Montag, 18. Juli 2016

Arbeitsbefund

Ich bekam den Befund vor einigen Monaten, ohne Erklärung oder Entschuldigung. Es ist ein Geschwür (nun weiß ich es), und es wächst mit jedem neuen Morgen, wird schwerer, hässlicher und offensichtlicher; es zeichnet, es brandmarkt mich, es brennt mir auf der Stirn, beim Aufwachen, Liegenbleiben, Aufstehen, Gähnen, Anziehen, Durchsuchen, Bewerben, Zögern, Telefonieren, Kauen, Hadern, Abwarten, Hinlegen, Nichteinschlafenkönnen. Das Geschwür durchdrängt mein billig geflicktes Nervenkostüm, es lähmt meine Gedanken, Versuche und Stunden.

In dieser seltsamen Starre erklärt es mich zu einem gesellschaftlichen Ausreißer, einem, der nicht dazugehört zu seiner umgebenden Welt der Vollversicherten und Dienstzeithabenden. Ich kann dieser erwachsenen Welt nicht angehören, muss aber dennoch in ihr leben, weil mich die Geschwürstarre nicht ziehen lässt, weg, in ein freundlicheres Außerhalb, in die einzige Welt, in der ich mich sehen kann, in das verträumte Dasein zwischen zwei Buchdeckeln. Doch ich kann nicht recht schreiben, nicht fabulieren, solange in meinem Kopf die Stimme drängt, ich müsse mir einen Job suchen, müsse noch eine Bewerbung abschicken, müsse noch einmal die Stellenseiten überfliegen und alles erneut und wieder und erneut nicht einschlafen können. Und dazwischen immer wieder diese Absagen.

Als Ausreißer meines Umfeldes bin ich ein Zwischenwesen in jeder Hinsicht: Kann ich nicht schlafen, bin ich nie wirklich wach, darf ich nicht arbeiten, habe ich nie wirklich frei, muss ich nicht aus dem Haus gehen, komme ich nie irgendwo an. Arbeitslosigkeit macht krank, ernsthaft krank, weil sie mich aus dem, wofür die gesunde Norm steht, herausreißt, und ich wie der unansehnliche Dorfkrüppel zur Seite gedrängt neben der Gesellschaft humpeln muss. Es ist immer präsent, das Rufen der Stimme, das Krankheitsbild, das permanente Hinweisen auf den Befund, mit dem meine engen vier Wände tapeziert sind. Ich kann mir nicht freinehmen von der Berufssuche. Ich kann keinen Urlaub beantragen von einem Geschwür.

Die Suche nach Arbeit ist ein oft frustrierendes, mitunter endlos scheinendes Unterfangen, als wollte jemand den absurden Versuch starten, das Internet abzuschreiben; eine Aufgabe ohne Anfang und Ende. Besonders erschwerend kommt hinzu, alle Zeit der Welt für die Suche zu haben. Zu viel Zeit ist genauso schlimm wie zu wenig Zeit zu haben, oft sogar schlimmer. Ein maßloses Kontingent an Zeit überfordert, brennt und schadet, so wie alle Dinge ohne Maß.

Nie wieder möchte ich krank sein und das Geschwür vor mir hertragen, nie wieder mir das genussvolle Lesen verbieten, aus purer Angst, ein gutes Gefühl davon erhalten zu können, dass ich mir als Patient nicht leisten darf, weil ich selbst nichts geleistet habe.

Ich möchte endlich aufhören, Patient zu sein.