Samstag, 5. November 2016

Borges hatte recht

Wenn es einen Schriftsteller gab, der die widersprüchlichen Wirren der Netzkultur und ihres labyrinthischen Spielplatzes schon am Papier vorwegnahm, dann war es der Argentinier Jorge Louis Borges. Das Internet (das andere auch das Universum nennen) ist im Grunde nichts weiter als ein praktisches Update seiner babylonischen Bibliothek, die alle Bücher in sich vereint und jeden Text enthält, der je geschrieben wurde und je geschrieben wird.

Borges’ Gedankenspiele der Unendlichkeit, der anfangslosen Traumsphären und gebrochenen Spiegelwelten, sie finden ihre Praxis im geschäftigen Treiben des globalen Hyperspace, der weder Anfang noch Ende, weder Zentrum noch Randzone kennt. Jeder und jede darf den digitalen Spielplatz betreten, ihn benützen und seine Parolen hinterlassen – jeder Gedanke, der vorstellbar ist, kann seinen Weg ins Netz finden.

Das Erstaunliche daran ist, dass mir die Netzinhalte dennoch auf so tragische Weise limitiert erscheinen. Im Lesen stolpere ich immer wieder über die ewig gleichen Textmuster, die dem Labyrinth seinen ewig gleichen Anstrich verpassen und die Unendlichkeit mit Austauschbarkeit überziehen. Vielleicht haben wir, die User, noch nicht gelernt, besser und individueller mit dem Internet umzugehen. Vielleicht sind wir einfach nicht dazu fähig.

Borges hatte recht, als er meinte, die eigentliche Freiheit liege nicht im Schreiben, sondern im Lesen – denn lesen kann ich, was immer ich möchte, aber schreiben kann ich nur, wozu ich fähig bin. Ich schreibe, weil ich nicht anders kann, in der Abhängigkeit meines endlichen Wissens, meiner beschränkten Weltsicht und unbewussten Vorurteile, die jedes Resultat im persönlichen, kleingeistigen Zaun halten. Zu lesen aber bedeutet, aus dem Repertoire aller beschränkten Schreibenden schöpfen zu können und mir auszusuchen, was ich mir davon aneignen möchte. Sieg oder Niederlage liegt allein in der Auswahl; sie zu treffen belastet oft schwerer als jede körperliche Mühe. Es ist seltsam, seltsam und mühselig, heraus zu finden, was mich ohne Vorbehalte interessiert und zum Auslesen zwingt. Jede Wahl ist eine Suche und jede Entdeckung eine Leistung. Inmitten der grenzenlosen Bibliothek, der immergleichen Parolen in Print oder PDF, Buch oder Blog, einen Text zu finden, ihn zu lesen, zu begreifen und – über allem – zu genießen, das ist, in der Tat, ein unendlich gewichtiger Erfolg. Einer, der ganz allein mir gehört.

Ich habe einen Buch- oder Hypertext gelesen, der mich für zwei Sekunden erfüllt: Ich habe es geschafft, einen Text unter allen Texten zu finden, ich habe im genussvollen Lesen etwas geleistet, weil ich ganz allein auf diesen Text gestoßen bin und mir das Gefühl nach der Lektüre selbständig erarbeitet habe, dieses genussreiche Gefühl der Klarheit, für einen kurzen Moment außerhalb des Labyrinths zu stehen. Das ist Arbeit, und vielleicht eine der schwersten: bedingungslos zu genießen. Jedes gute Gefühl ist eine Leistung, die nur selten zu erbringen ist.

Ich stelle mir vor, der schüchterne, geniale Argentinier hätte ähnlich gedacht. Borges hielt das Genießen für noch wichtiger als das Schreiben – und auch hierin hatte er recht.