Donnerstag, 5. Mai 2022

Wie man Amerling bespricht

Kunstvermittler sind eine Spezies für sich. Obwohl in Physiognomie und Dynamik durchaus verschieden, wirken sie doch seltsam geschlossen und überzeugt in ihren Inhalten. Egal, wen von ihnen ich begleite, jedes Mal höre ich die gleichen Ausführungen, in- und auswendig gelernt, abgespult wie eine müde Kassette, die zu oft gespielt wurde. Jedes Mal erfahre ich die gleichen Geschichten, Anekdoten, und – verwundernswert – die gleichen Meinungen zu den fürstlichen Kunstschätzen; als gäbe es keine Möglichkeit, ein Werk unterschiedlich zu deuten; oder zumindest: zu kritisieren. 

Jedes Mal, wenn ich im blauen Salon vor dem riesigen, goldumrankten Amerling stehe, weiß ich schon so sicher wie der Uhrschlag im Nebenzimmer, dass die Kunstvermittler wieder erzählen werden, wie steif und unbeholfen Amerling das Auftragsgemälde ausgeführt hat, wie leblos und gezwungen der fürstliche Thronfolger im Mädchengewand (sprich: im Kleid) auf einem steifen und leblosen, viel zu großen Schimmel sitzt, und jedes Mal werden die Kunstvermittler zur gegenüberliegenden Seite verweisen, wo die erhaltene Skizze zu dem Werk hängt, und immer, immer werden sie betonen, wie viel lebendiger und somit besser und wahrhaftiger die Ölskizze ist: hier sitzt der Bub lockerer, entspannter, die Pose wirkt kindlicher, und worauf er sitzt, ist kein stolzer, großgewachsener Schimmel, sondern ein abgelenktes, kindgerechtes Pony, verspielt und dynamisch – moderner als das fertige Werk sei es, werde ich jedes Mal erfahren, dem Gemälde überlegen, das doch zu Amerlings schwächeren Werken zählt, daran besteht kein Zweifel. Aber warum eigentlich nicht?

Die Einigkeit der Kunstvermittler verstört mich bei jeder neuen Führung, vor allem aber scheint sie mir eine Sache zu vergessen oder außer Acht zu lassen, ein winzig kleiner Punkt, den ich nicht übersehen kann: die Situation des Kunstprozesses. Amerling wurde vom Fürstenhaus dazu erkoren oder verdonnert, den Fürstenjungen festhalten zu müssen – mit all seinen Attributen und Stärken, die ein Thronfolger zu repräsentieren hat, egal, was die Wahrheit dazu sagt. Ein haltloses, lebendiges Kind, das dafür stundenlang regungslos und ausdrucksstark auf einem Pferderücken posieren muss – was könnte unnatürlicher sein? Auf der beiläufigen Ölskizze kommt dieser Umstand nicht ansatzweise rüber, schnell hingepinselt wirkt sie deshalb zwar auf den ersten Blick dynamischer, moderner – aber nicht natürlich. Denn dass ein Kind locker und lebendig bei einem zermürbenden Porträtauftrag sein kann, dass ein Pony verspielt den Zottelkopf hebt, genau im rechten Moment, das wirkt mir letztendlich viel gestelzter als die steife Endpose des fertigen Prinzengemäldes. Und deshalb ist die riesige Repräsentation größer als seine Skizze: weil Amerling (bewusst oder unbewusst) den wahrhaftigen Prozess, diese abgequälte, selten steife Situation des aufgezwungenen Posierens festgehalten hat; weil er im steifen Goldrahmen die Wahrheit hinter solch lästigen Auftragswerken durchschimmern lässt und damit ein deutlicheres Zeitdokument schafft, als es seine Auftraggeber verlangt haben; weil Amerling schönt, zeigt er gleichzeitig etwas Echtes: wie unendlich mühsam der Job des Modells ist.

Das ist der Umstand, der von keinem Kunstvermittler aufgedeckt wird, der heimliche Verdienst, der Amerling nie zugesprochen wird, weil sie alle nicht sehen, was er uns doch offen zeigt: Dort, wo die Wahrheit mit allen Mitteln verschleiert werden möchte, da scheint sie oft besonders deutlich hindurch.