„Endlich“, sagt mir die blonde, bebrillte, finnische Kollegin
an einem ersten Diensttag im neuen Jahr, „endlich ist es vorbei.“ Die Rede ist
nicht vom letzten Jahr, sondern von der letzten Ausstellung; von Dürer. Die neuen Zwanziger sind noch keine Woche alt und schon fällt der Ballast ab, strahlt die
Kollegin in ehrlicher Erleichterung, endlich, endlich ist es vorbei, das
Gedränge durch diese einzigartige Jahrhundertschau (nach den einzigartigen
Jahrhundertschauen von Raffael, Rubens, Brueghel, …), endlich muss die Kollegin
sich nicht mehr klein machen zwischen Dürers Meisterschaften und den
Touristenscharen, die sie sehen, konsumieren, ablichten, abhaken wollen.
„Zum Ende hin“, sagt die Kollegin, „da war es nicht mehr
auszuhalten. Die Leute, diese vielen Leute, sie sind einfach zu nah gekommen.“
Ich nicke, kenne das, natürlich, die Wut über den fehlenden Respekt, dem fehlenden
Abstand, doch die Rede ist nicht von den Kunstwerken –
sie spricht über sich. Die Leute sind am Ende ihr zu nahe gekommen, sie haben keinen Abstand zu ihr eingehalten, weil die Hallen und Gänge von Körpern überfüllt
wurden, zugestopft mit unbegrenztem Andrang. Ich sehe, sie hat ernsthaft
gelitten unter der bedrängenden Nähe, erdrückt von einer Masse, die den
Museumsgedanken im Raum verdrängt. Hier, im Ausnahmezustand einer
Dürerausstellung, hier geht es nicht mehr darum, die Kunst zu schützen; es
gilt, sich selbst zu schützen.
Und hier beginnt das Museum der Zukunft (oder eher: ein Fragment
davon). Ich stelle mir vor, in Zukunft wird es eigene, zusätzliche Aufsichten
geben, die nur dafür da sind, jene Aufsichten zu beschützen, welche die Kunstwerke
bewachen. „Bitte Abstand halten vom Sicherheitspersonal“, würden sie
sagen, und sie würden freundlich, aber bestimmt dazwischen gehen, wenn die
nächste norditalienische Reisegruppe eine finnische Aufseherin beengte, für die
so viel ungewollter Körperkontakt der Albtraum ist (wie es für Dürer der
Albtraum sein muss, dass seine Kunst nicht mehr im Mittelpunkt steht, sondern
die Raumkapazität). Und all die Aufsichten, die sich um die Kunstwerke
kümmerten, würden einen Transponder an ihren Dienstsakkos tragen, wie die
Kunstwerke selbst, und wenn jemand bei ihnen ankäme, sie wieder anrempelte, würde
ein Alarm auslösen, und die Zusatzaufsichten müssten nachsehen, ob an
der Aufsicht ein Schaden entstanden sei, und sie müssten zur Entwarnung einen Funkspruch an
die Zentrale durchgeben,
und im Falle eines Schadens (körperlich, seelisch) müsste die
Zusatzaufsicht die zusätzliche Oberaufsicht kontaktieren, die wiederum
einen Experten anfordern würde, der sich davon überzeugen müsste, ob
und wie der Schaden an meiner freundlichen, finnischen Kollegin zu behandeln
sei. Und so sähe der Alltag aus.
Doch, natürlich, ich weiß, das Gedankenspiel ist unvollständig, undurchdacht; es muss es sein. Vom Römer Juvenal bis zu Alan Moores Watchmen, die Frage nach dem Wächter der Wächter hat nie ein Ende; denn wenn es eine Zusatzaufsicht gibt, die alle Aufsichten vor den Massen schützt – wer beschützt dann die Zusatzaufsicht?