Montag, 11. September 2023

Serpico und die Künste

Es gibt diese wunderbare Szene in Sidney Lumets Serpico, als der von Al Pacino gespielte rechtschaffene Cop und Titelheld mit seiner Partnerin auf eine Hippieparty geht, und sie ihm all ihre kunstbegabten Freundinnen vorstellt, immer nach demselben, ironischen Muster: „Sie ist Dichterin, sie arbeitet in einer Werbeagentur.“ – „Sie ist Schauspielerin, sie arbeitet für einen Fotografen.“ – „Sie ist Schriftstellerin, sie arbeitet für eine Versicherung.“

Es ist eine frühe und kurze Szene, die der Handlung nichts beiträgt, doch sie illustriert mit unbeschwerter Leichtigkeit, was diesen Serpico selbst antreibt, was den gesamten Film ausmacht: das Dilemma zwischen Ideal und Realität. Die Ambition auf der einen Seite, das Geld auf der anderen. Und immer, wenn ich mit meinen Kollegen in der Museumsaufsicht spreche, muss ich an diese kleine und unscheinbare Szene denken – so viele, die neben mir und mit mir so unscheinbar in den Galerien stehen, sie haben so große Ambitionen, Träume, Ideale, sie sind oder waren in der Ausbildung, im Schaffen, auf dem Weg zu dem, der sie sein wollen, und auf einer Party könnte ich sie alle so vorstellen: „Sie ist Sängerin, sie arbeitet im Museum.“ – „Er ist Regisseur, er arbeitet im Museum.“ – „Die beiden sind Fotografen, sie arbeiten im Museum.“

Ich erinnere mich an einen Dienst, vor einiger Zeit, als ich noch regelmäßig im Touristenschloss im Einsatz war; ich saß im Pausenraum an dem langen und hellen Buchentisch, und mir gegenüber eine ältere Kollegin (sie ist studierte Historikerin, hat in ihrem Wunschbereich nie eine Stelle gefunden), und sie erzählt mir plötzlich von einem ehemaligen Mitarbeiter in der Garderobe, der sich jahrelang erfolglos für das Reinhardtseminar beworben hätte; irgendwann war er gebrochen, hat nach dem fünften gescheiterten Versuch die Schauspielschule sein lassen und die gesamte Kunst verworfen – obwohl er daneben schon ein abgeschlossenes Musikstudium in der Tasche hatte. Sie hätte ihm gesagt, die besten Schauspieler wären eh alle von der Schule geflogen, also was soll’s, es geht auch ohne, nur nicht aufgeben.

„Nur nicht aufgeben“, denke ich, das ist er, der eine Satz, die geheime Parole, die nicht vergessen werden darf, die jede Museumsaufsicht mit kunstsinnigen Träumen, jeden Gesetzeshüter mit hehren Idealen durch den Tag bringen muss. Serpico ist vor genau fünfzig Jahren erschienen, und am Ende triumphiert die Figur, der ehrliche Außenseiter, gegen das korrupte System, das er bekämpft; doch er verliert dabei nicht wenig, und er wird niemanden haben, mit dem er den späten Sieg befeiern kann. Die Moral bleibt zwiespältig, wie in allen Werken des großen Lumets, und dennoch scheint es keine Alternative zu dieser Parole, zu dem ewigen Ratschlag der weisen Kollegin und studierten Historikerin zu geben, wenn du den Willen, die Ambition, das unwahrscheinliche Ziel in dir spürst, das du nicht leugnen kannst, auch wenn alles dagegen spricht, auch wenn du fünfmal an der Schauspielschule scheiterst.

„Und stell dir vor“, sagte die Kollegin damals, als unsere Pause sich dem Ende neigte. „Jahre später hab ich ihn im Fernsehen gesehen.“

Montag, 24. Juli 2023

Brief an Modiano

Walter Benjamin hat mal geschrieben, die Übersetzung eines Buches solle wie eine Arkade sein, durch die das Licht des Originals hindurchscheine; das ist ein schönes, ein ganz wunderbares Bild, das mir immer in den Kopf kommt, wenn ich eine gute Übersetzung lese und dabei zu spüren glaube, die Stärken, den Witz, den Rhythmus und das Rätsel des Originals mitzulesen, seinen Stil durchzuhören, ein kraftvolles Echo im Arkadenhof, das lange nachhallt. Umso ärgerlicher seine Antithese: der schrille Ton der schlechten Übersetzung, das aufdringliche, überkonstruierte Gebäude, das den sanften Schein des Originals entstellt oder verdrängt.

Wie in der Schauspielkunst, der Malerei, Musik und Poesie, wie in jeder Disziplin, die nur irgendwie nach Kreativität verlangt, muss es auch im Fach der literarischen Übersetzung verschiedene Herangehensweisen und Techniken geben; die Frage, wie viel Freiheit ich mir gegenüber dem Original einräume, wie weit ich in der Übertragung abweiche, hängt nicht nur von Talent und Vorliebe der Übersetzenden ab, nein, es sind Grundsatzfragen: Versuche ich (muss ich versuchen), so nah wie möglich am Original zu bleiben und den Inhalt Wort für Wort in meine Sprache abzugleichen, oder will (sollte) ich doch eher das Gefühl des Originaltextes in meine Sprache übertragen, und mich dafür – wenn es sein muss – inhaltlich von der Vorlage weiter wegbewegen? Wie ich es auch angehe, was ich sicher nicht tun sollte, was nie und niemandem hilft, ist, das Original in der Übersetzung zu kommentieren; es zu erklären.

Wenn ich die letzten kurzen Romane eines Patrick Modiano lese, verstehe ich auch auf Deutsch sofort, warum er den Literaturnobelpreis verdient – die Unmittelbarkeit, mit der er in seine Geschichten hineinzieht, die Auslassungen, die er setzt, immer bekomme ich das Gefühl, es steckt mehr in diesen leichten Sätzen, diesen Orten, Namen, Erinnerungen, die sich in rätselhafter Nostalgie vermengen. Modiano spielt mit Geheimnissen, mit Doppeldeutigkeiten, doch hier fängt das Problem an: Sein letzter Roman ist hierzulande unter dem Titel Unterwegs nach Chevreuse erschienen, was nicht schlimm wäre, wenn es nicht eine falsche, eine grobe, eine völlig verzerrte Übersetzung darstellte. Denn im französischen Original heißt das Buch schlicht und grandios: Chevreuse.

Die Unterschiede wirken marginal, doch sie sind es nicht, ganz im Gegenteil: Schon auf der allerersten Seite philosophiert der Ich-Erzähler über diesen Titel, Chevreuse, doch er sinniert nicht einfach über den Ort, den der Name beschreibt, sondern über den Begriff selbst, seinen nebulösen Klang, der ihn über die Jahre verfolgt und ihn zurückzerrt, durch die Lücken der Vergangenheit, seine Vergangenheit, sein Mysterium: „Chevreuse“. Der Name steht zugleich für die Gegend und für das Geheimnis, das Wort ist ein Geheimnis, es ist rätselhaft, mehrdeutig, mystisch, wie die Erinnerung selbst, das große, das ewige, das Lebensthema des Autors.

In der deutschen Übersetzung geht dieser Mehrwert flöten; durch das unmotivierte, völlig unnötig hinzugedichtete Element des Unterwegsseins verliert Chevreuse seine Absolutheit, wird reduziert auf eine austauschbare französische Ortschaft. Sicher, es ist legitim, oft notwendig, etwas umzudichten, doch einen Titel auf solche Art zu verfälschen, ihn abzuschwächen, indem angehängt wird, wo nichts war, wo es nichts braucht – warum? Ich kann mir nur eine Antwort darauf geben: Angst. Eine kapitale Furcht der Verleger, ein deutschsprachiges Publikum könne sich unter Chevreuse womöglich nichts vorstellen, weshalb es einen Zusatz braucht, einen Eingriff, künstlerische Freiheit ohne jede Kunst, ein schales, vages Gefühl von Aufbruch und Reise, weil Reisen geht immer, und so erscheint ein ambivalenter, höchst geheimnisvoller Inhalt unter einem mäßigen, beschwingten Werbetitel, in der bangen Hoffnung, dadurch ein paar Bücher mehr zu verkaufen.

Und hier bröckelt Benjamins Bild, denn Unterwegs nach Chevreuse gibt es keine Arkade, kein durchscheinendes Licht, es gibt nur die sture Düsternis eines ängstlichen Marktes, der mir zu viel erklärt und zu wenig zutraut, weil er blind den Gesetzen folgt, die er selbst aufstellt, und vermutlich gar nicht begreift (oder ignoriert), wie viel dadurch verloren geht.   

Das, denke ich, ist das Paradox der Übersetzung: je mehr sie dem Original hinzufügt, umso mehr nimmt sie ihm.

Donnerstag, 13. Juli 2023

Der melancholische David

Seit 500 Tagen wütet jetzt schon der Krieg in der Nachbarschaft, nur zwei Grenzen entfernt, während ich Woche für Woche die barocken Schlachtengemälde eines Peter Paul Rubens bewache (die erst kürzlich wieder aus der Restaurierung zurück sind). Zu Beginn, da wurde die abgewehrte Invasion, die Verteidigung gegen diesen Angriffskrieg pathetisch beschrieben als ein neues, biblisches Duell David gegen Goliath, kleine und große Medien haben den Vergleich aufgenommen, ihn immer wieder stur und willig wiederholt – und nichts könnte falscher sein.

Ein Duell ist eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe, ein angesetzter Zweikampf unter gleichen Voraussetzungen, für den geltende Regeln festgelegt wurden – zu einem Duell trifft man sich, es braucht eine Vereinbarung; Krieg ist das Gegenteil der Vereinbarung. Es ist dumm, es ist gefährlich, von einem Duell zu sprechen, weil es die Voraussetzungen verfälscht, außer Acht lässt, was wirklich passiert ist: ein freies Land wurde überfallen, es wird besetzt und zerstört, ohne Rücksicht auf ein Regelwerk, auf Einverständnisse, auf alles. Dass sich der Überfallene zur Wehr setzt, dass sich die Verhältnisse am Schlachtfeld umkehren, das macht es nur verführerisch (und viel zu einfach), den verkitschten David-Vergleich zu bemühen, die ewige hollywoodsche Sehnsucht nach der unwahrscheinlichen Erfolgsgeschichte, dem romantischen Triumph des Underdogs gegen eine tumbe, überhebliche Übermacht.

Es gibt viele, unzählige Bilder und Statuen des David in der Kunstgeschichte, in der ganzen Welt sind zu verteilt, doch jene Darstellung, die mich am allermeisten bewegt, sie hängt ausgerechnet hier, in meiner Stadt; in einem der schönsten hiesigen Museumshäuser (das ich ausnahmsweise privat durchgehen darf), hier hängt Caravaggios David mit dem Haupt des Goliath; es ist kein spektakuläres Gemälde, in der Größe überschaubar, fast schüchtern, zurückhaltend, auf den ersten Blick, und vielleicht zieht es mich gerade deshalb in seinen Bann. Aus der Schwärze des Hintergrunds löst sich der junge Heroe, hält den abgetrennten Kopf des Feindes hoch und schultert das Schwert, während der Blick ernst, konzentriert, etwas müde zur Seite schaut. Caravaggio zeigt uns diesen David unmittelbar nach seinem Triumph, nachdem er alles erreicht hat – nur warum sieht er dann nicht wie ein Sieger aus?

Caravaggios David präsentiert uns das Haupt des Goliath wie einen Pokal – doch er ist für uns gedacht, nicht für ihn selbst; in Davids Blick scheint keine Genugtuung, keine Euphorie des Geschafften auf, seine Augen suchen nicht die Bühne, das Publikum, sie sehen ins Abseits, von etwas abgelenkt, als wäre er noch jetzt, im Moment des Sieges, in seine Gedanken vertieft. Der nachdenkliche Blick, er befreit ihn von all dem vordergründigen Heldenpathos, denn Helden denken nicht, sie handeln, sie tun die Dinge einfach. Und immer frage ich mich, woran denkt dieser David, jetzt, wo er alles erreicht hat?

Caravaggio lässt ihn dunkel nachsinnen, er macht den Helden zum melancholischen Gewinner. Sein David ist ein Denker, und für einen Denker wird der Sieg nie genug sein – denn schon im Triumph macht er sich Gedanken über die Folgen, über das, was danach kommt, was die Tat mit ihm selber macht; deshalb sehe ich in dem Bild nicht einfach den Sieg, über den alle Welt Bescheid weiß, ich sehe die Ungewissheit, die er mit sich bringt. Ich sehe einen jungen Mann, der entgegen allen Vorzeichen gewonnen hat; der aber auch begreift, was er dafür tun musste. So sehen wahre Sieger aus, die unmenschliches geleistet haben – müde und schwermütig über das Erlebte.

Selbst im Triumph noch einen Hauch von Melancholie in den Augen, das macht mir diesen kleinen David größer und zugleich näher und glaubhafter als jede andere Darstellung des siegreichen Außenseiters. 

Dienstag, 11. Juli 2023

Sonntag, 28. Mai 2023

Die Unmöglichkeit von Händen

Unlängst geisterte ein verstörendes Bild durch die digitalen Netzwerke, es zeigt dichte Rauchschwaden am Areal des Pentagons, das Ergebnis einer vermeintlichen Explosion; sofort und massenhaft (und klarerweise panisch) wurde über einen Angriff spekuliert, ein Anschlag im Herzen Amerikas, an alten Traumata rüttelnd, ehe in seriösen Medien schnell die Entwarnung kam: das Bild ist eine Fälschung. Es gab nie eine Explosion am Areal des Pentagon, der falsche Rauch im Bild stammt aus der Maschine; der größten Nebelmaschine der Jetztzeit. 

Es überrascht nicht, kann nicht überraschen, dass der rasante Aufstieg Künstlicher Intelligenzen zu solchen Bild-Realität-Scheren führt, dass wir uns in Zukunft neue Strategien überlegen müssen, um die Authentizität von medialen Bildern zu prüfen; was jedoch erstaunt, ist die Talentverteilung der digitalen Zwangsarbeiter: zumindest heute, momentan, während ich diese Zeilen verfasse, zeigen sich im Werk der KI-Künstler noch äußerst klare Stärken und Schwächen, die ihre perfekten Lügenbilder enttarnen und den falschen Nebel lichten können, und die Achillesferse der Bildmaschine liegt dabei ausgerechnet im Erstellen einer vermeintlichen Kleinigkeit, der haptischen Urbedingung alles Analogen: den Händen.

Wer sich im Frühjahr 2023 mit Bildern aus der Maschine spielt, wer die Künstliche Intelligenz mit kreativen Forderungen an ihre handwerklichen Grenzen bringt, wird erstaunt, belustigt oder zufrieden erkennen, dass die große Maschine ihre größten Probleme mit dynamischen Prozessen und komplexen Bewegungen hat; kurzum: sie kann keine Hände. Die fiktiven Erzeugnisse, verzerrten Figuren, die mir (noch) kostenfreie Bildwerkstätten im Datennetz innerhalb von Sekunden erstellen, sind Porträtkunst für die Geisterbahn, eine Hochleistungsschau des Horrors, verstörende Chimären und hyperrealistische Missbildungen, als säße ein versklavter Gottfried Helnwein in der Maschine und pinselte unentwegt Veteranen auf den Bildschirm; und immer wieder fallen die unmöglichen Stellungen, Verrenkungen und falschen Anzahlen der digitalen Wurstfinger ins verwirrte Auge. Es ist bezeichnend, dass der naive Künstler, den wir KI nennen, eine täuschend echte Explosion erzeugen kann, noch bevor er gelernt hat, schöne Hände zu malen.

Was diese Beobachtung besonders macht (und ein wenig erschreckend), ist, dass es mir nicht anders geht. Wenn ich nicht gerade Albrecht Dürer bin, so fällt es mir als leidlich begabten Zeichner unfassbar schwer, korrekte Hände zu komponieren. Es ist, als gäbe es im Gehirn irgendwo eine Barriere, eine verbotene Baustelle für die Konstruktion von Handflächen, die nie vollendet wird; die forcierte Vision einer Fingeraufstellung sorgt für Verrenkungen in meinem Kopf, und tausend Stunden Übung kann mich nicht davor bewahren, dass ich beim nächsten Mal wieder den Daumen verkehrt ansetze, die Finger verdrehe, Proportionen verfälsche; sogar die weißen Marmorhände von Michelangelos David erscheinen mir auf Bildern immer eine Spur zu groß, ein winziger, doch sichtbarer Makel in Anbetracht der Perfektion, als bräuchte es noch einen Beweis, dass sie von Mensch geschaffen sind, dem Erfinder des Makels.

Und genau das ist er, denke ich, der Punkt, der mir echte Empathie für die falschen Bilder der großen Nebelmaschine entlockt: nicht ihre Meisterschaft, sondern ihre Makel. Die Tatsache, dass die Künstliche Intelligenz (noch) keine Hände kann, dass sie ausgerechnet (noch) an dem scheitert, woran sich große und kleine Künstler seit Jahrhunderten abplagen, das macht sie mir fast schon: menschlich.

Dienstag, 18. April 2023

Macabéas Erbe

Ich lese Lispector. Nicht ihre neu übersetzten, wilden Erzählungen, sondern ihren letzten und schmalsten Roman, Der große Augenblick (die Autorin gibt noch zwölf weitere Titelvorschläge), ein Text über Armut und Tod, der mit einem großen Ja endet, einem Montaigneschen Ja zum Leben, trotz Armut und Schwindsucht, trotz allem.

Im Buch geht es um ein naives krummes Ding mit kümmerlichen Brüsten und schwacher Lunge, ein mageres Wesen, das niemand gern hat, eher eine Anomalie, als eine Person, geschweige denn ein Individuum; erst nach der Hälfte des Romans erhält Macabéa überhaupt einen Namen, später einen Kaffee, doch viel mehr bekommt sie nicht – sie hat weder Glück in der Liebe, noch im Beruf, und dennoch, erzählt uns der fiktive Autor, da gibt es kein Mitleid und keine Traurigkeit für Macabéa, nein, im Gegenteil, sie spiegelt den verborgenen, inneren Reichtum der Armen, denn Traurigkeit war nur was für Reiche: „Traurigkeit war Luxus.“ Macabéa aber weiß nicht, was Luxus ist. Sie weiß nicht einmal, dass sie eigentlich unglücklich sein müsste. Also ist sie glücklich.

Seit einigen Monaten habe ich einen neuen Kollegen im Museum, der mich an Macabéa erinnert. Er ist nicht mehr der Jüngste, hat schon ein Leben hinter sich, doch er strahlt wie ein Kind, dass noch keine Enttäuschung kennt, er ist überpünktlich, motiviert und hilfsbereit, er trägt sein Lächeln wie eine Dienstwaffe, er jammert nicht (nie), ganz egal, wie lang und monoton und schlechtbezahlt die Dienste auch sein mögen. Er weiß nicht, dass er nach sozialen Standards unglücklich sein müsste, und deshalb ist er die Sonne selbst, er erzeugt das Licht, das ihm nicht beschienen ist, kurzum: er ist ein geborener Romanheld.

Genau wie die arme Macabéa kann er sich keine Traurigkeit leisten; nein, im Gegenteil, er trägt die Rückschläge des Lebens nicht nur, er verlacht sie, er übertönt den Schmerz mit guter Laune, hat eigentlich Architektur studiert, war fünfzehn Jahre ohne Pause in Bauprojekte involviert, hatte Verantwortung für Menschen und Millionen, bis der Körper irgendwann nicht mehr wollte oder konnte und der Arzt ihn vor die Wahl stellte – weniger Arbeit oder früheres Grab, denn der endlose Bau, er hat ihn kaputt gemacht, ihn physisch ausgebrannt, er konnte nicht mehr schlafen, nicht mehr gerade gehen, nicht mal an Autofahren war noch zu denken; bis heute steigt er nicht mehr hinters Steuer.

Doch heute, hier, im schlanken Dienstanzug, da wirkt er ganz in seiner Mitte, und selbst gegen ein Virus ist seine Laune immun: erst vor ein paar Wochen hatte es ihn erwischt (die Pandemie ist aus den Nachrichten, aber nicht aus der Welt), erstaunlich heftig, Fieber, Schwindel, Zahnfleischbluten, und er leidet immer noch an den Folgen, wird sehr schnell müde, sagt er am Ende einer Elfstundenschicht, an Tennisspielen ist gar nicht zu denken. Und dann schmunzelt er wieder.

Er ist glücklich und dankbar, in einem Museum, in einem Palais zu stehen, für zu wenig Geld zu viele Stunden zu machen, nur eines will er nicht mehr: massenhaft berufliche Verantwortung. Wie Clarice Lispectors letzte Heldin will er einfach nur sein, was er gerade ist: grundlos zufrieden. Sogar der Umstand, dass alle Kollegen (auch ich) seinen persischen Vornamen ständig falsch aussprechen, kann ihn nicht aus der Ruhe bringen, im Gegenteil, er wünscht sogar, dass wir die falsche Variante weiterführen, um uns vor Schwierigkeiten zu bewahren.

Es gibt Menschen (nicht wenige), die so ein Maß an Gelassenheit nicht aushalten, es macht sie verrückt, so wie es Macabéas lieblosen Liebhaber völlig irre macht, wenn sie ihm unnützes Wissen aus dem Radio vorträgt, so lange und vergnügt, bis er sie sitzen lässt, natürlich, denn Glück ist überschätzt, und ihre Schöpferin weiß, dass Gerechtigkeit Verrat ist, und deshalb schenkt sie ihrer Heldin am Ende auch den tragisch großen Augenblick, einen filmreifen Abgang aus einer Welt, die sich nicht um sie geschert hat; und trotzdem – trotzdem – entlässt mich der Roman in seinen letzten Zeilen mit einem selten hellen Gefühl, das so unverwüstlich ist, wie das Schmunzeln meines unaussprechlich guten Kollegen:

Nicht vergessen, erst mal ist Edbeerzeit. 
Ja.

Freitag, 31. März 2023

Rand und Reste

Kürzlich kam ich aus dem Kino (ich sah ein strenges Kammerspiel mit Willem Dafoe als kauzigen Kunstdieb, der in einem Luxusapartment ohne Vorräte, aber voller Hochkultur feststeckt, und zwischen Schiele und Fontana den einsamen Robinson geben muss, ein Gemälde von einem Film, doch nicht im ästhetischen Sinn, sondern in der Art und Weise, wie er mich dazu auffordert, etwas darin zu sehen, das Motiv auf mich wirken lassen – oder es besser gleich zu lassen), und weil ich zuvor nichts gegessen hatte und der Film permanent um Hunger kreiste, setze ich mich in die niemals ferne Burgerbude bei der Bahnstation und bestelle mir das nächstgrelle Bild über dem Tresen.

Es ist wenig Platz und nicht viel los; rechts neben mir drei junge, reich geschminkte Frauen, gegenüber, in einer Ecke abseits des Tresens, ein schmaler dunkler Typ in einem blauen Trainingsanzug, der Tisch vor ihm leer. Während ich den anspruchslosen Hunger stille, stehen die Frauen neben mir auf, stellen ihr Tablett mit den Pommesresten in das dafür vorgesehene Metallwägelchen und verlassen den Laden. Nur einen kurzen Moment später erhebt sich der knochige Kerl im Trainingsanzug, und ich beobachte, wie er sich langsam zum Tablettwagen bewegt und prüfend einen Blick in die dunklen Einschübe wirft, bevor er sich mit den zurückgelassenen Essensresten wieder in die Ecke zieht, in der er zuvor gewartet hatte.

Ausgerechnet hier, in einer lieblosen Schnellfressstädte, ist Platz für diese Beobachtung, die in jedem Cafe oder Restaurant der Stadt undenkbar wäre; früher, vor über hundert Jahren, da waren die Kaffeehäuser noch Auffangbecken für die sozial Schwachen, die Randständigen, die Prekären, die den ganzen Tag an einer leeren Mokkatasse nippten, weil es im Kaffeehaus warm war und für alle Platz; heute sind es die austauschbaren Konsumketten mit ihrer wurschtigen Massenmentalität, die das Kaffeehaus als Hort der Unterschicht längst abgelöst haben; heute ist hier der Platz für Hungerleider und Wärmesuchende, für knochige Kerle in zu weiten Trainingsanzügen, die sich ihr Menü selbst bauen, ohne behelligt zu werden, weil sich in den Schnellfressstädten kein Schwein um dich kümmert, und wo du allen egal bist, da wirft dich auch keiner raus, da gibt es keine Kellner, die dich zum Gehen auffordern, keine Gäste, die dich mit Abscheu strafen – hier, bei Billigburger & Co. fressen alle dasselbe und jeder für sich; in gewisser Weise wird ausgerechnet hier die Gleichheit des Menschen besonders deutlich: Niemand isst hier besser als der andere. Bloß konsumieren manche mehr, während für andere nur der kalte Rest bleibt. Aber immerhin dieser.