Dienstag, 3. Januar 2023

Der Boris-Effekt

Neujahr. Im dichten Nebel dieser imaginären Zäsur, die einen Neustart verkündet, ohne irgendetwas anzuhalten, zurückzusetzen (außer die Kalenderwoche), sitze ich in der kühlen Altbauhöhle und schaue mir den Distelfink an, die Verfilmung von Donna Tartts großem Roman um ein kleines Gemälde, The Goldfinch im Original, ein mit übermäßigen Vorschusslorbeeren bedachter Film, der sofort und tief im Nebel der Enttäuschungen verschwunden ist, an den Kinokassen ignoriert, von der Kritik in seltener Einigkeit vernichtet. Zu Unrecht, wie ich finde: denn der Film ist nicht schlecht, im Gegenteil, Besetzung und Ausstattung sind tadellos, das Drehbuch verknappt an den richtigen Stellen, die Kameraarbeit ist ein einziges Gemälde. Es ist paradox: Normalerweise leiden Romanverfilmungen gerade an den unendlichen Erwartungen durch jene, die ihre Vorlage verehren, doch beim Distelfink beschleicht dich das Gefühl, alle Kritiker, die den Film mit dem Buchvergleich abstrafen, haben Donna Wartts Wälzer niemals gelesen.

Denn im Grunde muss dir der Film leid tun, wenn du das Buch kennst, macht er doch schrecklich offensichtlich, woran bereits der Roman krankte: die seltsame Blässe seines Helden. Denn auch nach über tausend Seiten weiß ich von diesem Theo nicht mehr als seinen Namen; seine jugendlichen Drogenexzesse mit seinem abgeranzten Außenseiterkumpel Boris, sein unüberwindbares Trauma durch den gewaltsamen Verlust der Mutter, sein zwanghaftes Festhalten am titelgebenden Kunstwerk, seine Entwicklung zum kalkulierten Dandy, kalten Ehemann, berechnenden Lügenbaron, all das bleibt bereits im Buch die reinste Behauptung, nichts davon glaube ich ihm – bei all seinen Abenteuern bleibt Theo (wie durch ein Wunder) die langweiligste Figur seiner eigenen Geschichte.

Im Roman wiegt dieser Umstand erstaunlicherweise nicht sehr schwer, weil die Autorin es meisterhaft versteht, mich durch akribische, fast schon obsessive Beschreibungen in ihre Welt zu versetzen, und mehr Wert legt auf die Belebung eines Antiquariats als auf die Lebendigkeit des Antihelden; und weil sie Nebenfiguren schafft, die neben seiner Blässe umso stärker strahlen, allen voran der bleiche (niemals blasse) Boris, der bunteste Vogel und eigentliche Star neben dem Distelfink – über hunderte von Seiten verbannt ihn Tartt gnadenlos aus ihrem Buch, und dann, wenn er nach vielen, vielen Jahren endlich wieder in Theos Leben auftaucht, freue ich mich darüber so ehrlich, so euphorisch, als würde ich einen alten, bereits totgeglaubten Freund nach Ewigkeiten wiedertreffen. Im Film gelingt dieser Effekt nicht; er kann nicht gelingen – wenn Boris auf dem Bildschirm wieder auftaucht, ist nur ein halbes Stündchen vergangen und ein anderer Schauspieler in seiner Haut, einer, der mir meinen Boris wieder aus dem Kopf reißt, ihn mir ersetzen will; aber natürlich kann es nur einen Boris geben.

Über seine filmische Rückkehr freu ich mich nur, weil sie mich daran erinnert, welche unbändige Freude sie während der Buchlektüre in mir ausgelöst hat. Es ist ein magischer, universaler Effekt, den alle Büchermenschen kennen. Der manische Allesleser Alberto Manguel („Ich verstehe mein Leben als ein unablässiges Lesen in den Seiten vieler Bücher“) hat ein ganzes Werk darüber geschrieben, wie uns fiktive Figuren durchs Leben begleiten, uns zu wahren Freunden werden, uns manchmal sogar echter und greifbarer erscheinen als ihre leibhaftigen Schöpfer, die uns nicht weiter interessieren. Der Boris aus dem Buch ist mir ein solcher Freund geworden; seine filmischen Inkarnationen bleiben ferne Bekannte.

Donna Tartts Roman habe ich vor vielen Jahren gelesen, ich war damals noch keine Aufsicht, trug noch nie einen Dienstanzug, doch ich denke heute noch an Boris, wenn ich gute Kollegen nach Ewigkeiten wieder auf Position treffe; und ich frage mich, was dieses blonde Schlitzohr, dieser sympathische Solitär, Gift- und Gurkengenießer, dieses prinzipientreue Phantom wohl heute treibt, ob er für sich Erlösung gefunden hat, ob er noch manchmal seinen berauschten Jugendtagen in der Wüste von Nevada nachtrauert und was er in diesen Tagen wohl fühlt, jetzt, wo in seiner alten Heimat der Krieg herrscht. Boris ist Ukrainer.