Sonntag, 11. Dezember 2022

Die Alten (II)

Vor drei Monaten starb die Queen; die Queen, und jeder wusste, wer damit gemeint war, völlig unnötig, ihren Namen zu notieren, weil sie den Titel jahrzehntelang verinnerlicht hatte, zu dem Titel wurde, die Queen, lange vor meiner Geburt, und ich erinnere mich, mit einem Paar im Lift des Fürstenpalais’ gestanden zu sein, ein greises, ausgewandertes Britenpaar, und die Frau erzählte mir, unverkennbar stolz, ihr Mann hätte einmal mit der Queen gespeist, vor Jahrzehnten, kurz vor meiner Geburt, als er noch ihr Sicherheitsmann war; heute erinnere ich mich wieder an diese kurze Begegnung im Aufsichtsdienst; heute ist er für mich der Alte, der mit der Queen gespeist hat.

Immer wieder kommen sie zu uns ins Palais, in die privaten Kunstkammern des Fürsten – die Alten, die Langjährigen, die ein Leben intus haben, Menschen von der Insel, aus den Staaten, die ein Leben lang geschuftet haben, um sich die eine Europareise leisten zu können, und der erste Impuls im Kopf ist Warum, warum tun sie sich das an, in ihrem Alter, bei den Strapazen, mit Schiffen, Bussen, Taxis in das Herz der Stadt, um sich ein elend langes Stündchen durch die engen Galerien zu quälen, ohne Pause, ohne Sitzgelegenheit, und du bangst und zitterst, ob sie es wohl durchhalten, und bist erleichtert, wenn sie die letzte Stufe wieder hinter sich haben und wieder in ihren sicheren Reisebussen verschwinden.

Heute ist wieder so ein Tag, wo so eine Gruppe kommt, eine geschlossene Reisegruppe aus dem Land der Freiheit, jeder hat mehr Jahre als Sterne auf ihrer Flagge, weitaus mehr, und während draußen am neunten Dezember ein deprimierender Regen einsetzt, schleppen sie sich durch die Tür, die ich ihnen öffne. Es ist, als wäre eine gesammelte Mannschaft aus Benjamin Buttons eingetroffen, als hätte Fitzgerald sie persönlich hierher geschrieben, kleine staunende Kinder in undankbaren Großelternkörpern, überfordert von der Umgebung und den endlosen Stufen in den zweiten Stock. Doch um den Lift zu nehmen, sind viele zu stolz, sie nehmen den Kampf an und überschätzen sich, wie Erstsemestler (schließlich sei sie erst zweiundsiebzig, sagt mir eine, die sich besonders plagt, wenn es sogar die Neunzigjährigen schaffen, und sofort eine Entschuldigung hinten dran, als wäre ihr Alter ein Malheur). Ich zähle Gehstöcke und Rollatoren, die Buttons verstreuen sich in der Garderobe, die labyrinthische Architektur des Hauses überfordert sie, natürlich, eine Dame hat ihre Halskette verloren, eine andere ihre Gruppe, sie streifen beide verwirrt durch die Empfangshalle, wie zwei touristische Schlossgespenster, die außerhalb der Zeit wandeln.

Und wieder kommt mir der Gedanke hoch, dieses würgende Warum, doch ich weiß, es ist der falsche Impuls, es ist überheblich und zum Kotzen, so zu denken – die richtigere Frage wäre: Warum nicht? Warum sollten sie nicht ihre mürben Körper durch ein fremdes Land schleppen, warum sich nicht in einem fremden Museum verirren, „noch einmal stürmt, noch einmal …“ in den Ohren? Etwas nur deshalb nicht zu tun, weil es zu anstrengend erscheint, ist der Tod jedes Traumes, und niemand, außer der Träumer selbst, kann entscheiden, wann es zu spät ist, sich einen Traum zu erfüllen. Und wer weiß, wie viele Beweggründe, wie viele Geschichten wirklich in diesen Gesichtern liegen; vielleicht waren sie vor Jahrzehnten schon einmal hier, lange vor meiner Geburt, vielleicht haben sie wirklich jahrzehntelang auf diese Strapazen hingearbeitet, um sich einmal noch mit aller Kraft und Entschlossenheit ein Ziel zu setzen, nämlich eine Führung durch das Fürstenpalais durchzustehen, und diesen einen gefühlten Sieg davonzutragen, der sich (und daran will ich glauben) umso schöner festsetzt, je mühevoller er errungen wurde.

Es sind die Alten, die mir an diesem Tag zeigen, mir immer wieder beweisen: Es ist nie zu spät, um eine Reise zu beginnen – bevor es zu spät für sie ist.