Ich habe Schuld und
Sühne in meinem Bücherregal stehen. Ich habe es noch nicht gelesen, weil
ich sehe, wie dick es ist. Ich glaube, es würde mir gefallen, und mehr noch, es
würde mir gut tun, würde meine
Weltsicht (und somit mein Dasein) erweitern und auffächern, mich zu einem besseren Menschen machen. Jeden Morgen, wenn
ich aufwache, jede Nacht, wenn ich nicht schlafen kann, ist das Buch da und
wartet darauf, von mir berührt zu werden. Seit Jahren habe ich es nicht mehr
angefasst.
Die Wahrheit ist, ich getraue mich nicht, es zu lesen.
Die Größe des Werkes macht mir Angst, erzeugt einen
innerlichen Respekt vor der Lektüre, der in Hemmung und Vorsicht umschlägt, eine
Vorsicht vor der Aufgabe, der ich mich nicht gewachsen fühle. Ich sage mir, ich
muss den richtigen Zeitpunkt wählen, muss die richtige Ruhe finden, um die
Aufgabe zu beginnen, denn ohne Vorbereitung ist es unmöglich, sich auf ein solch
überlebensgroßes Werk von vollendeter Meisterschaft zu stürzen. So zumindest
stellt sich mir das Buch jedes Mal vor, wenn ich, mit sicherem Abstand, seinen
Rücken im Regal betrachte.
Der richtige Zeitpunkt ist noch nicht gekommen. Die richtige
Ruhe hat sich noch nicht eingestellt.
Ich schreibe „noch nicht“ und spüre bereits seine Nähe zum
„nie“, weil sich an meinem Verhältnis zur Lektüre nichts ändert, weil der Roman
nicht kleiner wird. Wenn das Buch nur aus einer einzigen Seite bestehen würde,
wenn es ein magisches, analoges E-Book wäre, deren Seiteninhalt sich selbst
erneuerte und ich nicht wissen könnte, wie viele Seiten noch kämen – dann änderte
sich alles. Dann wollte ich das Buch einfach beginnen, einfach lesen, ohne zu
wissen, wie viel Zeit ich noch zu investieren, wie viel Seiten ich noch zu
absolvieren hätte. Wenn die Angst doch nur kein unerbittliches Gedächtnis
hätte.
Und so ist es bei mir mit jeder großen Aufgabe: Sie will gar
nicht erst begonnen werden, weil mich der Gedanke an ihre Bewältigung bereits
überfordert. Die Angst vor der Größe übersieht sogar ihre Zusammensetzung: Ich
kann dreißig schmale Erzählbände lesen, aber ich ziere mich, diesen einen Roman
zu beginnen. Ich kann sieben Mal für den nächsten Tag einkaufen, aber nicht ein
Mal für die ganze Woche. Ich sehe die Summe, aber nicht die Teile. Die
Rechnung, aber nicht die Ersparnis.
Ich könnte mich einfach von dem Buch trennen. Es verschenken
und mich von dem Gedanken befreien, es lesen zu müssen – denn das ist der
dominante Gedanke: weniger es noch nicht
gelesen zu haben, als es noch lesen
zu müssen. Als wäre es eine verdammte Pflicht, eine Strafe, mir im Lesen etwas Gutes
zu tun.
Nein, es ginge nicht. Ich könnte das Buch verschenken, aber
ich kann mich nicht von ihm trennen. Es ruft mich bereits seit Jahren, verlangt nach mir, in jeder
Buchhandlung, die ich durchstöbere, in jedem Film, der es zitiert, jedem
Artikel, der es verknüpft. Und hier, in meinem Regal, ist es mein unberührter
Begleiter, der immer für mich da ist, der noch nicht, der vielleicht morgen,
der vielleicht nie von mir angefasst und ausgelesen wird.