Mittwoch, 31. Mai 2017

Lawrence von Antwerpen

Nein, auch ich habe zuvor noch nie etwas von Lawrence Alma-Tadema gehört, jenem holländischen Maler mit dem seltsam staatenlosen Namen, dessen Werke neuerdings die Ausstellungswände meines Arbeitsziels schmücken. Werke, die sich – ähnlich wie die großen Albernheiten eines Franz von Stuck – mit der dekadenten Antike beschäftigen, doch auf ernsthaftere, fast mathematisch strenge Art und Weise. In geometrischer Perfektion und penibler Recherche rekonstruiert Alma-Tadema alltägliche Szenentableaus der alten Römer und, später, der Ägypter, holt die Historie aus ihrer Vergessenheit und schafft ihr die Bilder, die der amerikanische Kostümschinken Jahrzehnte später ins bewegte Breitbild verlagern wird.

Ungebrochen sei der Einfluss Alma-Tademas auf Film- und Kulturgeschichte, will mir die Ausstellung klarmachen, und betont diesen Umstand in allen Räumen und bei jeder Gelegenheit. Warum aber ist dieser malende Lawrence von Antwerpen selbst so sehr in Vergessenheit geraten, weshalb sind seine dokumentarisch anmutenden Gemälde heute nur Phantombilder des Kunstkanons? Ja, mir ging es ganz gleich, erwidere ich, als mir ein deutsches Besucherpärchen erklärt, sie hätten noch nie von dem Herren Maler gehört, bevor ihnen die Ausstellung kürzlich empfohlen wurde; ein Glücksfall, eine Entdeckung. Aber worin besteht sie?

Der Teufel liegt im Detail. Es ist die detaillierte Formvollendung seiner Bildmotive, die Alma-Tadema vor hundertfünfzig Jahren zum Star in England erhob und zum Sir adelte, es ist die detaillierte Formvollendung, die ihn heute uninteressant und antiquiert erscheinen lässt. Denn bei aller peniblen Genauigkeit, mit der römische Bäder und antike Jahrmärkte kunstvoll vermessen werden, da fehlt den meisten seiner Bildern jenes Element, das Hollywood so melodramatisch hinzufügte – die Emotion. Wunderschön, detailliert, sagenhaft, das alles, ja – aber berührend? Ein Römer am Blumenstand, Kleopatra vor den Pyramiden, so könnte es gewesen sein, wie ein Statiker errechnet Sir Lawrence die antike Architektur; doch statisch bleibt sie auch, in all ihren Details, bis hin zur zufallslosen Hieroglyphe am Mauerwerk und der kenntnisreichen Flora im Hintergrund. Die Vergangenheit ist da, doch sie wird nicht lebendig.

Ich weiß nicht warum, doch Perfektion erscheint mir immer leblos; als würde sie keine Gefühle dulden, keine unberechenbare Menschenhaltung erlauben. Deshalb wirken die Menschen in Alma-Tademas perfektionistischen Bildern vielmehr wie Schachfiguren, die jemand starr und lieblos positioniert hat, nur um zu gewinnen, dort, am Schachbrett, wo es keinen Spielraum für Emotionen gibt. Vielleicht ging es Alma-Tadema auch nie um Gefühlsregungen, vielleicht ging es ihm nur um den Sieg der eiskalten Komposition. Vielleicht genügte ihm die reine Oberfläche. 

Was dagegen spricht, ist ein düsteres Bild im vorletzten Raum der Ausstellung, ein winziges Detail, das kaum auffällt, das überhaupt nur im richtigen Lichtfall erkennbar wird. In „Der Tod des Erstgeborenen“ trauert der Pharao im warmen Katakombenlicht um den leblosen Sohn in seinen Armen, während am rechten Bildrand ein verhüllter Moses im kalten Schatten lauert. Der Fokus liegt hier auf dem Gesicht des Pharao, das starr nach vorne blickt; doch im Gegensatz zum restlichen, umgebenden Figurengut ist dieser Pharao verletzlich und ambivalent. Menschelnd. Denn die starren Augen in seinem Gesicht, sie sind glasig. In dem trauernden Blick, da machen sich tatsächlich Tränen breit, so dezent und versteckt, dass ich sehe, wie der Pharao gegen das glasige Detail ankämpft.

In diesem Detail liegt all die Trauer, mit der Alma-Tadema ein halbes Leben selbst zu kämpfen hatte: Sein eigener Sohn starb bereits nach wenigen Monaten; es war sein erstes Kind. Und es ist diese reale Trauer des Künstlers, die sich im Auge des Pharao widerspiegelt. Während die anderen Gemälde nur anonyme Antikebewohner zeigen, sehe ich im Pharao seinen persönlichen Schöpfer. Deshalb ist der Pharao lebendig, deshalb steckt in seiner Darstellung ein Schicksal: Sir Lawrence kannte nicht das Leben am Römischen Theater, er kannte nicht den Luxus der Kleopatra – doch er kannte den Schmerz über den Tod des Erstgeborenen.

Das ist der kleine, glasige Unterschied, das eine Detail, das die Ausstellung so traurig wie menschlich macht. Eine Entdeckung.