Die Anekdote ist bekannt: ein verschmitzter
Künstler (sein Name blieb nicht hängen) schickt ein anonymes Manuskript an
einen renommierten Verlag, wird abgelehnt und stellt damit den Betrieb bloß;
das Manuskript war ein Auszug aus Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Es ist
eine gute Anekdote, eine, die man immer wieder erzählen, mit der man
auftrumpfen kann; sie ist nur völlig falsch. Ihr Inhalt mag stimmen, aber nicht
ihre Pointe: nicht der Betrieb stellt sich bloß, sondern nur der Künstler.
Niemanden kann es interessieren, wenn die
Kunst ihre Vorläufer kopiert. Ein Zögling, der pausenlos den Lehrer zitiert,
sagt nie etwas Eigenes. Er sagt, was wir schon wissen, er überrascht nicht, und
was nicht überrascht, ist keine Kunst. Zu glauben, als Unbekannter Musil
kopieren zu können und abgeschmettert zu werden, erzähle irgendetwas über den Betrieb, das bedeutet, nichts verstanden und Musil nicht gelesen
zu haben (also: nicht genau gelesen). Niemand würde heute verlegt werden, würde er oder sie heute genauso wie Robert Musil schreiben. Was einfach daran liegt, dass es Musil
schon gibt.
Umberto Eco, der größte Leser
nach Borges, hat das am schönsten hervorgekehrt – in einem späten Vortrag über
das Verhältnis von den alten Riesen und den Zwergen, die auf ihren Schultern
sitzen, dabei weiter sehen. Dieses märchenreiche Bild der Generationen geht
zurück auf einen französischen Platoniker des zwölften Jahrhunderts, Bernhard
von Chartres, ein Mann des Mittelalters, Freund der Sprache, der seinen
Schülern vorwarf, „dass sie die antiken Autoren sklavisch kopierten, und sagte,
die Herausforderung sei nicht, genauso zu schreiben wie sie, sondern von ihnen
zu lernen, wie man genauso gut
schreibt wie sie, damit die nach uns Kommenden sich an uns orientierten, so wie
wir uns an den Vorfahren orientierten.“ Bernhards Bemerkung sei folglich (nicht
weniger als) ein „Appell an die Autonomie und den Mut zur Innovation.“
Man könnte auch Emanzipation sagen, denn
natürlich muss man Robert Musil kennen, um nicht Musil sein zu wollen – aber
genauso gut. Ohne Eltern kann man nicht gegen sie rebellieren. Ohne Vorbilder kann
man sie auch nicht hinter sich lassen. Ohne Homer kein Bloomsday, ohne Antike
kein Jugendstil. Der Sohn muss sich vom
Vater abnabeln, er muss riskieren, verachtet zu werden, weil er sich abnabelt, nicht anders kann. Bernhards Bild der Riesen
und Zwerge (Väter und Söhne), das Eco bis zur Postmoderne dupliziert, fehlt nur
noch dieser kleine, doch entscheidende Hinweis: Die Zwerge auf den Schultern
der Riesen sehen nicht bloß weiter, sie sehen anders.
Rubens’ fleischige Venus wurde einmal als
zellulitische Beleidigung des Auges betrachtet, heute muss ich sie im Palais
vor Fotos schützen. Monets stille Impressionen machten einmal schreiend und
aggressiv, heute zieren sie Kalender und Bettwäsche. Niemand wird als Riese
geboren, und niemand weiß, wie groß er einmal wird. Auch Monet und Rubens und
Musil und alle anderen Riesen waren einmal Zwerge, die bloß anders sahen; ihr
Blick stieß vor den Kopf, und nur deshalb blieben sie im Gedächtnis; nur deshalb
wurden sie genauso gut wie ihre Vorfahren. Weil sie überraschten. Weil sie Verachtung
in Kauf nahmen, anstatt Verjährtes aufzuwärmen.