Samstag, 8. Oktober 2016

Amazonen und Faune

Meine Arbeitsdienste führen mich immer wieder in die Ausstellungsräume großflächiger Museen, in denen ich die Sicherheit der Exponate gewährleisten soll. Objektschutz heißt das in der Firmensprache. In der Realität heißt das schlechte Bezahlung und lange Dienstzeiten. Ich stehe mir die Füße wund, beobachte die seltsam lustlose Grundhaltung von Touristengruppen und muss versuchen zu erkennen, welches Smartphone auf Fotomodus gestellt ist. „No photo, please“, sage ich mechanisch und mit einem überraschten Nicken wird das Handy weggesteckt, nachdem der Zeigefinger den Bildauslöser berührt hat.

Seit Wochen bin ich führender Experte in der Ausstellungswelt des Malerfürsten Franz von Stuck, dessen ironische Fabelwesen ich längst nicht mehr sehen kann. Hundert ölbefleckte Natur- und Mythosbilder, und ein einziger Schiele zeigt ihnen die Grenzen auf.

Nicht immer habe ich so gedacht. Am Anfang hatte er auch mich gepackt, der spektakuläre, bunte Überwältigungseffekt des Malerfürsten, der mit jedem Blick schrumpfte und schließlich und endlich verschwand und nichts hinterließ als ernüchterte, enttäuschte Leere. Vielleicht ist das der Preis der Ironie, mit denen er seine Bilder durchzieht, deren attraktive Verpackung die gehaltlose Idee zu übertünchen versucht. Kunst, die nur für den schnellen Blick gemacht worden ist, für das erste Staunen ob der fantastischen Nixen, Götter, Amazonen und Faune in den majestätischen, unikalen Goldrahmen; Antike und Sünde, Kitsch und Prunk. Einem wochenlangen Blick hält ein solches, verschmitzt hingepinseltes Werk nicht stand. Je länger ich in der Ausstellung arbeite, desto grober, unbedachter und leerer erscheint mir eine Vielzahl der Gemälde. Ein wahlloser Schiele dagegen wird sich niemals leer betrachten. Und vielleicht zeigt sich wahre Kunst tatsächlich erst in seiner Langzeitbetrachtung.

Inmitten eines Ausstellungsraumes thront ein breiter Sessel auf einem sanften Podest, ein von den Jahrzehnten gezeichneter, wie mit rotem Moos überzogener Fauteuil, der eins im Atelier der Villa von Stuck ruhte. Ein kunstvolles Einzelstück von roher Kostbarkeit, ein unantastbares Mobiliar ohne Zweck. Heute bin ich im hinteren Museumsabschnitt eingeteilt, drehe meine Kontrollrunden im letzten Raum und blicke hier und da in den Bereich der erfahrenen Kollegin, blicke direkt auf den bemoosten, feuerroten Armsessel, nicke der Kollegin zu und dann wieder kehrt und eine weitere Runde. Wieder einmal sind die Gedanken ganz weit weg und ich ärgere mich, im Dienst nichts niederschreiben zu können, da stehe ich plötzlich wieder an der Grenze meines Bereichs, hebe den Kopf und starre in das Grinsen einer jungen Dame, die seelenruhig auf dem roten Fauteuil sitzt. Es dauert eine Sekunde, bis ich begreife, was ich sehe. Noch eine Sekunde, bis ich sie mit überraschender Strenge auffordere, vom Ausstellungsobjekt zu verschwinden. Noch länger, bis ich begreife, die grinsende Dame gehört einer auffälligen Personengruppe an, zu der sie auf Zehenspitzen zurücktrippelt und aufschließt. Ich verbleibe mit meinem Blick bei der Gruppe, die Arbeit schlägt in Neugier um, nach einiger Zeit kommt die überforderte Kollegin zu mir herüber und rechtfertigt ihre Nichtreaktion beim Fauteuilüberfall. „Ja, das ist schwierig“, sagt sie. „Die sind nämlich behindert. Da weiß man nicht, wie man reagieren soll.“

Fast wird mir schwindlig, bei so viel Menschlichkeit inmitten von fabelhafter Leere.