Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit, dieses ewige Motto steht in goldenen Lettern über dem Haupteingang der Secession, und eigentlich ist damit alles gesagt, es braucht nicht mehr, nur diese kurzen Zeilen, um jedes noch so schlechte oder verwegene Werk zu rechtfertigen. Und wo die Zeiten düster sind, da ist es auch ihre Kunst – zumindest muss ich das glauben, wenn ich mich wieder einmal dorthin begebe, auf die dunkelste Position, ins finstere Mittelalter.
In der zweistöckigen Touristenfalle meiner Stadt zieht sich die Kunst wie eine Zeitreise durch das Gebäude, doch während die Gäste jederzeit in den Glanz des Jugendstils und den Trotz der Avantgarde hinaufsteigen dürfen, bleibt eine Person immer zurück; eine Aufsicht muss sich erbarmen, sich opfern, den ganzen Tag im Erdgeschoss zu verbringen, zwischen Kreuzgang und Buße, Bibel und Beuschel, in den endlos schweren Bilderwelten mittelalterlicher Passionsspiele. Neun Stunden in dieser finsteren Abteilung, ohne Tageslicht und ironische Brüche, das hinterlässt Spuren; ja, es verfinstert das Gemüt, ganze Tage diesen Bildern ausgeliefert zu sein, die eine qualvolle, endlose Kreuzigung festhalten, um Jesu Leid für dich erfahrbar zu machen.
Niemand geht in heller Laune aus diesen Bildern, die Schwere der Ikonen, die geballten Grausamkeiten ihrer Zeit ziehen dich hinab in deine dunkelsten Momente, du wirst bleiern und alt, je länger du sie betrachtest, weil es in den Werken der Mittelalterkunst keine Jugend gibt – selbst die Madonnenbabys, die Heilandkinder, der frisch geborene Messias, alle Kindchen dieser Zeit tragen immer schon die Gesichter alter Herren. Die düstere Kunst des Dark Age, sie hat sich voll und ganz darauf spezialisiert, jede Hoffnung fahren zu lassen – denn wo es keine Jugend gibt, kann es auch keine Hoffnung geben – und jeder Gang durch diesen trostlosen Fetisch scheint dir sagen zu wollen: Alles was geboren wurde, liegt bereits im Sterben.
Die schlecht beleuchteten Wandtexte erklären mir, all das schmerzverzerrte, leidliche Pathos sei ganz bewusst so inszeniert, damit wir uns, damals wie heute, in den geopferten Gottessohn hineinversetzen können, doch was ich vor allem sehe, wenn ich einen ganzen Tag in diesen Räumen zubringe, das ist Angst; eine allgemeine, kollektive Angst, die in allen Holzfiguren und Altarbildern forciert wird, um sie ganz bewusst zu kontrollieren und auszunutzen. Das ist der perfide, gordische Knoten, den die Kirche des Mittelalters ganz bewusst geknüpft hat: Sie verspricht Erlösung von dem Leid, das sie selbst aufrechterhält.
Dass es auch anders geht, zeigt eine einsame, unscheinbare Holzstatuette direkt am Eingang zum Mittelalter: Dieser unförmige Christus, der hier ans Kreuz geschnitzt wurde, ist älter als alle anderen Kunstwerke im Haus, und doch wirkt er frischer und moderner als all die späteren, untröstlich Gekreuzigten; eher ein lustiger Gallier denn ein gemarterter Märtyrer, als hätte ihm die naive Vorschulskizze eines späteren Comiczeichners die Vorlage gereicht, steht er mit beiden Plattfüßen gelassen am Kreuztritt, stoisch lächelnd wie ein Kind, das die Absurdität der Welt noch ohne Einwände akzeptiert.
Da war nur ein Problem: Das fröhliche Opfer zeigte beim Betrachten offenbar keine Wirkung. Niemand hatte Angst vor diesem Gottessohn, diesem aufgefahrenen Lächler, grob geschnitzten Zimmermann, der ein jugendliches Gefühl von Aufbruch und Hoffnung vermittelte, trotz allem. Und deshalb wurde diese naive, lebensfrohe Darstellung vom Klerus schnell wieder gekippt und durch die altbekannten, schmerzverzerrten, ewig blutgetränkten Bilder ersetzt. Die dunkle, höllische Schwere, die beim Betrachten schon alt macht, sie hat nichts mit Einfühlung zu tun, ist bloßes Kalkül; weil Angst und Verzweiflung einfach besser zahlen als Freude und Hoffnung.
Auch die Erkenntnis scheint niemals jung gewesen zu sein.