Montag, 4. Juli 2016

Gewöhnlicher Freitag

Ich wohne in einer ausgezeichneten Stadt – wiederholt wurde sie zur attraktivsten Metropole des Erdballs gekürt. Ihre Straßen sind sauber, ihre Mülleimer zahlreich. Das warme Licht der Frühjahrssonne färbt sie jedes Jahr grün, sogar ihre Radwege. Sie ist hell, aber nicht bleich, malerisch, aber nicht schwulstig. Ihre Penner, Süchtler, Huren und Tschickstummel sind schon lange aus ihrer Öffentlichkeit retuschiert. Manchmal, wenn ich ihr Zentrum ohne Ziel durchstreife, da trifft mich ihre reine Schönheit so sehr, dass ich glauben muss, mich in einer allumfassenden Postkarte zu bewegen. Ich gehe nicht durch eine Stadt, sondern durch ihr makellos festgehaltenes Ideal, und ganz gleich, welche Richtung ich einschlage und wohin ich auch blicke, ihre Proportionen sind golden geschnitten, ihre Farben erlesen, ihre Kontraste kunstsinnig. 

Auf dem sonnigen Platz vor meiner Wohnung, da erhält die Stadt ein weiteres, schmuckes Café. Am Tag der Eröffnung spaziere ich daran vorbei und blicke in die Gesichter ihrer zahlreichen Premierengäste. Glückliche Frauen und Männer in meinem Alter sitzen mit übereinander geschlagenen Beinen an gemeinschaftlichen Tischen, niemand sitzt allein, jeder kann sich die Getränke leisten. Sie haben Sonnenbrillen, sie haben Freizeit, sie haben Freunde. Sie trinken, lachen, rauchen mit Stil. Ein paar haben die Schuhe ausgezogen. Alle sind schön. Ich muss mich zwingen, sie nicht allzu offensichtlich anzustarren, weil ihre absurde Ausstrahlung auf mich einnehmend und allzu süchtig machend wirkt. Verzögert gehe ich weiter, ohne dabei von ihnen zu lassen, spaziere eine Runde um das Café, nur um ein weiteres Mal an den Vollkommenen vorbeigehen zu dürfen und ein paar weitere Blicke auf die lebendigen Meisterwerke zu erhaschen. Es ist, als wären alle schönen Menschen an diesem Tag gleichzeitig vor die Tür gegangen, um sich alle gleichzeitig in dieses eine Café zu setzen; doch es ist kein besonderer Tag. Es ist nur ein vollkommen gewöhnlicher Freitag in der Stadt.

An solchen Tagen fällt es mir besonders schwer, sie zu erdulden. Die Schönheit ihrer vielen jungen perfekten Menschenkörper, ihrer gepflegten Frisuren und bewussten Modeentscheidungen, sie verstört mich und schüchtert mich ein, wie das fremde Kind, das in die neue Klasse kommt, in der alle Mitschüler schon etwas weiter sind. Sie ist nicht aufzuholen, diese Schönheit, sie ist zu viel, zu intensiv, und ganz egal, wohin ich blicke, ich sehe ihr vor Glück erhitztes Lachen, ihre vitalen, nackten Beine, ihre unglaubwürdige Taille, ihren warmen Augenaufschlag, ihr unbekümmertes Spiel mit der losgelösten Strähne. Und alles davon so unerträglich natürlich und vollkommen, so viel ergreifender als der Adobe-Glamourglitzer und die fade Instagastro, so unendlich und pervers schön, dass meine Blicke sich nie daran stillen können; es ist mir schlicht unmöglich, mich an ihren Bildern satt zu sehen. Wieder einmal muss ich hungrig zu Bett.