Ich bin am Nachhauseweg eines langen Tages, sitze in der
Straßenbahn, schon seit Jahren ohne Musik. Kopfhörer liegen mir nicht, sie stören und hindern mich daran, die schiefe Mehrstimmigkeit der ungeprobten Welt zu verfolgen, in deren Mitte ich Platz nehmen darf. Sie fährt unbeheizt, die Welt,
und noch während ich sitze, raubt mir die Kälte das Fingerspitzengefühl – ich hetze verzweifelt hinterher, will sie zur Rede stellen, will sie verstehen, doch sie antwortet
nicht, zeigt keine Reue, nicht einmal Einsicht. Sie macht mir Angst, diese
Kälte, schon seit Jahren.
Es sind mir zu viele Stationen heute, die Glieder drängen nach Wärme und Bewegung und ich will, ich muss mich
ablenken, aufwärmen, bereue zum ersten Mal, keine Musik in den Ohren zu haben; und dann erkenne ich ihn. Ich
war mir nicht sofort bewusst, dass er es ist, dass auch er Platz genommen hat
in meiner reglos frierenden Welt. Doch kein Zweifel besteht, als er anfängt, seine Gedanken mit ihr zu teilen.
Er sitzt in der Reihe vor mir, ich schätze ihn sechs, vielleicht sieben, neben ihm sitzt die Mutter und starrt aus dem Fenster oder sonstwohin. Nach langer Stille ergreift er das Wort. „Als Baby“, erklärt der
Philosoph seiner Mutter langsam, „muss man eigentlich nie Angst haben.“ Es
folgt eine angemessene Nachdenkpause, und gleich darauf dürfen meine kalten, offenen,
kopfhörerfreien Ohren daran teilhaben, wie der junge Philosoph seiner These das
Exempel reicht. „Wenn ich zum Beispiel in einem Korallenriff tauche, dann muss
ich dabei immer Angst haben, dass mich eine Qualle sticht. Aber wenn ein Baby
in einem Korallenriff taucht, muss es keine Angst haben. Weil die Mutter es ja vor
den Quallen beschützt.“
Dem hat weder die Mutter, noch die Kälte, noch die
ganze verfrorene Restwelt etwas hinzuzufügen.