Der Sommer verstört mich. Dienste variieren wie das Wetter,
Pläne und Objekte schlagen um, verdunkeln, verziehen sich wieder. An einem
Freitag darf ich wieder einmal im Glashaus für moderne Kunst aushelfen und mir Erwin Wurms Performative Skulpturen ansehen. Großteils allein,
denn die Sommertouristen und Kunstaffinen strömen lieber durch
klassizistische Gemäldegalerien im Barockbau ums Eck, anstatt für den Blick auf
kühlschrankgroße Gipsblöcke zu bezahlen; dicht angeordnete, überdimensionale Alltagsgegenstände und
Möbel, die vom Künstler im performativen Prozess höchstselbst zerkratzt,
getreten, erdrückt und überfahren wurden, mit viel Hingabe und Sitzfleisch, und – vor allem
– mit Konzept.
Aus Tag wird langsam Abend, der Besuch bleibt weiter aus. Der
Kollege am Ticket ist unterfordert und überdreht, stellt sich zu mir in die
Halle und erzählt geradeaus von dem Schock der Eröffnung – ein Schmankerl des
Herrn Wurm war es gewesen, einige wurstförmige Gipsblöcke exklusiv für die
Ausstellung zu schaffen, und, noch in rohem Zustand, vor dem Premierenpublikum
zu demolieren. Und dann stand da diese Dame, eine kunstbeflissene, äußerst
interessierte Person, die den Kollegen in ein Gespräch verwickelt, ein äußerst
interessierter Dialog neben der rohen Gipswurst. Eine halbe Stunde reden sie
miteinander, sagt der Kollege, wunderbar erfreulich, und dann, plötzlich, aus dem Nichts,
dreht sich die Dame zum frischen, sechsstellig geschätzten Kunstobjekt hin und taucht einen Zeigefinger ansatzlos in die weiche Masse.
Und so passiert es immer.
Das Kind, das der Mutter entwischt und das Ölbild
anfasst. Der erwachsene Herr, der im Vorbeigehen die Hand ausfährt und die
Skulptur streichelt. Die andere Mutter, die ihre Töchter am Fuß des Bronzeblocks aufstellt, um sie damit abzulichten. Der andere Erwachsene,
der für ein Foto zwei Schritte rückwärts macht und dabei gegen die lose Statue stößt, die beinah zu Bruch geht.
Sie alle berühren das Unantastbare, ihre Berührungen sind
grundlose Angriffe auf ein Werk, das nicht ohne Grund überdauert. Sie greifen
die Kunst bedenkenlos an, machen sie fassbar wie einen abgenutzten Haltegriff
in der Bahn, weil sie nicht wissen, was sie tun. Und falls doch, haben sie keine
Vorstellung, was sie damit auslösen.
Die Dame mit dem Fingerabdruck in der teuren Gipswurst wurde auf der Stelle kreidebleich, sagt der Kollege, als er ihre Daten aufnahm, den Vorfall meldete und wartete, bis der Kunstexperte hinzukam, um den Schaden abzuschätzen. Später sollte er meinen Kollegen fragen, ob dieser die Tat nicht verhindern hätte können. Was für eine Frage. Wir Aufsichten können nie etwas verhindern, wir bekommen keine
anonymen Hinweise, wir werden nicht vorbereitet auf die blitzschnellen, akuten
Handlungen der irrationalen Angreifer, die sich bis zur Tat als unauffällige Vernunftwesen
tarnen. Wir müssen zusehen, wie sie ihre Angriffe auf die Kunst ausführen,
können nur beobachten und staunen und nicht glauben und melden und uns fühlen
wie Zuspätgekommene des Lebens, „like a second-comer“, wie es D. H. Lawrence in
seinem traurigen Gedicht über die Schlange im Garten umschreibt; nur stehen wir nicht auf der Wiese,
sondern im Museum, und wir verfolgen kein natürliches Tierverhalten, sondern die
rätselhaften Auswüchse menschlicher Willkür. Oder liegt es eben doch in der Natur
des Menschentieres, etwas wahllos anzugreifen?