Montag, 7. Juni 2021

Drei Farben Grün

In unverständlicher Regelmäßigkeit begegne ich in der Stadt, bei der Arbeit Menschen, die mir ansatzlos, ungefragt und völlig selbstverständlich ihre Lebensgeschichte erzählen. Man kann sie nicht wirklich daran hindern oder dazu ermutigen; sie tun es einfach. Es ist herausfordernd, ihnen zu folgen, unmöglich, etwas zu erwidern, sehr einfach, etwas von ihnen mitzunehmen. Denn inmitten konfuser Gedanken lauern immer wieder Geschichten, überraschende, tragische Geschichten, große Anekdoten, die es wert sind, behalten, vielleicht aufgeschrieben zu werden. Was ich hiermit tue. 

Samstagnachmittag, der Sommer lässt auf sich warten, ich stehe im größten Schausaal des Auktionshauses inmitten Alter Meister, starre abwesend auf Öl auf Holz, als mich der deutsche Pensionist von der Seite anspricht; ein obligatorischer Kommentar zur Maskenpflicht, und dann hebt er die Hand zum Bild. Wir stehen vor einer flämischen Landschaft des frühen 17. Jahrhunderts, ein Gemeinschaftswerk, wie so viele ihrer Zeit (die damals schon Geld war) und der Mann erklärt mir, dass er ein Geburtstagsgeschenk suche; diese Landschaft von Joos de Momper, vor der wir stehen, die hat was, die könnte es werden – fabelhaft, sinniert er, auch wenn Momper kein großer Perspektivmaler war, die Figuren im Hintergrund sicher zu groß, doch die Tiefenwirkung, einmalig. Momper, erfahre ich, war derjenige, der die Tiefenmalerei erst populär machte, er war es, der die Dreifarbentechnik zur Meisterschaft erhob (aber nicht erfand).

Joos de Momper, im Shakespeare-Jahr 1564 geboren, war genial genug, um eine Idee zu perfektionieren, die so einfach war, dass sie Jahrhunderte unentdeckt blieb: er unterteilte die Landschaft in drei Teile zu drei Farben, braun der Vordergrund, grün der Mittelteil, blau die Ferne. Der deutsche Gast erklärt mir das, zeigt wieder auf das Bild hinter uns, das mögliche Geschenk, die weite Flusslandschaft mit vornehmen Figuren bei einer Brücke, und wirklich, erst jetzt wird es mir bewusst, sehe, verstehe ich die Anordnung der Dreifarbigkeit, doch es ist nur das Grün, der grelle Hoffnungsschimmer, der mir ins Auge sticht, leuchtend und satt wie die hellgrüne Zauberstadt von Oz, ein wirklich fabelhaftes Bild, denke ich mit der Stimme des Mannes, der weiter neben mir steht und bald noch viel mehr aus seinem Leben, seiner Vergangenheit, seinen politischen Überzeugungen erzählen wird, bevor mich die Kollegin zur Pause ablöst.

Am späteren Nachmittag treffe ich den Mann noch einmal, er dreht immer noch seine Runden, tritt noch einmal vor das Bild, das mit jedem Mal tiefer und grüner erscheint. In seinen Augen ist zu erkennen, wie viel es ihm wert ist. Für wen das Geschenk denn eigentlich sein soll, im Falle des Zuschlages, frage ich. Er lächelt. Für ihn selbst, sagt er, fast heiter. Seit zwölf Jahren kauft er sich seine Geburtstagsgeschenke hier, und immer selbst.

Weil es sonst niemand mehr tut.