Wenn es einen Schriftsteller gab, der die widersprüchlichen Wirren der Netzkultur
und ihres labyrinthischen Spielplatzes schon am Papier vorwegnahm, dann war es der Argentinier Jorge Louis Borges. Das Internet (das andere auch
das Universum nennen) ist im Grunde nichts weiter als ein praktisches Update seiner
babylonischen Bibliothek, die alle Bücher in sich vereint und jeden Text
enthält, der je geschrieben wurde und je geschrieben wird.
Borges’ Gedankenspiele der Unendlichkeit, der anfangslosen
Traumsphären und gebrochenen Spiegelwelten, sie finden ihre Praxis im
geschäftigen Treiben des globalen Hyperspace, der weder Anfang noch Ende, weder
Zentrum noch Randzone kennt. Jeder und jede darf den digitalen Spielplatz
betreten, ihn benützen und seine Parolen hinterlassen – jeder Gedanke, der
vorstellbar ist, kann seinen Weg ins Netz finden.
Das Erstaunliche daran ist, dass mir die Netzinhalte dennoch
auf so tragische Weise limitiert erscheinen. Im Lesen stolpere ich immer wieder über die ewig
gleichen Textmuster, die dem Labyrinth seinen ewig gleichen Anstrich verpassen
und die Unendlichkeit mit Austauschbarkeit überziehen. Vielleicht haben wir, die User, noch nicht gelernt, besser und individueller mit dem Internet umzugehen.
Vielleicht sind wir einfach nicht dazu fähig.
Borges hatte recht, als er meinte, die eigentliche Freiheit
liege nicht im Schreiben, sondern im Lesen – denn lesen kann ich, was immer ich
möchte, aber schreiben kann ich nur, wozu ich fähig bin. Ich schreibe, weil ich
nicht anders kann, in der Abhängigkeit meines endlichen Wissens, meiner
beschränkten Weltsicht und unbewussten Vorurteile, die jedes Resultat im
persönlichen, kleingeistigen Zaun halten. Zu lesen aber bedeutet, aus dem
Repertoire aller beschränkten Schreibenden
schöpfen zu können und mir auszusuchen, was ich mir davon aneignen möchte. Sieg
oder Niederlage liegt allein in der Auswahl; sie zu treffen belastet oft
schwerer als jede körperliche Mühe. Es ist seltsam, seltsam und mühselig, heraus
zu finden, was mich ohne Vorbehalte interessiert und zum Auslesen zwingt. Jede
Wahl ist eine Suche und jede Entdeckung eine Leistung. Inmitten der
grenzenlosen Bibliothek, der immergleichen Parolen in Print oder PDF, Buch oder Blog, einen Text zu finden, ihn zu
lesen, zu begreifen und – über allem – zu genießen, das ist, in der Tat, ein unendlich
gewichtiger Erfolg. Einer, der ganz
allein mir gehört.
Ich habe einen Buch- oder Hypertext gelesen, der mich für
zwei Sekunden erfüllt: Ich habe es geschafft, einen Text unter allen Texten zu
finden, ich habe im genussvollen Lesen etwas geleistet, weil ich ganz allein auf diesen Text gestoßen bin und mir das Gefühl
nach der Lektüre selbständig erarbeitet habe, dieses genussreiche Gefühl der
Klarheit, für einen kurzen Moment außerhalb des Labyrinths zu stehen. Das ist Arbeit,
und vielleicht eine der schwersten: bedingungslos zu genießen. Jedes gute Gefühl
ist eine Leistung, die nur selten zu erbringen ist.