre Werke wären heute nicht die gleichen; weil der Strichpunkt eine ungeahnte Rettung in der Not ist, ein stiller Held, der triumphiert, wo alle anderen Satzzeichen versagen. Und dennoch wird er selten gefeiert, oft verschmäht, sogar verleugnet, von vielen geächtet. Doch warum?

Ein Missverständnis, vielleicht, in jedem Fall ein Irrglaube; wer meint, der Strichpunkt stehe für die anfängliche Unentschlossenheit des Autor, der Autorin, der will fehlende Konsequenz sehen, wo eine bewusste Entscheidung stehen mag; denn der Strichpunkt ist selten unentschlossen, und er ist schon gar nicht feige, im Gegenteil, er zeigt Mut zur Ambivalenz, er ist die klare Entscheidung für das Unklare, das Dazwischen, für alle Fälle, in denen weder ein Punkt noch ein Strich passend oder präzise genug erscheinen; weil es ihn nun mal gibt, ihn geben muss in der Literatur – selten, aber doch –, den ambivalenten Zwischen-Fall, die Schwebe zwischen Punkt und Komma, Ende und Fortsetzung; ohne den Strichpunkt wäre die Literatur einer Mitte beraubt, die sich nicht überzeugt und parteiisch auf eine der beiden bitter verfeindeten Seiten schlägt – er ist die Alternative, die sich nicht simpel und voreilig festlegen lässt, er zeugt nicht nur von Ambivalenz, er bedingt die Ambivalenz, und deshalb ist er nicht bloß irgendein Satzzeichen, sondern vielleicht das literarischste Satzzeichen überhaupt; weil Literatur von der Ambivalenz lebt.

Wo es keinen Platz für gedankliche Zwischenräume gibt, die sich in schriftlichen Zwischenzeichen ausdrücken, da wird es eng für die Literatur, diesen unendlichen Möglichkeitsraum, der vielleicht überhaupt nur besteht, weil er sich unterschiedlich lesen lässt. Der Strichpunkt ist ein Michael Koolhaas, ein strenger Hüter und Verfechter der Ambivalenz. Wo sie aufhört, da bleibt nicht mehr als ein Diktat, eine Vorgabe, die keine Grauzonen zulässt, sondern diktiert, wie ich zu lesen habe. Und wer liest schon gern Diktate?