Montag, 14. August 2017

Irrationale Angriffe

Der Sommer verstört mich. Dienste variieren wie das Wetter, Pläne und Objekte schlagen um, verdunkeln, verziehen sich wieder. An einem Freitag darf ich wieder einmal im Glashaus für moderne Kunst aushelfen und mir Erwin Wurms Performative Skulpturen ansehen. Großteils allein, denn die Sommertouristen und Kunstaffinen strömen lieber durch klassizistische Gemäldegalerien im Barockbau ums Eck, anstatt für den Blick auf kühlschrankgroße Gipsblöcke zu bezahlen; dicht angeordnete, überdimensionale Alltagsgegenstände und Möbel, die vom Künstler im performativen Prozess höchstselbst zerkratzt, getreten, erdrückt und überfahren wurden, mit viel Hingabe und Sitzfleisch, und – vor allem – mit Konzept.

Aus Tag wird langsam Abend, der Besuch bleibt weiter aus. Der Kollege am Ticket ist unterfordert und überdreht, stellt sich zu mir in die Halle und erzählt geradeaus von dem Schock der Eröffnung – ein Schmankerl des Herrn Wurm war es gewesen, einige wurstförmige Gipsblöcke exklusiv für die Ausstellung zu schaffen, und, noch in rohem Zustand, vor dem Premierenpublikum zu demolieren. Und dann stand da diese Dame, eine kunstbeflissene, äußerst interessierte Person, die den Kollegen in ein Gespräch verwickelt, ein äußerst interessierter Dialog neben der rohen Gipswurst. Eine halbe Stunde reden sie miteinander, sagt der Kollege, wunderbar erfreulich, und dann, plötzlich, aus dem Nichts, dreht sich die Dame zum frischen, sechsstellig geschätzten Kunstobjekt hin und taucht einen Zeigefinger ansatzlos in die weiche Masse.

Und so passiert es immer.

Das Kind, das der Mutter entwischt und das Ölbild anfasst. Der erwachsene Herr, der im Vorbeigehen die Hand ausfährt und die Skulptur streichelt. Die andere Mutter, die ihre Töchter am Fuß des Bronzeblocks aufstellt, um sie damit abzulichten. Der andere Erwachsene, der für ein Foto zwei Schritte rückwärts macht und dabei gegen die lose Statue stößt, die beinah zu Bruch geht.

Sie alle berühren das Unantastbare, ihre Berührungen sind grundlose Angriffe auf ein Werk, das nicht ohne Grund überdauert. Sie greifen die Kunst bedenkenlos an, machen sie fassbar wie einen abgenutzten Haltegriff in der Bahn, weil sie nicht wissen, was sie tun. Und falls doch, haben sie keine Vorstellung, was sie damit auslösen.

Die Dame mit dem Fingerabdruck in der teuren Gipswurst wurde auf der Stelle kreidebleich, sagt der Kollege, als er ihre Daten aufnahm, den Vorfall meldete und wartete, bis der Kunstexperte hinzukam, um den Schaden abzuschätzen. Später sollte er meinen Kollegen fragen, ob dieser die Tat nicht verhindern hätte können. Was für eine Frage. Wir Aufsichten können nie etwas verhindern, wir bekommen keine anonymen Hinweise, wir werden nicht vorbereitet auf die blitzschnellen, akuten Handlungen der irrationalen Angreifer, die sich bis zur Tat als unauffällige Vernunftwesen tarnen. Wir müssen zusehen, wie sie ihre Angriffe auf die Kunst ausführen, können nur beobachten und staunen und nicht glauben und melden und uns fühlen wie Zuspätgekommene des Lebens, „like a second-comer“, wie es D. H. Lawrence in seinem traurigen Gedicht über die Schlange im Garten umschreibt; nur stehen wir nicht auf der Wiese, sondern im Museum, und wir verfolgen kein natürliches Tierverhalten, sondern die rätselhaften Auswüchse menschlicher Willkür. Oder liegt es eben doch in der Natur des Menschentieres, etwas wahllos anzugreifen? 

Irgendwo, da muss er immer noch lauern, dieser instinktive Rest, den die kurzsichtige Kultur nicht finden kann, die letzte Verbindung zum Unüberlegten, zum Angriff, zum Schaden. Und auch bei der nächsten, willkürlichen Berührung werde ich wieder die Nachsicht haben, werde wieder an zweiter Stelle stehen, werde wieder zu spät kommen, weil es eben nicht anders sein kann. Ich bin es immer schon gewesen, ich werde es immer sein: zu spät.