Sonntag, 6. Oktober 2024

Die Kubanerin

Auf die Frage nach dem wichtigsten Tag, dem wichtigsten Abend des Jahres gibt es für Museumsaufsichten nur eine richtige Antwort: die Lange Nacht der Museen. Einmal im Jahr herrscht Ausnahmezustand und Urlaubssperre, jede Kraft wird gebraucht, um die anstürmenden Massen im Zaum zu halten – es ist der Black Friday der hiesigen Kulturlandschaft (an einem Samstag), es ist Anfang Oktober, und es ist mit allem zu rechnen: erwachsene Damen, die sich Klopapierrollen in die Handtaschen stopfen, erwachsene Herren, die ihre Kaugummis auf den Museumsteppich spucken – alles schon passiert. Das goldene Ticket, das für einen Abend Einlass gewährt in alle Kunstkammern des Landes, es lockt die Leute magnetisch an, es holt ihr bestes und ihr schlechtestes hervor. Wer etwas über die Natur des Menschen lernen will, ist hier nicht falsch.

Ich erinnere mich an die große Nacht vor einem Jahr, eingeteilt in einem Palais in der Innenstadt, stand ich zitternd und frierend (meine Jacke zu dünn) im überdachten Eingangsbereich, durch den der Wind blies, während sich die Besuchermassen bis um die Straßenecke reihten, und meine Aufgabe darin bestand, den unnachgiebigen Andrang zu ordnen, die ewigen Fragen zu klären, die Ausgänge frei zu halten und (besonders) Unfälle zu vermeiden.

Die längste Zeit läuft alles gut in diesem Jahr, es ist schon kurz vor Mitternacht, als es passiert: Hinter mir ertönt ein Knall, der durch das Vestibül hallt, ich drehe den Körper – nur ein paar Meter entfernt, inmitten der Menge, liegt eine Frau am Boden. Eine Mitarbeiterin der Museumskasse kommt ihr zur Hilfe, ich hinzu, die anstehenden Gäste treten zur Seite, der Portier schafft Platz, die Oberaufsicht wird verständigt. Wir versuchen, der Frau hoch zu helfen, es gelingt nicht; sie schreit auf, bleibt am kalten Stein sitzen. Neben ihr eine jüngere Frau, ihre Tochter, wie ich später erfahre, und beide haben Tränen in den Augen; nicht wegen des Schmerzes, nicht wegen der Verletzung, sondern weil sie beide sofort verstehen, was es bedeutet – die Mutter wird in ein Krankenhaus müssen. Die Oberaufsicht kommt hinzu, die Frau immer noch am Boden, die Rettung soll verständigt werden. Bitte nicht, sagt die Tochter flehend, mit spanischem Akzent, sie seien nicht versichert.

Es ist faszinierend, denke ich, wie im Chaos eines Notfalls die Fragmente nach und nach ineinander fallen und sich zu Bausteinen einer Geschichte fügen. Später, mit allen Informationen, könnte man diese Geschichte so erzählen: Eine Kubanerin, längst im Pensionsalter, zieht mit ihrer erwachsenen Tochter in die schöne Stadt an der Donau, weil ihnen hier ein schönes Leben versprochen wurde. Beide arbeiten als Reinigungskräfte für die kubanische Botschaft, bekommen eine Wohnung, doch keine Anstellung. Sie leben für den Botschafter, leben auf der Hut, weil sie wissen, dass ihnen hier nichts passieren darf. Weil sie nicht versichert sind. An einem Samstagabend möchte sich die Tochter einmal etwas gönnen, es ist Lange Nacht, und sie überredet die Mutter, mit ihr hinzugehen. Sie haben noch wenig von der Stadt erlebt, wollen nur einmal in ein Palais schnuppern; es ist schon spät, fast zu spät, als sie in der Schlange für die letzte Führung stehen – da stolpert die Mutter in der Menge über die einzige Stufe im Eingangsbereich, stolpert und stürzt auf die linke Schulter, bleibt liegen. Sofort wissen beide, dass der Albtraum eingetreten ist – die Angst, die Panik, ihre Arbeit, die Wohnung, ihre Existenz zu verlieren. Trotz alles Flehens wird die Rettung verständigt. Die Tochter ruft den Botschafter an. Die Mutter steht unter Schock. Sie ist neunundsechzig Jahre alt. Während sie auf die Rettung wartet, wird sie der jungen Aufsicht neben ihr erzählen, dass sie in ihrer kubanischen Heimat noch nie im Krankenhaus war. Sie wird von ihrer Jugend erzählen, sie wird über die deutsche Sprache schimpfen, sie wird die Aufsicht nach ihrem Namen fragen, sie wird ihr anvertrauen, dass sie nichts mehr fürchtet, als die Nadel einer Spritze. Als der Krankenwagen endlich kommt und zwei kräftige Sanitäter sie auf eine Trage bugsieren, steht der kubanische Botschafter schweigend daneben. Die Aufsicht informiert sich bei den Sanitätern, in welches Krankenhaus die Frau gebracht wird. Der Wagen fährt ab, die Reihen lichten sich, das Museum schließt. Am nächsten Tag wird die Aufsicht das Unfallkrankenhaus besuchen, um nach der Kubanerin zu sehen, doch die Frau ist nicht dort. Die Geschichte endet damit, dass die Aufsicht ohne Antworten nach Hause spaziert und auf halbem Weg den Schirm aufspannt, weil es wieder zu regnen beginnt.

Als ich den Dienstplan für die erste Oktoberwoche erhalte, bin ich wieder im gleichen Objekt eingeteilt wie letztes Jahr; wieder muss ich an die Kubanerin denken, die es nicht ins Palais geschafft hat. In einem schlechten Film würde ich sie heuer an den Eingangsstufen wiedersehen; und ich würde sie sofort erkennen, und sie würde es diesmal ins Museum schaffen, mitsamt der Tochter. Und im Abspann würde fröhliche kubanische Musik erklingen.

Aber wer wollte so einen Film schon sehen?

Freitag, 16. August 2024

Fette Autos

Während einer meiner letzten, unmotivierten Reisen durch das Internet stieß ich auf ein erstaunliches Video: auf einem Parkplatz in Peking wurden Autos gefilmt, deren Karosserie riesige Beulen aufwies, als wären sie unter der prallen Sommerhitze aufgebläht wie ein Germteig im Rohr. Tatsächlich handelte es sich um chinesische Neuwägen, bei denen eine spezielle Lackfolierung aufgetragen wurde; die drückenden Temperaturen sorgten dafür, dass sich die Folie dehnte und die Wagen aussahen, als hätten sie die Beulenpest, oder wie es im Video hieß: als gingen sie schwanger.

Unvermittelt muss ich bei dem skurrilen, irrwitzigen Anblick an Erwin Wurm und sein FAT CAR denken, der aufgeblähte rote Passivsportwagen, der dem konsumgeilen Markt seinen Spiegel vorhält - ein adipöses Auto, ein großer Spaß, Wurms Durchbruch in der Kunstwelt. Doch heute, nach Sicht der fetten Pekinghauben, da scheint es mir mehr als das, glänzt das aufgedunsene Chrom in neuem Licht - die Realität, sie hat die Kunst eingeholt.

In einem vieldiskutierten Essay schrieb Oscar Wilde einmal, es sei nicht die Kunst, die das Leben imitiere (wie Sokrates festhielt), sondern das Leben, das die Kunst nachahme. Wilde sprach sich vehement für eine Anti-Mimesis aus, glaubte fest daran, dass wir im Londoner Nebelloch nur deshalb eine mysteriöse, traumartige Schönheit ausmachen, weil sie zuvor von Dichtern und Malern beschworen wurde - "Life imitating art" war das Fazit seiner Überzeugung, und genau diese Worte kommen mir in den Sinn, wenn ich die dickbäuchigen Asia-Autos sehe: sie imitieren eine ironische Kunstikone, doch sie tun es nicht freiwillig; sie beugen sich dem Klima, werden von einem neuen Rekordsommer verformt, zeigen auf besonders abwegige Weise die Konsequenz der Erderwärmung - ein PKW, der Blasen bildet wie ein kochender Geysir - was wäre ein stärkeres Bild für die menschgemachte Heißzeit?

Durch dieses Bild, diese Gegenwart, erhält Erwin Wurms überfettete Kunstkarre eine neue, nachträgliche Bedeutung, die erst jetzt deutlich wird: es ist nicht einfach eine lachende Kritik am Kapitalismus, es ist die prophetische Warnung vor der globalen Überhitzung, der Erd- und Hirnschmelze, die zu bizarren Transformationen führt, zu feuerroten, wild wuchernden Brandblasen, die wir all die Zeit nicht gesehen haben, nicht sehen wollten, bevor das Leben anfing, die Kunst nachzuahmen ...

Doch wer weiß, vielleicht klingen meine Gedanken auch völlig abwegig, lauwarm, wirr – es fällt einfach verdammt schwer, einen klaren Kopf zu bewahren, bei der unnachgiebigen, erdrückenden Hitze in diesen Tagen.

Freitag, 19. Juli 2024

Nur ein Albtraum?

Borges hatte wieder mal recht – kaum etwas bereitet mehr Vergnügen, als Chesterton zu lesen. Egal, ob ich den dicken Father Brown begleite, wie er in genuiner Gemütlichkeit Verbrechen löst, oder ob ich The Man Who Was Thursday (was für ein Titel) verfolge – immer erzeugt der Autor eine bübische Begeisterung in mir, weil ich in jeder Zeile seine endlose Schreibfreude spüre, die sich sofort überträgt, sich im Gesicht ausbreitet und lange anhält, sogar an schlechten Tagen. Vor allem an schlechten Tagen.

Wie groß Chestertons Freude am Spiel mit seinen Lesern war, zeigt sich am besten in einem Detail – einem Untertitel. Gilbert Keith Chesterton war ein Mann des Glaubens, doch was das Schreiben betraf, glaubte er an keinerlei Grenzen; Kategorien waren ihm zuwider, in allen Genres war er zuhause, er verteidigte den Unsinn in seinen Essays und das Triviale in seinen Kriminalgeschichten; und dann gibt es da noch dieses eigenartige Werk, das Donnerstag war, eine bizarre Agentenfabel um Identität und Paranoia, die so maßlos unterhaltsam und temporeich geschrieben ist, dass man beinah übersehen könnte, wie viel gewitzte Weltanschauung hinter all dem Dynamit steckt. Doch was ist dieser Text eigentlich? Im Listenfetisch meiner Zeit wird The Man Who Was Thursday ganz selbstverständlich als Roman gereiht, doch in der englischen Originalausgabe fehlt der Begriff. Stattdessen steht da ein simpler Untertitel, ein Hinweis, eine Warnung: A Nightmare.

Ein Albtraum, doch ein verdammt vergnüglicher. Allein, auch dieser Wink überzeugt mich nicht, denn dafür ist er zu eindeutig, zu absolut. Ich stelle mir vor, dass Chesterton das wusste; und deshalb ist auch der Untertitel bloß Teil des Plans, des größeren Spiels.

The Man Who Was Thursday ist 1908 auf der Insel erschienen, im gleichen Jahr, als ein Kärntner Künstler am Kontinent seinen einzigen Roman schrieb – aus der größten Krise heraus schuf Alfred Kubin sein Buch Die andere Seite, ein phantastischer Roman, Kultbuch, Hirngewichse (würde man heute sagen), und beide Werke weisen faszinierende Parallelen auf, erzählen gleichermaßen eine surreale Geschichte, die in einem absurden Finale gipfelt, schließlich in sich stürzt, unter Lawinen an Handlungen begraben, bis sich alles als Traum auflöst – doch während Kubins narrischer Erzähler am Ende in die Heilanstalt muss, führt Chestertons Albtraum bei seinem Helden letztlich zu einem erhebenden Gefühl, einer unerklärlichen Leichtigkeit, ähnlich wie ich sie empfinde, wenn ich Chesterton lese.

Und doch ist da noch mehr; denn warum bloß steht der Untertitel diesem Text voran, warum sollte Chesterton schon auf der ersten Seite den Paukenschlag vorwegnehmen, ja, noch betonen, dass es sich bei der Geschichte um doppelte Agenten und drollige Anarchisten „nur“ um einen Traum handle (als wäre ein guter Traum wenig)? Jemand, der so wirksam mit Wendungen und Spannung arbeitete wie er, hätte diese Pointe wohl ungern vorweggenommen – es sei denn, der Hinweis erzählt mehr, als er anzeigt, erzeugt Erwartungen, die er nicht hält; nicht halten will: War das alles wirklich erträumt? Ist der Held am Ende tatsächlich wach oder ist gar der Schlusspunkt die Traumflucht? Und liegt der eigentliche Albtraum nicht ohnehin ganz woanders als in der vordergründigen Handlung?

Betonung macht verdächtig, und der vorangestellte Verweis sorgt unvermeidlich für detektivische Zwangsgedanken; denn natürlich sollte man den Autor nicht immer beim Wort nehmen, und womöglich lockt der Untertitel ganz bewusst auf falsche Fährten, bringt mich überhaupt erst zum hintersinnigen Nachdenken, räumt die Möglichkeit ein, dass hinter der rasanten Traumlogik von Täuschung und Verfolgung noch eine weitere Erzählebene steckt, die sich nicht so einfach und eindeutig zu erkennen gibt, wie es ein unheilschwangerer Untertitel vorzugeben scheint. Der wirkliche Albtraum wäre, wenn sich Bücher in Zukunft nur noch auf eine einzige Art lesen lassen und kein Platz mehr für verspielte Doppeldeutigkeiten bliebe.

Gegen diesen Albtraum hat Chesterton angeschrieben – und zum Glück für die Nachwelt hatte er unendlichen Spaß dabei. 

Freitag, 12. Juli 2024

Mittwoch, 19. Juni 2024

Die falschen Schlüsse

Die Sonne scheint, immer noch, auf nichts Neues. Es ist Juni, ich sitze mit Beckett auf einer Holzbank im Park hinter dem Museum und warte, bis mein Dienst beginnt. Ich habe mich in den Park hingesetzt, in der naiven Freude und Hoffnung, hier in Ruhe lesen zu können, ungestört, bei guter Luft; ich habe kein Kapitel geschafft, da passiert es schon.

Ein älterer Mann kommt vorbei, fragt, ob er sich neben mich setzen darf, was ich nicht ablehnen kann. Um zu verdeutlichen, dass ich weiter lesen möchte, drehe ich den Körper ein paar Grad zur Seite, hebe unbewusst das Buch an, doch es ist zu spät. Der Mann fragt, was ich da lese, ich nenne Titel, Autor, und fühle mich aus irgendeinem Grund verpflichtet, ein paar erklärende Worte zum Inhalt auszuführen, obwohl ich weiß, dass es den Mann nicht interessiert, er gar nicht zuhört, denn es ist der klassische Einstieg, um auf sich selbst überzuleiten, er könne auch ein ganzes Buch schreiben, sagt er und macht diese Handbewegung, er hätte Geschichten zu erzählen, und natürlich erzählt er sie mir, ungefragt und ausführlich; obwohl, eigentlich, da erzählt er sie sich selbst. 

Der Mann ist heute (so sagt er es) stolzer und zufriedener Pensionist, blickt heute zurück auf ein reiches Leben: über dreißig Jahre war er Frachtpilot, hat nebenbei ein halbes Vermögen mit Immobilien gemacht, rechtzeitig verkauft und seinen zwei Söhnen aus zwei Ehen jeweils ein Haus auf einer spanischen Insel geschenkt, ihre Zukunft gesichert in diesen unsicheren Zeiten, sie machen gute Ausbildungen, aus beiden wird was werden. Der Mann wirkt mit sich im Reinen, als er davon erzählt, er hat abgeschlossen mit der Arbeit, mit den Frauen, genießt ohne Geldsorgen die Rente, den Lebensabend, genießt seine eigene Geschichte. Doch dann geschieht das Seltsame: unvermittelt entgleitet seine Erzählung in eine nostalgische Verbitterung, die sich zunehmend aggressiv gegen das Heute richtet: heute wäre es ja völlig unmöglich, so zu fliegen, wie er früher geflogen sei, die unzähligen Vorschriften, Regelwerke und Sicherheitsstandards dieser EU machen heute jeden Spaß am Fliegen zunichte, und überhaupt, die Frauen heute! – was er in seiner Pilotenzeit für Abenteuer mit den Frauen hatte, das sei heute vollkommen unmöglich, heute denken die Frauen nur an sich selbst, ausnehmen wollen sie dich und dein Geld verprassen, und überhaupt findest du heute keine mehr, mit der du einfach Spaß haben kannst, so wie früher, denn früher, da wollten sie noch … Aus dem ursprünglichen Bedürfnis, sich mitzuteilen, die Einsamkeit des Alters wegzureden, entblößt sich plötzlich eine absurde Wut gegen die Welt, die der Mann neben mir offensichtlich nicht mehr versteht – nicht verstehen will – und deshalb tut, was man in meinem Land am besten kann: ziel- und folgenlos zu schimpfen.

Als er dann ebenso abrupt noch gegen die NATO wettert und Putins Propaganda wiederkäut, da verabschiede ich mich zur Arbeit, war selten so froh, den Dienst vor mir zu haben, doch wenn ich noch mehr Zeit, mehr Mut gehabt hätte, wollte ich dem Mann auf der Parkbank etwas erwidern, das ihn – vielleicht – für einen Moment zum Schweigen gebracht hätte; denn das absolut bizarre an seiner bitteren Suada, denke ich später, war, dass dieser Mann auf der Parkbank sein eigenes, unfassbares Glück nicht sehen konnte – er hat finanziell aus- und vorgesorgt, hat zwei Kinder in Sicherheit, ist ohne Schaden durch Pandemie und Krise gekommen, muss nicht vor dem Krieg flüchten; und dennoch glaubt er (spürt er), heute in der schlechtesten aller Welten zu leben, dabei scheint die Sonne noch immer auf den gleichen Spielball, und die einzige Sache, die der Mann nicht akzeptiert, ist die verdammte Dauer des Spiels: in der verzerrten Wahrnehmung, dass früher alles besser war, liegt in Wahrheit nur der Schmerz, dass alles früher war; ein erstes Mal lässt sich nicht wiederholen, ein junger Körper nicht zurückbringen; Alter heißt Abschied, und wer ist schon gut im Verabschieden?

Es ist bitter und schwer, zu akzeptieren, dass sich die Spielzüge des Lebens nicht wiederholen lassen – doch es sind die völlig falschen Schlüsse, die der Mann aus seiner Spielzeit gezogen hat, die unumstößlich dazu führt, dass der Typ heute am Rand sitzt, und zwar allein, weil er sich dafür entschieden hat; frei nach dem Schutzpatron des schlechten Geschmacks, John Waters: ein junger wütender Mann ist attraktiv, ein alter wütender Mann ist ein Arschloch.

Wäre bei dem Mann auf der Parkbank die Dankbarkeit über das Gewesene größer als die Bitternis über das Fortschreiten der Zeit, dann müsste er vielleicht keine Selbstgespräche mit Aufsichten führen; dann würde sich vielleicht noch mal jemand zu ihm auf die Bank setzen. 

Donnerstag, 23. Mai 2024

Der Rattenfänger, neu erzählt

Eines Tages kam ein Fremder in eine kleine, unauffällige, für nichts besonders bekannte Stadt und bot den Bewohnern seine Hilfe an. Er hatte gehört, dass die Stadt schon seit geraumer Zeit unter einer Plage litt – Ratten hatten sich in rauen Mengen breit gemacht, und die Bewohner (die den Aberglauben nicht scheuten), sahen darin ein dunkles Vorzeichen, vielleicht einen Fluch, sie beteten dagegen an, doch es half nichts.

Der Fremde, ein Nagetierexperte, sah dagegen die Gefahr einer Seuche und bat um Erlaubnis, sich um die Ratten zu kümmern. Die Bewohner waren skeptisch (sie waren gegenüber allem Fremden skeptisch), doch in ihrer Not willigten sie ein und versprachen dem Mann eine reiche Belohnung, sollte er die Nager tatsächlich aus der Stadt bekommen.

Ohne Zeit zu verlieren, machte sich der Fremde an die Arbeit, er holte sein Instrument aus dem Koffer und bediente die Tasten. In jahrelanger, akribischer Forschung hatte er herausgefunden, dass die Nagetiere auf eine bestimmte Tonfolge hypnotisch ansprachen und ihrer Quelle folgten; das Lockinstrument war mit Lautsprechern an seinem Wagen verbunden, und so gelang es, sämtliche Ratten auf die Ladefläche zu treiben und aus der Stadt zu führen, in ein weit entferntes Forschungszentrum, wo ihr Verhalten weiter untersucht wurde.

Als der Fremde zurück in die Stadt kehrte, um sich seine Belohnung abzuholen, schlug ihm jedoch nur Ignoranz und Ablehnung entgegen. Dass er die Bewohner und ihre Kinder vor einer Epidemie bewahrt hatte, schien kein Mensch mehr zu glauben. Auch an eine versprochene Belohnung wollte sich niemand mehr erinnern, und diese technischen Spielereien des Fremden wolle man hier nicht noch mal sehen. Nach Meinung der Bewohner wäre die Plage von ganz allein weggegangen, da sie lange und fest genug dafür gebetet hatten.

Der Fremde war entsetzt; die Leugnung aller Tatsachen, die kollektive Lüge, der fehlende Dank, das alles erschauderte ihn. Und in dem Moment verstand er, dass die Stadt verloren war. Wer in so einem Klima aufwuchs, hatte keine Aussicht, keine Chance auf ein gesundes, aufgeklärtes Leben. Er dachte an die armen Kinder, ihre Zukunft, er war besorgt. Und er beschloss, zumindest sie zu retten, vor den eigenen Eltern, denen nicht mehr zu helfen war.

Wochen später, als die Bewohner in der Vorbereitung für das alljährliche Fest steckten und sich niemand um die Kinder kümmerte, kam der Fremder wieder und versprach den Kleinen, sie von hier fortzuschaffen. Heimlich brachte er so viele von ihnen wie möglich auf die Ladefläche seines Wagens und fuhr sie aus der Stadt, brachte sie in eine sichere, weit entfernte Einrichtung, wo man sich liebevoll um sie kümmerte, und nach und nach ans Licht kam, was in der Stadt zu lange verborgen blieb.

Der Fremde war danach nicht mehr gesehen. Es heißt, er litt unter dem Wissen, dass er nicht alle retten konnte; denn ein paar Kinder blieben in der Stadt zurück; sie waren bereits blind und taub für jede Hilfe, und unvermeidlich würden sie das Verhalten ihrer Eltern übernehmen, würden es den eigenen Kindern weitergeben, und auf ewig würde die Stadt kaputt und verlogen und skeptisch gegenüber allem Fremden bleiben.

Samstag, 23. März 2024

Über die Beschwerde

Eine der größten Errungenschaften der Demokratie ist die Möglichkeit der Beschwerde; persönlichen Unmut öffentlich kundtun zu dürfen, darauf hinzuweisen, dass etwas ganz gewaltig stinkt, dass dieses Land, dieser Laden in die falsche Richtung rennt, ohne deshalb mit Knast und  Knochenbrüchen rechnen zu müssen, das ist keine gegebene Selbstverständlichkeit, im Gegenteil: es ist noch eine relativ junge Idee der Menschheit, die persönliche Beschwerde zuzulassen, sie zu begrüßen. Ich hatte immer die Vermutung, wo sich die Leute besonders laut beschweren, da geht es ihnen im Grunde ziemlich gut; denn wem es wirklich schlecht geht, dem fehlt die Kraft (und die Stimme) zur Beschwerde. 

Heute ist Donnerstag, der Frühling hat begonnen und die neuen Ausstellungen sprießen in der Stadt. Im Fürstenschloss bewache ich seit einigen Wochen eine barocke Sonderschau, die einem Fürsten, Mäzen und Bauherrn gewidmet ist, einem Herkules der Künste, wie ihn das Plakat bescheiden nennt, ein feinsinniger Sammler und mithin das schönste Doppelkinn des ausgehenden 17. Jahrhunderts (so prachtvoll, er ließ es auf einer Goldmünze verewigen). In sieben Räumen hängen unzählige Gemäldeschätze in allen Größen, dazwischen Herrschaftsbronzen und Sagenskulpturen, gewaltige Büchervitrinen und fernöstliche Porzellanmotive, und über allem wacht der Geist des Halbgottes, der eine ganze Raumdecke schmückt.

Das unerhört Besondere daran ist, diese Kunstschau darf bei freiem Eintritt bestaunt werden; ein Novum, fast ein Sakrileg in der heimischen, aktuellen Museumslandschaft, die seit dem erklärten Ende der Pandemie wieder Rekordzahlen mit Rekordpreisen schreibt. Doch hier, in dieser sechswöchigen Sonderausstellung gibt es Rubens und van Dyck für lau, für alle und jeden; es gilt bloß das übliche Jacken- und Rucksackgebot, die Abgabepflicht, die niemanden überraschen kann, und es dennoch immer wieder tut. Was unvermeidlich dazu führt, dass irgendwann irgendjemand den ersten Stein nach uns wirft: in einem Monat gab es zwei schriftliche Beschwerden über uns Aufsichten, weil wir getan haben, was mit Nachdruck von uns verlangt wurde – die Hausordnung durchzusetzen. Keine Überraschung, kein schlechter Wert, und doch ist etwas verblüffend an der Sache.

Als Museumsaufsicht bist du sehr nah dran an der Gereiztheit der Gesellschaft, du lernst, mit Ignoranz und Respektlosigkeit umzugehen, du bist die erste Anlaufstelle für aufgestaute schlechte Laune, du reagierst gelassen auf den Dampf, der dir entgegenkommt, weil es dein Job ist. Und du erkennst: Manche Menschen haben ein Talent dafür, sich ungerecht behandelt zu fühlen, sie finden einen Weg, ein generelles Verbot auf sich persönlich zu beziehen, und sie haben genug Kraft, sich darüber lautstark zu beschweren. Doch es gibt einen Punkt, an dem sich selbst die Beschwerde erschöpft; wie ich später erfuhr, handelte es sich bei einer dieser schriftlichen „Beschwerden“ bloß um einen Kommentar auf den verhetzten Sozialwerken, der nicht nur meine Museumskolleginnen, sondern das gesamte Ausstellungsteam beleidigte, es persönlich angriff, überempört und unter der Gürtellinie, wie im Netz gewöhnlich, doch verblüffend, ja, unbegreifbar für mich war die Reaktion des Hauses darauf: anstatt die Suada zu ignorieren, die eigenen Leute eventuell zu verteidigen, den gewählten Ton anzuprangern, wurde die hemmungslose Palaisbeschimpfung mit einer kleinlauten Entschuldigung belohnt: Tut uns Leid, wenn Sie eine schlechte Erfahrung bei uns gemacht haben. Beleidigen Sie uns bitte bald wieder.

Der letzte Satz wurde so nicht geschrieben, klar. Aber es läuft genau darauf hinaus: wenn der derbe, raue, unumwunden übertriebene Ton, der sich speziell im Internet entlädt, aufgrund von offensichtlichen Imageängsten als vollkommen normal gehandhabt wird, ermutigt das nur mehr und mehr Überreizte zur verbalen Entgleisung – weil auf sie eingegangen, weil ihnen recht gegeben wird. Weil kein Museum, kein Restaurant, keine Ordination sich durchringt zu sagen: So nicht.

Dieses unterschwellige Gefühl, dass sich der Ton an jeder Ecke verschärft, es zeigt mir wieder nur den wachsenden Schatten der Errungenschaft, die so simple und gefährliche Erkenntnis: Wenn die Grenze zwischen Beschwerde und Beschimpfung nicht klar gezogen wird, verschwindet sie.