Mittwoch, 24. September 2025

Den Traum streicheln

Es ist Freitagabend, ich flaniere durch die belebten Straßen, als ich an einer Galerie vorbeikomme; ich will nicht stehen bleiben, doch etwas zwingt mich dazu. Im Schaufenster steht eine Leinwand, die mich völlig unvorbereitet in seinen Bann zieht, auf einmal wieder Kind, an der Hand der Mutter spätabends die Einkaufsstraße hoch, an jedem Schaufenster stehen bleiben und sich vorstellen, was man alles haben könnte; es war nicht einfach nur ein Bummeln, damals, es war die Entdeckung Amerikas, hinter jeder Scheibe. 

Heute stehe ich vor so einer Entdeckung, ein Bild, das mich erst im zweiten, im dritten Moment berührt, doch dafür richtig. Von der Künstlerin, Joanna Jesse, habe ich noch nie gehört, doch dieses Bild (das einzige von ihr, das im Schaufenster hängt) trifft mich so, als kannten wir einander ewig, als hätte sie es nur für mich gemalt. Der Titel ist schlicht, Junge mit Katze, er sagt, was das Werk darstellt, doch nur auf den ersten Blick: Das Leinwandmotiv zeigt einen Jungen im blassroten Hemd, er steht rechts im Bild und führt den Arm zu den zwei Kätzchen (ein schwarzes, ein geschecktes), die übereinander liegen. Es scheint, dass der Junge die größere schwarze Katze mit dem Handrücken streichelt (streicheln möchte), während von der anderen Seite, aus dem linken unteren Rand eine zweite Hand ins Bild ragt – eine anonyme Hand, eine unklare Geste, die womöglich ebenfalls nur die Katze streicheln will. Doch vielleicht, und das ist durchaus denkbar, will sie stattdessen den Jungen auf Distanz halten, ihn von den Katzen fernhalten. Nur warum?

Etwas stimmt nicht mit der jugendlichen Unschuld in diesem Bild, es kann keine friedliche Kindheitserinnerung sein, sieht man nur ein wenig länger hin, wird es sehr deutlich: der Junge kann die Katzen niemals streicheln. Die Ohren des kleineren Kätzchens, das auf der schwarzen Katze liegt, sind von einem Rahmen abgeschnitten, der quer durch das Bild ragt; er zerschneidet das Motiv, die Idylle auf den ersten Blick, denn die Katzen sind zum Greifen nah und doch unfassbar. Der Rahmen, der sie abschneidet, könnte zu einem Fenster gehören, und die Katzen hinter der Scheibe von dem Jungen trennen. Doch wahrscheinlicher ist es (zumindest wirkt es auf mich so), dass es sich um einen Gemälderahmen handelt, dass die beiden Katzen, die so lebendig scheinen, nur ein gemaltes Bild im Bild sind. Ein Sehnsuchtsbild, das der Junge in Hellrot unbedingt berühren möchte. Und mich damit unheimlich berührt.

Es ist die traurigste Berührung, die ich in langer, langer Zeit entdeckt habe, ein unbekanntes, meisterhaftes Werk, in seiner Ausführung irgendwo zwischen Maria Lassnig und Xenia Hausner, doch der Inhalt ist realistischer, subtiler, die größere Emotion kommt direkt aus dem Leben, zeigt die sanfte Geste eines Jungen, der nicht haben kann, was er berühren will. Durch den zerschneidenden Rahmen im Bild werden die gemalten Tiere zu Schrödingers Katzen, sie sind da und gleichzeitig abwesend, eine unauflösbare Situation. Die Frage ist: Weiß der Junge, dass er nur ein Bild von zwei übereinander liegenden Katzen sieht – oder ist er (wie ich) so gebannt von dem Bild, dass er die Gesetze der Welt vergisst und wirklich daran glaubt, die Katzen streicheln zu können?

Angeblich haben Rembrandts beste Schüler ihm öfter einen Streich gespielt, indem sie auf den Boden seiner Werkstätte eine Münze gemalt haben, die so echt aussah, dass sich der alte Meister nach ihr bückte. Es ist eine schöne Anekdote, die vermutlich nicht stimmt (obwohl der Gedanke, dass Rembrandt mehr als einmal auf die Münze reinfiel, fast zu gut ist, um erfunden zu sein), in jedem Fall erzählt sie auf entwaffnende Weise von der überwältigenden Illusion, die Kunst bewirken kann; für eine gewisse Zeit, vielleicht nur eine Sekunde, scheint sie echter als die Wirklichkeit, berührt sie tiefer als das Weltgeschehen.

Der Junge mit Katze ist in Wahrheit ein Junge ohne Katze, der so naiv und eingenommen von einem Katzenbild ist, dass er nicht anders kann, als es streicheln zu wollen – was die zweite, anonyme Hand zu verhindern sucht. Und vielleicht ist es gerade diese zweite Geste, die mich mit dem Jungen so stark mitfühlen lässt: die unvermeidliche Erwachsenengeste, die den Traum des Kindes unterdrückt, in seine Wünsche eingreift, die Illusion zerstört. In diesem Bild aber, in dem Moment der Darstellung, ist sie noch nicht verloren, und auf ewige Zeit wird der Junge die offene Hand reichen, um den Traum zu streicheln.

Eines Tages, stelle ich mir vor (wünsche ich mir), würde ich dieses Kunstwerk, diese unwahrscheinliche Entdeckung von Joanna Jesse in einem Museum wiedersehen. Doch ich wäre keine Aufsicht mehr an diesem Tag; ich wäre der Junge im Bild.