Dienstag, 20. September 2016

Brief an Camus

Ich beneide Sisyphos. Nicht nur, weil ihm eine Aufgabe zugewiesen wurde, die ihn von der zermürbenden Freiheit befreit hat, sich ein Ziel suchen zu müssen, sondern vor allem, weil er diese Aufgabe jeden Tag aufs Neue ausüben darf. Da er den Gipfel nie erreicht, beginnt die Aufgabe immer wieder im Tal, tagein, tagaus. Der Träger des Steins verfolgt sein Ziel jeden Tag erneut mit dem abenteuerlichen Elan, der nur im Anfang steckt. Sisyphos nützt diese Anfangseuphorie, er schiebt nicht auf, weil er nicht aufschieben kann, er lässt den Elan weder verpuffen noch einbremsen, weil ihn plötzliche Zweifel und Ablenkungen aus dem Tritt bringen. Er muss nicht suchen, nicht warten, nicht zögern. Er muss keine Bewerbungen schreiben und keine Versicherungen abschließen. Er muss einfach nur Tun. Er ist der notgedrungene Philosoph, der jeden Tag lebt, als wäre es sein erster.

Ich sitze an meinem Schreibtisch und verzweifle über dem Wordpapier, dem digitalen Blatt, das nicht und nicht gefüllt werden will, weil ich so lange und verkrampft über dem ersten Satz brüte, bis ich die Schale des Gedankens zerbreche und sein flüssiges Inneres mir entschwindet. Ich warte und warte und warte auf den ersten Satz, der heute brillant aufsteigen muss, nur um morgen schon wieder auf die schlechte Seite zu fallen. Anstatt einfach den Stein hinauf zu rollen, ohne seine Form und sein Ziel zu bewerten und zu zerdenken. Einfach nur rollen.

Ich bewundere Sisyphos und ich bewundere seine Arbeit. Sie ist so wunderbar ehrlich und persönlich, wie alles Sinnlose. Und doch betreibt er seine Aufgabe mit einer Ernsthaftigkeit, als wäre sie unendlich wichtig, wozu sonst nur Kinder und Narren imstande sind. Er rollt den Stein, als hänge die Welt davon ab; und in gewisser Weise tut sie das auch.

Das Allerschönste an der Aufgabe ist, dass er seinen Stein auf den Berg rollen darf. Es ist nicht irgendein Stein, den Sisyphos tagein, tagaus zum Gipfel bringt. Es ist immer derselbe Stein. Sisyphos wurde dieser eine Stein zuteil, der nur ihm gehört, der sein wahrer, inniger und ewiger Lebensgefährte ist, der nur von ihm berührt, gewendet, gehegt, beschimpft, gehasst und geliebt wird. Er kennt alle Stellen an diesem Stein, kennt seine guten und schlechten Seiten, seine Risse, Dellen, Flecken und Moose, jedes noch so winzige, besondere Kennzeichen. Würde ihm der Stein abhanden kommen, er könnte jederzeit ein perfektes Vermisstenprofil erstellen. Bei jeder TV-Show könnte er den Stein blind ertasten und unter tausenden wiederfinden. Er könnte sogar beschreiben, wie der Stein riecht.

Tagein, tagaus mit demselben Stein zu verkehren, ihm jeden Tag zu begegnen, als sähe man ihn zum ersten Mal – ist eine persönlichere, liebevollere Beziehung denkbar? Ich starre in all diese unpersönlichen Bits und Bytes, Nullen und Einsen, zweifelnd, suchend, wartend und überfordert von den immensen Möglichkeiten der einsamen Auswahl, die jeder Tag mit sich bringt. Und alles, wovon ich träume, ist eine Aufgabe, die sich selbst genügte, eine innige, persönliche Beziehung zu meinem Lebenswerkzeug, das mir jeden Tag die Route vorgibt und sich von mir vertrauensvoll leiten lässt, als kannten wir einander seit ewigen Zeiten. Der Traum, einfach nur rollen.

Einmal nur mit Sisyphos tauschen zu dürfen, wer wünschte sich das nicht?