Freitag, 16. Juli 2021

Kafkas Schwester

Während draußen die Temperaturen unerbittlich ansteigen, die Pole schmelzen, der Permafrost weiter aufbricht, fliehe ich in den Schatten und lese Anna Kavan. Genauer, ihre singuläre Dystopie, Ice, die Vision einer Welt, einer Gesellschaft, der jede Wärme abgeht, weshalb sich das Eis unaufhaltsam über die Erdkugel ausdehnt. In meisterhafter Konfusion erschafft Kavan (die eigentlich Ferguson hieß, heroinsüchtig, zweimal geschieden war) einen Leserausch, der mich verwirrt, verkatert und ohne Katharsis zurücklässt. Was wundervoll ist; denn die besten Bücher sind mir immer noch die, die ich nicht kapiere. 

Klarheit ist eine Kunst, kontrolliertes Chaos eine Gabe. Was an Ice aber am meisten fasziniert, ist die Perspektive, aus der Kavan erzählt: Ihre frostige Fabel über emotionale Kälte, Machtmissbrauch und weibliche Unterdrückung liest sich (überwiegend) aus Sicht eines männlichen Ichs, dem natürlich nicht zu trauen ist. Dieses Ich sucht eine Frau, die in den Fängen irgendeines ominösen Patriarchen steht, der sie als Besitz, Tier, Sklavin hält – oder auch nicht; denn klar ist nichts in diesem Buch, der Himmel ist nicht blau, das Eis nicht erklärbar und der Erzähler nicht bei Trost. Er will die Namenlose vor ihrem Peiniger retten, bevor die ganze Welt erfriert, doch die Frau (die vielleicht alle Frauen ist) hat nicht darum gebeten, sie will nicht gerettet, sie will nur in Ruhe gelassen werden, und doch verfolgt sie der Erzähler wie ein Wahnsinniger, er kämpft um sie, ohne zu fragen, er will unbedingt ihr Erlöser sein und ist letztlich nicht besser als ihr Unterdrücker (der er vielleicht auch ist).

Sicher hätte Kavan die Geschichte aus Sicht der Frau schreiben können, die einfach nur ein Zimmer für sich will, hätte sie in den Mittelpunkt stellen können, anstatt sie gespensterhaft durch eine neue Eiszeit schwirren zu lassen, hier, da, überall und nirgendwo, rastlos, haltlos, immer in und aus dem Blick des Mannes; sie hat sich dagegen entschieden. Und gerade deshalb scheint mir das Schicksal dieser Namenlosen so bedrückend: weil die Autorin zeigt, wie dieser Erzähler, wie alle Männer in dem Buch sie sehen, wie sie über die Schneedame denken, wie egomanisch und einseitig dieses Denken ist, wie emotional gestört, dass es dem Ich selbst gar nicht auffällt. Nur im Lesen kann es auffallen, dieser maskuline Machtanspruch, die Frau haben zu wollen, die den vermeintlichen Erretter mit dem Erniedriger vereint. Kavan steigert sich in eine völlig vereiste, männliche Psyche, in der Wahn und Pflichtgefühl wie in einem Schneesturm durcheinander wirbeln, nicht mehr zu durchschauen sind, und letztlich nur das Gefühl bleibt, etwas begriffen zu haben, obwohl man nichts kapiert.

Literatur, das heißt doch auch, die eigene Perspektive verlassen zu können: und Anna Kavan erschafft einen literarischen Gletscher, weil sie sich in eine Perspektive hineinwagt, die nicht kuschelig ist, die verstört und wehtut und beim Ausbleiben jeder Wärme doch nicht kalt lässt. Gerade durch den subjektiven Tunnelblick ihres männlichen Erzählpsychos wird deutlich, wie verzweifelt und verzehrend Kavans Kampf ist, ein ewiger, weiblicher Kampf gegen das zweite, eisig kalte Gesicht aller Albtraumtypen.

Kavan wurde gern und oft als Kafkas Schwester bezeichnet, doch sie ist eine aufmüpfige Schwester, eine, die nichts mit dem Bruder gemein haben will – außer den ersten Buchstaben im Kunstnamen und der ewigen Mission, im Traum die Axt zu schleifen, um dem inneren Eismeer etwas entgegenzuhalten. Auch wenn in Ice am Ende alles vielleicht nur Einbildung ist – das Gefühl, das bleibt, ist echt.