Montag, 24. Oktober 2016

Lektüre und Strafe

Ich habe Schuld und Sühne in meinem Bücherregal stehen. Ich habe es noch nicht gelesen, weil ich sehe, wie dick es ist. Ich glaube, es würde mir gefallen, und mehr noch, es würde mir gut tun, würde meine Weltsicht (und somit mein Dasein) erweitern und auffächern, mich zu einem besseren Menschen machen. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, jede Nacht, wenn ich nicht schlafen kann, ist das Buch da und wartet darauf, von mir berührt zu werden. Seit Jahren habe ich es nicht mehr angefasst.

Die Wahrheit ist, ich getraue mich nicht, es zu lesen.

Die Größe des Werkes macht mir Angst, erzeugt einen innerlichen Respekt vor der Lektüre, der in Hemmung und Vorsicht umschlägt, eine Vorsicht vor der Aufgabe, der ich mich nicht gewachsen fühle. Ich sage mir, ich muss den richtigen Zeitpunkt wählen, muss die richtige Ruhe finden, um die Aufgabe zu beginnen, denn ohne Vorbereitung ist es unmöglich, sich auf ein solch überlebensgroßes Werk von vollendeter Meisterschaft zu stürzen. So zumindest stellt sich mir das Buch jedes Mal vor, wenn ich, mit sicherem Abstand, seinen Rücken im Regal betrachte.

Der richtige Zeitpunkt ist noch nicht gekommen. Die richtige Ruhe hat sich noch nicht eingestellt.

Ich schreibe „noch nicht“ und spüre bereits seine Nähe zum „nie“, weil sich an meinem Verhältnis zur Lektüre nichts ändert, weil der Roman nicht kleiner wird. Wenn das Buch nur aus einer einzigen Seite bestehen würde, wenn es ein magisches, analoges E-Book wäre, deren Seiteninhalt sich selbst erneuerte und ich nicht wissen könnte, wie viele Seiten noch kämen – dann änderte sich alles. Dann wollte ich das Buch einfach beginnen, einfach lesen, ohne zu wissen, wie viel Zeit ich noch zu investieren, wie viel Seiten ich noch zu absolvieren hätte. Wenn die Angst doch nur kein unerbittliches Gedächtnis hätte.

Und so ist es bei mir mit jeder großen Aufgabe: Sie will gar nicht erst begonnen werden, weil mich der Gedanke an ihre Bewältigung bereits überfordert. Die Angst vor der Größe übersieht sogar ihre Zusammensetzung: Ich kann dreißig schmale Erzählbände lesen, aber ich ziere mich, diesen einen Roman zu beginnen. Ich kann sieben Mal für den nächsten Tag einkaufen, aber nicht ein Mal für die ganze Woche. Ich sehe die Summe, aber nicht die Teile. Die Rechnung, aber nicht die Ersparnis.

Ich könnte mich einfach von dem Buch trennen. Es verschenken und mich von dem Gedanken befreien, es lesen zu müssen – denn das ist der dominante Gedanke: weniger es noch nicht gelesen zu haben, als es noch lesen zu müssen. Als wäre es eine verdammte Pflicht, eine Strafe, mir im Lesen etwas Gutes zu tun.

Nein, es ginge nicht. Ich könnte das Buch verschenken, aber ich kann mich nicht von ihm trennen. Es ruft mich bereits seit Jahren, verlangt nach mir, in jeder Buchhandlung, die ich durchstöbere, in jedem Film, der es zitiert, jedem Artikel, der es verknüpft. Und hier, in meinem Regal, ist es mein unberührter Begleiter, der immer für mich da ist, der noch nicht, der vielleicht morgen, der vielleicht nie von mir angefasst und ausgelesen wird.

Und allein durch seine Präsenz verschmilzt meine Angst vor der Lektüre mit Dostojewskijs Werk zu einer unerklärlichen Kraft, einer absurden Konstante, die mein Leben durchzieht und zusammenfasst und ich wieder einmal vor meinen Gefühlen stehe wie ein naiver, grenzenloser Idiot – den ich auch noch lesen muss.