Mittwoch, 28. Juli 2021

Über das Beginnen

„Es geht immer ums vollenden“, singt ein junger Musiker, vielleicht der größte meiner Stadt. Ich liebe, bewundere diese Zeile, jedes Mal, wenn sie mir im Kopf erklingt. Doch ich bin nicht überzeugt von ihr.

Muss ein Kunstwerk vollendet sein, um vollkommen zu erscheinen? Muss es überhaupt vollkommen sein? Die letzten Werke von Gustav Klimt, die allesamt hier im Touristenschloss hängen, sind allesamt unvollendet geblieben. Klimt begann sie simultan, bekam das Fieber, bevor sie fertig wurden; es ändert nichts an ihrer Meisterschaft. Im Gegenteil: gerade weil sie nicht fertig sind, erscheinen mir die Gemälde um Adam und Eva, um die elegante Zuckerkandl, um verträumte, verschlungene Nymphenkörper als seine allergrößten. An den Stellen, an denen Farbe fehlt, wo der Grafit, die Vorzeichnung noch schüchtern durchschaut, wo Andeutung statt Ausgemaltes herrscht, da zeigt sich mir nicht nur ein Motiv, ein weiteres Werk – ich sehe nicht nur das Bild, ich sehe die Methode, den gesamten Prozess dahinter. Deshalb erzählt das Unvollendete noch so viel mehr als die Vollendung.

In der Kunst, der Musik, der Literatur, überall finden sich Fragmente, unfertig Gebliebenes (oder Vernichtetes), das nicht trotz, sondern wegen seiner Offenheit die Zeit überdauert. Das Fragment erhält seinen Mehrwert durch das, was fehlt. Gogols Tote Seelen, Kafkas Amerika brauchen kein Ende, um grandios aufzuhören; es genügt, dass es die Bücher gibt, so wie sie sind. Frei nach Tagore: Nicht um das fehlende Ende trauern, sondern froh sein, dass etwas begonnen wurde.

Und hier tritt sie ein, meine ängstliche Wahrheit: Anfänge machen mich fertig. Was immer ich tue, es fällt mir unendlich schwer, einen Einstieg zu finden, es also überhaupt zu tun, zu initiieren: ein Gespräch, ein Buch, ein kurzer Text wie dieser – immer weiß ich nie, wie ich beginnen soll. Die Vollendung einer Sache kann gelingen oder nicht, doch nichts im Leben ist schwerer, als den Anfang zu machen. Beginne sind die massivsten Elemente eines Lebens, das mehr sein will, als nur zu existieren. Denn Leben, wildes, aktives Leben, das ist der ultimative Beginn, jeden Tag, jede Stunde, wieder und wieder.

Das ist die Erkenntnis, die nicht locker lässt; nicht im Ende lauert meine Angst, sondern im Anfang. An manchen Tagen (vielen Tagen) habe ich keine Panik vor dem Tod, nur Panik vor dem Leben. Den Beginn einer Sache, deren Angehen mir Angst macht. Ich wollte die Welt umrunden, könnte ich nur den ersten Schritt überspringen. Stattdessen schreite ich die Ausstellungen dieser Stadt ab, die ich nicht verlasse, schreibe eine Skizze, einen kleinen Versuch, für den mir kein erster Satz einfällt, weshalb er mit einem Zitat anfängt, einer Liedzeile, an die ich nicht glaube, es niemals könnte, weil es auch in diesem Text nicht ums Vollenden gehen kann.

Es geht immer ums Beginnen.