Auf die Frage nach dem wichtigsten Tag, dem wichtigsten Abend des Jahres gibt es für Museumsaufsichten nur eine richtige Antwort: die Lange Nacht der Museen. Einmal im Jahr herrscht Ausnahmezustand und Urlaubssperre, jede Kraft wird gebraucht, um die anstürmenden Massen im Zaum zu halten – es ist der Black Friday der hiesigen Kulturlandschaft (an einem Samstag), es ist Anfang Oktober, und es ist mit allem zu rechnen: erwachsene Damen, die sich Klopapierrollen in die Handtaschen stopfen, erwachsene Herren, die ihre Kaugummis auf den Museumsteppich spucken – alles schon passiert. Das goldene Ticket, das für einen Abend Einlass gewährt in alle Kunstkammern des Landes, es lockt die Leute magnetisch an, es holt ihr bestes und ihr schlechtestes hervor. Wer etwas über die Natur des Menschen lernen will, ist hier nicht falsch.
Ich erinnere mich an die große Nacht vor einem Jahr, eingeteilt in einem Palais in der Innenstadt, stand ich zitternd und frierend (meine Jacke zu dünn) im überdachten Eingangsbereich, durch den der Wind blies, während sich die Besuchermassen bis um die Straßenecke reihten, und meine Aufgabe darin bestand, den unnachgiebigen Andrang zu ordnen, die ewigen Fragen zu klären, die Ausgänge frei zu halten und (besonders) Unfälle zu vermeiden.
Die längste Zeit läuft alles gut in diesem Jahr, es ist schon kurz vor Mitternacht, als es passiert: Hinter mir ertönt ein Knall, der durch das Vestibül hallt, ich drehe den Körper – nur ein paar Meter entfernt, inmitten der Menge, liegt eine Frau am Boden. Eine Mitarbeiterin der Museumskasse kommt ihr zur Hilfe, ich hinzu, die anstehenden Gäste treten zur Seite, der Portier schafft Platz, die Oberaufsicht wird verständigt. Wir versuchen, der Frau hoch zu helfen, es gelingt nicht; sie schreit auf, bleibt am kalten Stein sitzen. Neben ihr eine jüngere Frau, ihre Tochter, wie ich später erfahre, und beide haben Tränen in den Augen; nicht wegen des Schmerzes, nicht wegen der Verletzung, sondern weil sie beide sofort verstehen, was es bedeutet – die Mutter wird in ein Krankenhaus müssen. Die Oberaufsicht kommt hinzu, die Frau immer noch am Boden, die Rettung soll verständigt werden. Bitte nicht, sagt die Tochter flehend, mit spanischem Akzent, sie seien nicht versichert.
Es ist faszinierend, denke ich, wie im Chaos eines Notfalls die Fragmente nach und nach ineinander fallen und sich zu Bausteinen einer Geschichte fügen. Später, mit allen Informationen, könnte man diese Geschichte so erzählen: Eine Kubanerin, längst im Pensionsalter, zieht mit ihrer erwachsenen Tochter in die schöne Stadt an der Donau, weil ihnen hier ein schönes Leben versprochen wurde. Beide arbeiten als Reinigungskräfte für die kubanische Botschaft, bekommen eine Wohnung, doch keine Anstellung. Sie leben für den Botschafter, leben auf der Hut, weil sie wissen, dass ihnen hier nichts passieren darf. Weil sie nicht versichert sind. An einem Samstagabend möchte sich die Tochter einmal etwas gönnen, es ist Lange Nacht, und sie überredet die Mutter, mit ihr hinzugehen. Sie haben noch wenig von der Stadt erlebt, wollen nur einmal in ein Palais schnuppern; es ist schon spät, fast zu spät, als sie in der Schlange für die letzte Führung stehen – da stolpert die Mutter in der Menge über die einzige Stufe im Eingangsbereich, stolpert und stürzt auf die linke Schulter, bleibt liegen. Sofort wissen beide, dass der Albtraum eingetreten ist – die Angst, die Panik, ihre Arbeit, die Wohnung, ihre Existenz zu verlieren. Trotz alles Flehens wird die Rettung verständigt. Die Tochter ruft den Botschafter an. Die Mutter steht unter Schock. Sie ist neunundsechzig Jahre alt. Während sie auf die Rettung wartet, wird sie der jungen Aufsicht neben ihr erzählen, dass sie in ihrer kubanischen Heimat noch nie im Krankenhaus war. Sie wird von ihrer Jugend erzählen, sie wird über die deutsche Sprache schimpfen, sie wird die Aufsicht nach ihrem Namen fragen, sie wird ihr anvertrauen, dass sie nichts mehr fürchtet, als die Nadel einer Spritze. Als der Krankenwagen endlich kommt und zwei kräftige Sanitäter sie auf eine Trage bugsieren, steht der kubanische Botschafter schweigend daneben. Die Aufsicht informiert sich bei den Sanitätern, in welches Krankenhaus die Frau gebracht wird. Der Wagen fährt ab, die Reihen lichten sich, das Museum schließt. Am nächsten Tag wird die Aufsicht das Unfallkrankenhaus besuchen, um nach der Kubanerin zu sehen, doch die Frau ist nicht dort. Die Geschichte endet damit, dass die Aufsicht ohne Antworten nach Hause spaziert und auf halbem Weg den Schirm aufspannt, weil es wieder zu regnen beginnt.
Als ich den Dienstplan für die erste Oktoberwoche erhalte, bin ich wieder im gleichen Objekt eingeteilt wie letztes Jahr; wieder muss ich an die Kubanerin denken, die es nicht ins Palais geschafft hat. In einem schlechten Film würde ich sie heuer an den Eingangsstufen wiedersehen; und ich würde sie sofort erkennen, und sie würde es diesmal ins Museum schaffen, mitsamt der Tochter. Und im Abspann würde fröhliche kubanische Musik erklingen.
Aber wer wollte so einen Film schon sehen?