Mittwoch, 2. Juni 2021

Rückkehr ins Palais

Nach Monaten der Schließung, stiller, führungsfreier Zeit, kehre ich zurück in das Palais des Fürsten, treffe nach Monaten wieder die alte Mannschaft, die mir ehrlich abgegangen ist. Die erfahrene Kollegin aus der Zentrale kommt mir entgegen, wir stehen in der Sala Terrena, sie grüßt mich herzlich, warm, wie ich es gar nicht kenne von ihr, und wir umarmen einander, es ist, als würde man ein beliebtes, wiederaufgenommenes Theaterstück neu proben, ein erinnerter Erfolg, der lange, sehr lange ausgesetzt hatte.

Die Kollegin freut sich über meine Rückkehr, sie sagt ohne Umschweife, es sei viel passiert, sie hätte mir etwas sehr Persönliches zu erzählen. Sie schaut mir ins Gesicht und macht einen Vorschlag. Wir könnten uns am Samstag treffen und darüber in Ruhe reden, ohne die störenden Ablenkungen im Dienst. Und danach, sagt sie, können wir noch zu ihr gehen und Sex haben. Oder eine Tasse Tee trinken, falls mir das lieber ist. Sie sucht wieder meinen Blick. Ob mir so viel Offenheit Angst mache, fragt sie. Ich bin nicht mehr sicher, aber ich glaube, ich schüttle den Kopf. 

„Ehrlichkeit ohne Anstand ist verletzend“, soll Konfuzius einmal gesagt haben (was hat er nicht gesagt?), und es stimmt schon, es stimmt, wenn das ehrlich Gesagte keine Rücksicht auf Verluste nimmt, dann wird es eine Spur der Verwüstung ziehen, wird vernichten und zerstören; doch die Offenheit tut das nicht; sie ist friedlicher, weniger kriegerisch, sie verletzt nicht, sie ist entwaffnend – und ohne Waffen ist die Chance auf Leben ungleich höher.

Mehr als einmal, denke ich, wäre die Offenheit meiner Kollegin auch im Wachen wünschenswert, nicht nur in entwaffnenden Träumen wie diesen.