Freitag, 3. Februar 2023

Über das Sitzen

Es genießt keinen guten Ruf in diesen Tagen, es ist verpönt, gilt als Volkskrankheit, wird als „das neue Rauchen“ bezeichnet – nein, im Ernst, das Sitzen hatte schon mal einen besseren Stand. Das ist schade, es ist ungerecht, vor allem aber verfehlt, denn es gibt viele klare und gute Gründe, sich hinzusetzen – schwieriger und existentieller ist dagegen schon die Frage, wofür ich eigentlich aufstehe.

In der Museumsaufsicht ist der Stuhl meine Rettung; die Aussicht, sich setzen zu dürfen, ist unsere ferne Erscheinung um Horizont, das rettende Schiff, das sich minutiös nähert, bis die Hoffnung Anker legt, die Ablöse mich in die Pause entlässt, die Füße entspannen, die Bandscheiben ruhen, für ein paar Minuten nur. Erst das erzwungene Stehen offenbart den wahren Wert des Sitzens, und erst im dankbaren Niederlassen auf den Stuhl wird klar, was er wirklich darstellt – einen Luxus, ein wertvolles, vierbeiniges Kulturgut, für das es sich zu kämpfen lohnt. In der Schule geht die Angst vorm Sitzenbleiben um, doch die härteste Strafe liegt im Stehen: es kann als Demütigung, kann als Folter verwendet werden (gerne kombiniert mit Nacktheit, Kälte, Fessel, Finsternis), kann zur öffentlichen Vorführung, Abwertung, Ausstellung dienen, kann im endlosen Anstehen an den Verstand gehen, bis zum Umfallen und darüber hinaus.

Das Stehen erregt Aufmerksamkeit, es behauptet jede Bühne für sich, doch viele, wirklich bewegende Dinge entstehen im Sitzen. Wird uns Gewichtiges mitgeteilt, sollen wir uns zuerst lieber hinsetzen, denn das Sitzen steht für Intimität, am Stuhl fühle ich mich privat, sicher und beschränkt, während das Stehen nach Größe und Pathos strebt (Ansprachen erfolgen im Stehen, Aussprachen im Sitzen). Sitzend wird geredet, gegessen, gewürfelt und gezinkt; sitzend werden Gesetze unterzeichnet und Geschichten aufgeschrieben, die gesamte Literaturgeschichte wäre ohne der Gegenwart eines Stuhls vollkommen undenkbar, denn jeder Text (auch dieser), jeder Akt des Schreibens beginnt damit, sich hinzusetzen. Der Stuhl ist nicht nur eine gesellschaftliche Errungenschaft des Menschen, er ist auch längst in die Kulturgeschichte eingegangen, von Van Goghs gelben Holzstuhl bis zu den zerschlissenen zwölf Stühlen bei Ilf & Petrow.

Pascal wird der Ausspruch zugeschrieben, alles Übel in der Welt entstehe überhaupt nur dadurch, dass der Mensch nicht ruhig in einem Zimmer sitzen kann. Und vielleicht ist das tatsächlich das Dilemma, der urtümliche Grund, warum das Sitzen heute so schlecht wegkommt: weil Unruhe urmenschlich ist, und die Stunden am Stuhl in ihrer Masse von jedem Genuss und Genius befreit wurden, beschlagnahmt von Kafkas Beamtenapparat, der längst Alltag geworden ist; im globalen Großraumbüro ist der Stuhl keine entspannende Erlösung, keine Hilfe zur Entscheidung, er ist die ergonomische Knechtschaft, die verbiegt und verkrümmt, weil sie aus dem Luxus eine Legebatterie schafft, die sich in der sitzenden Unruhe selbst abstraft. 

Wenn meine Museumspause vorbei ist (und sie ist immer zu schnell vorbei), wenn ich nach diesen kurzen Zeilen wieder aufstehe, mich erhebe, dann fühle ich mich für einen Moment erfrischt, ja, beinahe erholt, in jedem Fall dankbar. Und vielleicht bekäme das Sitzen wieder einen besseren Ruf, wenn wir uns öfter dieser einen Sache bewusst werden: Es ist nicht der Stuhl, der uns krank macht, sondern die Art und Weise, wie wir unsere Zeit auf ihm verbringen.