Nach langen Monaten in immer gleichen, immer neuen
Ausstellungsräumen, bin ich wieder einmal im Palais des Fürsten, an einem
frühlingshaften, unentschlossenen Nachmittag, inmitten von bestens gekleideten
Doktoren und Doktorinnen besten Alters. Heute dienen die Palaismauern als Kittel
eines Kongresses, zu dem wichtige akademische Menschen aus In- und Ausland
geladen wurden, aufgefordert, zu diskutieren und zu speisen; und nebenbei die Räumlichkeiten zu bestaunen.
Da stehe ich, in der schönsten Bibliothek des Landes, der
geistigen Schatzkammer des Palais’, die nur für kurze Zeit und nur zu
Sonderanlässen ihre Türen öffnet. Wie heute. Ich stehe im ersten Abschnitt der Schatzkammer,
deren bernsteinfarbene, marmorhafte Wände fast vollständig mit Bücherschränken
verhüllt sind, vom Deckenleuchter in warme Goldschimmer getaucht. Zwischen losen, hölzernen Büsten auf hohen Marmorsockeln stehe ich am
Parkett und atme den Geruch von zahllosen gebundenen Werken aus fünf
Jahrhunderten, die von der Fürstenfamilie ersammelt und erkauft wurden, und
hier, in den verträumten Bibliotheksgemäuern einen nostalgisch klaren Geruch
von Geheimnis versprühen, ein unfassbar schönes Rätsel, das sich bereits in der Anordnung
offenbart: wurden die Werke hier schließlich nicht nach Inhalt oder Namen, sondern rein nach
Farbe sortiert. So strahlt der Bücherschrank zu meiner Rechten in einheitlichem Rubinrot, der Schrank gegenüber in Smaragdgrün. Und dazwischen stehe ich, auf dem makellosen Parkettmuster, da, wo die Ästhetik über jeder Kategorie steht.
Für eine Stunde sind die Türen offen, dürfen sich die teuren
Gäste die unschätzbare Sammlung ansehen, freilich nur mit den Augen, dürfen die als Bücherwand getarnte Tür zum Hinterausgang bestaunen und die
schrumpelige, kleine Kunstvermittlerin mit Fragen überhäufen, während ich
weiter zwischen ihnen und den Jahrhunderten stehe und darauf achte, keine
Fotografien oder Berührungen zuzulassen. Einmal stößt eine Dame mit ihrer
Schulter gegen eine der Büsten und bringt diese beinah zu Sturz. Ich halte die
Luft an. Die Dame lacht und geht weiter.
Schnell ist die Stunde vorüber, der Kongress bittet zur
nächsten Podiumsdiskussion im ersten Stock, ich bitte die Leute zur Tür. Und dann erscheint der Riese. Ein extrem hoch gewachsener, sehr schmaler Herr in Frack schwebt
plötzlich durch die goldene Bibliothek, wie eine Traumgestalt aus Twin Peaks, er nimmt mir die Arbeit ab und wedelt die
Gäste mit einem winzigen Silberglöckchen zum nächsten Programmpunkt. Endlich
leert sich der Büchertresor, sämtliche Gäste sind zufrieden weiter gezogen, ich
blicke dem letzten noch einmal nach, wütend bis ängstlich, als ich sehe, wie
knapp er die Büste mit seiner Schulter verfehlt. Respekt, denke ich, so viele Probleme entstehen aus Mangel an
Respekt; da spüre ich drei Menschen um mich. Neben mir stehen
die Kunstvermittlerin, der Kollege von der Sicherheitszentrale, der gerade
zusperren möchte – und der Riese im Frack. Zu viert stehen wir da, in der Schatzkammer des
Fürsten, lächeln stumm einander zu. Eine Sekunde stummes Warten. Dann
blickt die kleine Kunstvermittlerin an dem Riesen hoch, und es entsteht folgender Dialog zwischen ihnen:
„Wie groß sind Sie?“
„Zwei Meter vier.“
„Und Ihre Frau?“
„Die ist tot.“
Hier stehe ich im
goldenen Gedächtnisspeicher, höre diese monoton
gesprochenen, letzten Worte des Riesen, das Lachen steckt mir tief im Hals, und zum ersten Mal verstehe ich sie, diese banale, treffende Phrase: Es herrscht betretene Stille.